04 Mai, 2024 / 9:00 AM
Wer in den Vatikanischen Museen von den weltberühmten Fresken in den Stanzen des Raffael der Sixtinischen Kapelle entgegeneilt, wird die Räume dazwischen mit den modernen Kunstwerken eher beiläufig zur Kenntnis nehmen. Der eine oder die andere wird jedoch erstaunt stehenbleiben, wenn er oder sie im Herzen der katholischen Welt plötzlich vor einem Gemälde von Francis Bacon oder Otto Dix steht.
Dass die katholische Religion eine der Künste ist, ist allgemein bekannt. Die Kunstgeschichte des Abendlandes ist nicht nachvollziehbar, ohne katholisches Denken und Fühlen zu verstehen. Die mittelalterlichen Buchmalereien, die gotischen Kathedralen, die Skulpturen und Gemälde aus der Renaissance- und Barockzeit sprechen alle vom katholischen Leben, das um die Menschwerdung Gottes und das Geschick seiner Kirche auf Erden kreist. Doch diese enge Bindung der Kirche und der Künste scheint in der Moderne verlorengegangen zu sein. Kaum jemand assoziiert katholische Kunst mit moderner oder zeitgenössischer Kunst. Ein weit verbreitetes Vorurteil sieht die katholische Kirche in steter Spannung zu jeglicher Kultur, die kein simples Nachbeten ihrer Dogmen ist. Und dennoch ist eines der prominentesten der ungefähr 9000 Kunstwerke der modernen Sammlung des Vatikans ein Gemälde (Crocifissione von 1928) des Futuristen Gerardo Dottori.
Kaum eine Kunstströmung steht in größerer Spannung zur katholischen Weltsicht als der gewalt-, geschwindigkeits- und fortschrittsverherrlichende, betont aggressive Futurismus. Und dennoch ist dieses Werk, eingebettet zwischen den Giganten Raffael und Michelangelo, im Vatikan anzutreffen.
Ein Papst der Künste: Paul VI.
Die Entstehung dieser Sammlung hängt eng mit Papst Paul VI. zusammen, einem leidenschaftlichen Förderer der Künste. 1964, zum Abschluss des 2. Vatikanischen Konzils, adressierte er persönlich die Kunstschaffenden seiner Zeit, in der Hoffnung, die einst enge Bindung zwischen der Kirche und den Künsten wieder zu stärken. Er sprach damals zu Kunstschaffenden aller Disziplinen: „Seid Ihr Freunde genuiner Kunst, so seid Ihr unsere Freunde!“ und würdigte den Dienst, den die Künste zu jeder Zeit für Wahrheit und Schönheit geleistet haben.
Damit startete Paul VI., der 2018 von Papst Franziskus heiliggesprochen wurde, eine Tradition, die von den folgenden Päpsten weitergeführt wurde. Johannes Paul II., der selbst in seiner Jugend Schauspieler und Theaterdichter war, Benedikt XVI. und Franziskus adressierten ihrerseits die Kunstschaffenden, um diese Beziehung zu pflegen. Paul VI. beschloss, eine Sammlung von moderner Sakralkunst zu gründen. Der Großteil dieser Sammlung kam damals durch Schenkungen an den Papst zustande, die den kleinen Bestand an Kunstwerken aus dem 19. Jahrhundert, die unter Pius XII. zusammengetragen wurde, ergänzte. Über zehn Jahre lang arbeitete Msgr. Pasquale Macchi, der Privatsekretär von Paul VI., an der Sammlung. 1973 wurde diese eröffnet. Seitdem kommen immer neue Werke hinzu. Erst 2023 zur Feier des 50-jährigen Jubiläums der Sammlung, wurden zehn neue Werke aufgenommen. Heute ist sie eine der größten Sammlungen moderner Sakralkunst der Welt und beinhaltet Werke von Van Gogh, Matisse, Chagall, De Chirico, El Anatsui und vielen mehr.
Eine Zeit der Spannung
Paul VI. hat 1964 wieder eine konstruktivere Beziehung zwischen der Kirche und moderner Kunst angestoßen. Denn diese war im 19. und frühen 20. Jahrhundert eher von Spannung bestimmt gewesen. Die Zeit war geprägt vom Erstarken von vielerlei äußerst potenten Geistesströmungen, die die Kirche vor große Herausforderungen stellte. Viele dieser Strömungen, die die Kirche gemeinhin unter Modernismus zusammenfasst, sind heute in ihrer damaligen Radikalität weitgehend in Vergessenheit geraten.
Diese vielfältigen „Ismen“, die damals aufkamen, teilten gemeinhin eine renitente Selbstbehauptung gegen die christliche Überlieferung und eine reduktionistische Welterklärung durch die eigene Perspektive. Am wichtigsten waren unter diesen der Kommunismus, Psychologismus, Evolutionismus und der Historizismus. Die Kirche reagierte nach den gesellschaftlichen Erschütterungen infolge der Französischen Revolution mit vehementer Ablehnung und Abschottung auf diese Geistesströmungen. Diese Abschottung ging sicherlich manchmal zu weit, ist jedoch aus dem zeitgeschichtlichen Kontext heraus durchaus nachvollziehbar.
Man bedenke, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts Papst Pius VII. von Napoleon Bonaparte nach Frankreich verschleppt und interniert wurde. Die katholische Kirche hatte deutlich zu spüren bekommen, wie die neuzeitliche Welt mit ihr umzugehen gedachte. Verfolgung, Verhaftung und Ermordung von tausenden Christinnen und Christen im 20. Jahrhundert etwa in der Sowjetunion, in Spanien und Mexiko sollten diese Befürchtungen auf tragische Weise bestätigen.
Auch in den Künsten gingen in dieser Zeit erhebliche Veränderungen vor sich. Das Selbstverständnis der Künste entwickelte sich in vielen Fällen vom dreifachen kirchlichen Ideal des Wahren, Schönen und Guten weg. Auch wenn es im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Vielzahl überaus eindrücklicher christlicher Kunstschaffender gab – man denke nur an Dostojewski, Van Gogh und Anton Bruckner –, so bewegten sich weite Teile der Kunstproduktion weg vom katholischen Ideal der Teilhabe des Künstlers am Schöpfungsakt Gottes, des Aufscheinens transzendenter Wahrheit im Irdischen und des Dienstes der Kunst an himmlischer Schönheit.
Denn die katholische Kirche sah den Wert der Kunst immer in einem konkreten, metaphysisch und theologisch klar bestimmten Sinn. L’Art pour l’Art, ein individualistischer Geniekult oder die reine Freude an der Transgression ist für die Kirche bis heute nicht von Interesse. Die Haltung der Kirche gegenüber Gegenwartskunst wurde von Pius XII. treffend in seiner Enzyklika Mediator Dei von 1947 formuliert.
Den Künsten gebührt freier Ausdruck und Mitwirkung in dem Lobpreis Gottes, insofern sie wahre Kunst schaffen, sofern sie also in würdiger Weise am Schöpfungsakt Gottes partizipieren und dem Schönen, Guten und Wahren verpflichtet sind. Noch in der anhaltenden Wirkung des Werkes Kunst und Scholastik (1920) des katholischen Philosophen Jacques Maritain ist spürbar, wie reichhaltig die katholische Reflexion über die Kunst ist. Dieses Werk katholischer Kunsttheorie wird bis heute intensiv diskutiert und prägte das Schaffen von Künstlern wie François Mauriac, T.S. Eliot, Flannery O’Connor und vielen weiteren.
Die (manchmal schwierige) Kunst der Unterscheidung
Mit der vatikanischen Sammlung moderner Kunst und der kontinuierlichen Interaktion zwischen den Päpsten und Kunstschaffenden zeigt die Kirche deutlich, dass ihre Liebe zu guter Kunst kein Relikt der Renaissance- und Barockzeit ist.
Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass auch innerhalb der Kirche des Öfteren ästhetisch danebengehauen wird. Es sei nur an das Foto eines Schweineherzens (eine Arbeit von Christian Eisenberger) erinnert, welches der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler in der Fastenzeit letzten Jahres in einer Kirche hat aufhängen lassen. Nach lautstarkem Protest der Gläubigen wurde das Bild wieder abgehängt. Ebenso zeugen so manche Fehlgriffe im modernen Kirchenbau davon, dass die Kirche selbst wieder mehr auf ihre eigenen ästhetischen Ideale achten sollte. Das muss keineswegs nostalgisch-traditionalistische Architektur und Kunst bedeuten, die nichts neues wagt. In der vatikanischen Sammlung moderner Kunst ist erlebbar, dass man für Beispiele guter christlicher Kunst nicht bis auf Michelangelo und Raffael zurückgehen muss.
(Die Geschichte geht unten weiter)
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Erstveröffentlichung bei swiss-cath.ch — publiziert mit freundlicher Genehmigung.
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