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Erzbischof Gänswein: Pontifikat Benedikts war am Anfang und am Ende „die Wahl Gottes“

Erzbischof Georg Gänswein

Nach dem Interview-Buch von Erzbischof Georg Gänswein mit Saverio Gaeta, das der Verlag Mondadori unmittelbar nach dem Tod von Papst Benedikt XVI. aggressiv zu vermarkten begann, ist nun in Italien von Orazio La Rocca im Verlag San Paolo Edizioni ein neues Buch zu dem verstorbenen Pontifex erschienen. Es hat den Titel „Ratzinger. La Scelta. ‚Non sono scappato‘ – I dieci anni di Benedetto XVI da Papa emerito“ (auf Deutsch: „Ratzinger. Die Entscheidung. ‚Ich bin nicht geflohen‘ – Die zehn Jahre Benedikt XVI. als emeritierter Papst“). Gänswein hat dem Autor dazu im letzten September 2022 ein Vorwort geschrieben, das wir hier in eigener Übersetzung exklusiv veröffentlichen. Das Wort vom letzten Herbst ist die erste öffentliche Verlautbarung des ehemaligen Privatsekretärs von Papst Benedikt nach dessen Begräbnis neben dem Grab des Apostels Petrus im Petersdom am 5. Januar 2023.

Annäherung an ein Geheimnis

von Georg Gänswein

Gestatten Sie mir aus Anlass der Vorstellung dieses Buches von Orazio la Rocca einen kurzen autobiografischen Exkurs. Das wichtigste Datum meines Lebens ist der 12. August 1956, als ich 13 Tage nach meiner Geburt in unserer Pfarrkirche St. Leodegar in Riedern am Wald im Erzbistum Freiburg durch das Sakrament der Taufe Christ und Mitglied der römisch-katholischen Weltkirche wurde. Ähnlich bedeutend wurde deshalb später der 31. Mai 1984, als ich durch Erzbischof Oskar Saier die Priesterweihe erhielt. Beide Tage waren prägend. Es sind die sakramentalen Eckdaten meiner Existenz.

Nach außen hin spektakulärer hingegen war der 19. April 2005, als mich Papst Benedikt XVI. nur wenige Minuten nach seiner Wahl und noch in der sixtinischen Kapelle als seinen persönlichen Privatsekretär bestätigte, also in dem Amt, das ich schon seit 2003 für Kardinal Ratzinger innegehabt hatte.

Danach aber ist der 11. Februar 2013 zu nennen. Das war der Tag, an dessen Abend ein Blitz in die Kuppel des Petersdoms einschlug, nachdem mein Dienstherr am Morgen als erster Papst nach über 800 Jahren ganz und gar überraschend von seinem Amt zurückgetreten war. Doch hier muss ich unterscheiden. Denn ich war davon ja nicht überrascht, sondern mich hatte der Papst schon zuvor unter dem Siegel der absoluten Geheimhaltung über sein Vorhaben unterrichtet und schwer schockiert. Doch er habe die unerschütterliche Entscheidung im Gebet gefasst, erklärte er mir im persönlichen Gespräch und begründete sie am 11. Februar 2013 vor den Kardinälen in der Sala Clementina auf Lateinisch in wenigen Zeilen mit den historischen Worten: „Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben … Um aber das Schifflein Petri zu steuern und das Evangelium zu verkünden, ist sowohl die Kraft des Körpers als auch die Kraft des Geistes notwendig – eine Kraft, die in den vergangenen Monaten in mir derart abgenommen hat, dass ich mein Unvermögen erkennen muss, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen.“

Deshalb wolle er „ab dem 28. Februar 2013 um 20 Uhr“ auf das Amt des Bischofs von Rom und Nachfolgers Petri verzichten. Die Entscheidung war so ernst, dass ich damals persönlich von einer Lebenserwartung Benedikt XVI. von vielleicht noch einem zusätzlichen Jahr als letzter verbleibender Zeitspanne ausging. Als wir den Apostolischen Palast am 28. Februar 2013 gemeinsam verließen, wurde deshalb die ganze Welt Zeuge, wie ich meiner Tränen nicht mehr Herr werden konnte.

Doch inzwischen weiß alle Welt, dass nun schon neun Jahre vergangen sind und dass seine Amtszeit als Pontifex maximus täglich mehr von der Zeit überdauert wird, die er als „Papa emerito“ im Ruhestand verbracht hat. So wundert nicht, dass der emeritierte Papst nach dem Jahrtausendschritt seines Rücktritts nach genau „7 Jahren, 10 Monaten und 9 Tagen im Amt“ viel und oft kritisiert und auch scharf angegriffen wurde, als sei er ein zweiter Coelestin V. und hätte auch „aus Feigheit die große Verweigerung ausgesprochen“, wie Dante Alighieri in seinem bitteren Kommentar zur Entsagung dieses Papstes am 13. Dezember 1294 schrieb. Andere – die zu einem großen Lager innerhalb der Kirche gehören – haben Benedikt XVI. gerade wegen seines Verzichts zum Helden gemacht.

Ich muss nicht sagen, dass ich zu keinem dieser beiden Lager gehöre. Der Schritt blieb jedenfalls unerhört. Nur einmal wurde er, wie ich mich erinnere, mit Kaiser Karl V. verglichen, dem großen Habsburger am Beginn der Neuzeit, in dessen Weltreich „die Sonne nicht unterging“, der 1555 als Kaiser abdankte. Doch Kaiser gab es auf dieser Erde schon viele: in Rom, Byzanz, Moskau, Wien, in China, Mexiko, Japan, und für kurze Zeit sogar in Paris.

Das Papstamt hingegen gab es bisher als Idee und in der Praxis immer nur in der Einzahl!

Die Versuche immer neuer Erklärungen seines Rücktritts sind deshalb im Lauf der Jahre nicht weiter verwunderlich, von denen die hier vorliegende Arbeit von Orazio la Rocca nach der umfangreichen Biografie Peter Seewalds die zuletzt vielleicht ambitionierteste und bemerkenswerteste ist. Und sicher wird sie nicht die letzte sein, die um das Geheimnis dieses Mannes kreist, der auf so auffällige Weise Kirchengeschichte geschrieben hat.

Orazio la Rocca ist Joseph Ratzinger das letzte Mal persönlich am Morgen vor dem Konklave im April 2005 begegnet, als der Kardinal – noch ganz in Schwarz und „mit einer Baskenmütze auf dem Kopf wie Che Guevara“ auf dem Weg – unterwegs von seiner Wohnung zur St. Anna-Pforte war und um das Gebet des Autors bat. Da geht es mir natürlich ganz anders, der ich nun schon so viele Jahre lang Tag für Tag mit dem „Papa emerito“ den Tisch, den Altar, das Leben und das gemeinsame Gebet teile. Dennoch ist es auch für mich faszinierend, in diesem Buch für Liebhaber aus der Hand eines passionierten Liebhabers zu lesen und zu blättern, in dem sich der italienische Beobachter dem Papst aus Deutschland aus immer neuen Winkeln zu nähern versucht, um dessen unbegreifliche „Entscheidung“ zu ergründen, wie er das Buch in seinem Titel nennt. Wie hätte ich es anders als neugierig und höchst aufmerksam lesen können?

Es ist ein minutiös recherchiertes Buch für alle, die noch genauer wissen wollen, wie es war vor dem 11. Februar 2013, und wie es zu dieser unerklärlichen Schocksekunde kam. Warum es dazu kam, kann aber natürlich auch diese Recherche auf ihren vielen Seiten nicht wirklich beantworten. Ich weiß, was Vater Benedikt dazu gesagt hat, aber weiß die Antwort in der Tiefe selber nicht. Klar scheint mir nach diesem Buch nur noch einmal mehr, dass das Pontifikat Benedikt XVI. an seinem Anfang und an seinem Ende die Wahl Gottes war, in die er sich zweimal gehorsam gefügt hat. Das Geheimnis bleibt.

Erzbischof Georg Gänswein, Präfekt des Päpstlichen Hauses, Privatsekretär des emeritierten Papstes Benedikt XVI., Vatikanstadt, 20. September 2022

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