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Morgen ist heute gestern, oder: Perfekt Unperfekt

Ein Engel auf dem Wiener Zentralfriedhof

Wir wohnen direkt neben dem Kindergarten, Zaun an Zaun grenzt unser Garten an das Außengelände des Kindergartens, sodass wir nur kurze Wege zurücklegen müssen, wenn wir in den Kindergarten wollen. Einmal um die Ecke und schon sind wir da. Schräg gegenüber wohnen unsere Nachbarn, die zu Hause ihre Eltern pflegen. Im letzten Jahr ist die Mutter mit über 90 Jahren gestorben, vor einigen Tagen stand dann mittags, als ich die Kinder vom Kindergarten abholte, der Leichenwagen vor der Tür. Mit 93 Jahren war nun auch der Vater friedlich eingeschlafen. Ein starkes Bild war das, wie der Leichenwagen dort stand, der Sarg aus dem Haus getragen wurde und das Kinderlachen vom Kindergarten über die Straße hallte. Nur die schmale Straße trennte diese Szene voneinander und fügte sie gleichermaßen zusammen, da es wohl kein besseres Bild für das Leben gibt.

Hier sah man nun schwarz auf weiß, wie das Leben seinen Lauf nimmt, wie der ewige Kreislauf immer weiter geht und wie drei kleine Mädchen heiter an den Händen laufen und wissen wollen, wo der Sarg hingebracht würde.

Ein kurzer Gruß an die Hinterbliebenen an der Tür, die ihrem Vater das letzte Geleit gaben und ein stilles Gebet für den alten Herrn, der nun hoffentlich auf dem Weg in den Himmel war.

Danach ging unser Alltag weiter, schnell alle mit einem Snack versorgen, Äpfel aufschneiden, Rosinenbrötchen vierteln, die Schwimmtasche packen, alle wieder anziehen und los, die Große zum Schwimmunterricht bringen. Danach zum Bäcker, Teilchen kaufen, da eines der Mädchen Namenstag hatte und wir ein kleines Kaffeetrinken am Nachmittag ihr zu Ehren machen wollten.

Und dann kam abends im Bett der Satz der Großen: "Mama, wenn ich morgen aufstehe, dann ist heute gestern. Dann ist mein Namenstag vorbei und der Nachbar ist schon einen ganzen Tag tot."

Ein eigentlich simpler Gedanke, wenn auch durchaus tiefsinnig für eine 5-Jährige und mit einer starken Botschaft, wenn man nach dem Sinn des Lebens fragt und sich dabei die Endlichkeit stets vor Augen hält.

Womit verbringen wir unsere Zeit, was hinterlassen wir auf der Erde, was geschieht mit uns, wenn wir sterben? In jedem Fall wird sich die Erde weiterdrehen, Mütter werden ihre Kinder weiterhin von der Kita abholen und zum Schwimmunterricht bringen, während wir im Sarg liegen und darauf hoffen zum lieben Gott zu kommen.

Mich hat dieser Satz dazu aufgefordert darüber nachzudenken, ob ich wirklich mein Leben im Bewusstsein der Endlichkeit lebe, weil letztlich dieses Bewusstsein der Kern unseres Menschseins ist und uns vor einer Überheblichkeit gegenüber Gott bewahrt. Und tatsächlich konnte ich den darauffolgenden Tag anders erleben, als den Tag zuvor.

Die Kleine räumt gerade alles ständig aus und in einem Tempo, in dem ich vorne aufräume und sie hinter mir alles wieder durcheinander bringt. Die Große diskutiert gerade gerne, hat ständig kluge Kommentare zu allem und Gegenvorschläge zu meinen Ansagen. Die Mittlere läuft mit, hat ab und an aber auch ihre individuellen Aussetzer und hat das Talent mich mit ihrer quirligen Art in den Wahnsinn zu treiben. Ich habe mir nun an diesem Tag einen Kaffee gekocht, mich zu der Kleinen in das Chaos gesetzt und habe einfach aufgehört ständig aufzuräumen. Denn was sollte ich dem lieben Gott erzählen, wenn er mich fragte, ob ich ein gutes Leben hatte? Ja, ich habe aufgeräumt, ist wohl nicht die beste Antwort. Nein, ich habe mich dazu gesetzt und mir mit der Kleinen die ganzen Sachen betrachtet, auf die sie neugierig war und die sie nicht ausgeräumt hatte, um Chaos zu verursachen. Mit der Großen habe ich eine lange Diskussion darüber geführt, warum ihr der Onkel Peter zum Geburtstag Geld schenken darf und sie ihrer Freundin in den Kindergarten nichts aus ihrer Spardose mitbringen darf. Aus Erwachsenensicht eindeutig, ihr erschloss sich die Logik überhaupt nicht. Also habe ich mir die Zeit genommen, mit ihr dieses Thema auszudiskutieren, habe ihr den Wert von Geld erklärt, ihr Anlässe aufgezählt, zu denen man Geld schenkt, welchen Rahmen man dafür wählt, über das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern, über Familie und Freunde und über das Verhältnis von Geld, Freundschaft und der Liebe ohne Gegenleistung.

Der Mittleren habe ich eine halbe Stunde beim Tanzen zugeschaut, habe begeistert ihre Fortschritte bewundert, neue Drehungen und Schritte, die sie eingeübt hatte und applaudierte an jeder Stelle, die sie mir vorgab, an der Applaus ihrer Meinung nach angebracht war. Sie grinste und tanzte und gab mir am Schluss einen Kuss.

Am Abend war ich erschöpft vom vielen Reden, mir schwirrte der Kopf von Geld und Tanzschritten und ich sah in der Wohnküche meine gesamten Backutensilien und Schüsseln auf dem Boden verteilt liegen. Ich nahm mir ein Glas Wein, schaltete meinen Lieblingssender im Radio ein und begann zufrieden aufzuräumen.

Morgen wird heute gestern sein, dachte ich und ich werde sagen können: gestern war ein schöner Tag, genauso wie heute und morgen und übermorgen…

 

Das Blog "Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter" mit Elisabeth Illig erscheint jeden Montag bei CNA Deutsch. Alle bisherigen Blogposts finden Sie hier im Überblick. 

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