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Pater Engelbert Recktenwald: Magnus Striet beruft sich zu Unrecht auf Kant

Immanuel Kant (Gemälde von Johann Gottlieb Becker)

Ende Mai hat sich die Philosophisch-Theologische Hochschule Münster mit einer Tagung einem Thema gewidmet, das einer akademischen Auseinandersetzung bisher weitgehend entzogen war, nämlich der Autonomie als Schlüsselfrage heutiger Theologie. Acht namhafte Referenten kamen dabei zu Wort.

Manche Theologen haben sich zur Frage der Autonomie bereits positioniert. Magnus Striet etwa, der Freiburger Fundamentaltheologe, meint, er dürfe „kein Gott akzeptiert werden, der die Freiheit des Menschen und damit das von ihm beanspruchte Recht auf freie Selbstbestimmung nicht achtet“. Bei Striet wird „Autonomie“ also zum alles bestimmenden Kriterium.

Bischöfe wie Franz-Josef Overbeck von Essen stimmen ihm zu: „Wie Menschen zu leben haben, lässt sich nicht mehr allgemein autoritativ verordnen, ohne das Gottesgeschenk der Autonomie mit Füßen zu treten.“

Ähnliche Sichtweisen vertreten zum Beispiel auch Stephan Goertz, Moraltheologe an der Universität Mainz, und Saskia Wendel, Fundamentaltheologin an der Universität Tübingen.

Diese neue deutsche Subjektphilosophie stellt die seit 2000 Jahren gelehrte christliche Anthropologie infrage, die von der Heiligen Schrift ausgeht. Grund genug für die Philosophisch-Theologische Hochschule Münster, zu einer Fachtagung einzuladen.

Dort setzte sich etwa P. Engelbert Recktenwald FSSP kritisch mit den heutigen Theologen der Moderne auseinander und sprach über „Kants Autonomie im Strudel heutiger Theologie“.

Striet sei „der populärste Repräsentant jener theologischen Strömung, die Freiheit als den höchsten Wert ansieht, als jenen Wert, an dem sich die vormoderne Spreu vom kantisch aufgeklärten Weizen scheidet“, so Recktenwald. „Er benutzt gerne das Wort ‚Autonomiefreiheit‘. Darunter versteht er das Recht auf moralische Selbstbestimmung – ein Recht, das nur in der Freiheit des anderen seine Grenze findet. Sein Kronzeuge ist Immanuel Kant.“ Hinter Kant und dessen Freiheitsbegriff könne man nicht zurück.

Darauf antwortete Recktenwald: „Meine These lautet, dass Striet sich zu Unrecht auf Kant beruft. Deshalb wollen wir zunächst untersuchen, was Kant unter Autonomie versteht. Autonomie ist für ihn Selbstgesetzgebung. Wie das gemeint ist, können wir nur verstehen, wenn wir uns seine Freiheitslehre anschauen und gedanklich möglichst präzise nachvollziehen.“ Für Kant bedeute Freiheit eine „Eigenschaft unseres Willens“, „eine Art von Kausalität“, „Verursachung“. Kant mache den moralischen Wert der Handlung nicht nur unabhängig vom faktischen Erfolg, sondern auch von der Absicht. Die Gesinnung gehe der Handlung voraus und bestimme deren moralische Qualität, nicht umgekehrt. Der Wille müsse, wenn er frei sein solle, nach eigenem Gesetz sich zur Handlung bestimmen, nicht nach fremdem Gesetz, denn sonst wäre er fremdbestimmt, unfrei.

Hat der Mensch tatsächlich einen freien Willen? Die Antwort findet Kant beim Blick ins Tierreich. Tiere seien instinktgetrieben, ihr Verhalten sei bestimmt durch sinnliche Antriebe.

Die entscheidende Frage lautet: „Kann der Mensch sich der Bestimmung durch die Naturgesetzlichkeit entziehen und sich selbst zum Handeln bestimmen?“ Dieses Gesetz finde man tatsächlich, beschrieb Recktenwald die Sichtweise Kants: „Es ist das moralische Gesetz. Der Wille bestimmt sich, wie Kant sagt, nach der Vorstellung dieses Gesetzes. Wir sind uns also dieses Gesetzes notwendigerweise immer bewusst. Die Möglichkeit, dass es uns, ähnlich wie die Naturgesetze, unbewusst bestimmt, ist – nach Kant – ausgeschlossen. Diese Vorstellung sei eine Vernunftvorstellung. „Das bedeutet: Immer, wenn wir moralisch handeln, bestimmen wir uns bewusst nach dem Gesetz unserer Vernunft, handeln wir rational. Die Vernunft ist mit dem reinen Willen identisch.“

Kant definiert Freiheit im strengsten Sinne als die gänzliche Unabhängigkeit des Willens von den Vorstellungen des Angenehmen und Unangenehmen. Frei im Sinne von autonom, selbstbestimmt, sind wir also nach Kant in dem Maße, in dem das moralische Gesetz zum Bestimmungsgrund unseres Willens wird, unabhängig von sinnlichen Antrieben. Der Wille sei also das Vermögen vernünftiger Wesen, ihre „Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen“.

Nach Kant sei der reine Wille, der von empirischen Antrieben unabhängig ist, deshalb mit der praktischen Vernunft identisch. Deshalb gelte: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.“ Recktenwald erklärte: „Das Sittengesetz ist nach Kant das Gesetz der Freiheit. Fällt es weg, zerfällt die Freiheit.“ Dann sinke der Wille hinab in die Heteronomie, er liefere sich den sinnlichen Bestimmungsgründen aus. Nur als Sinnenwesen empfinde der Mensch das moralische Gesetz als einschränkend.

Daraus ergebe sich: „Autonomie ist nicht ein sicherer Besitz, sondern eine lebenslange Aufgabe.“ Das Sittengesetz werde nicht von uns Menschen gesetzt, sondern sei uns vorgegeben von der reinen Vernunft. „Auch für den göttlichen Willen gilt, dass sich sein moralischer Wert nach seiner Übereinstimmung mit dem Sittengesetz bemisst. Der Unterschied zum menschlichen Willen besteht lediglich darin, dass der göttliche Wille mit dem Sittengesetz erstens vollständig und zweitens notwendigerweise übereinstimmt.“

Recktenwald zog das Resümee: „Von all dem ist bei Striet, Goertz und Co nicht mehr die Rede. Der Begriff der Freiheit wird nicht mehr durch seinen Bezug zum Sittengesetz bestimmt, sondern tritt an dessen Stelle. Die Freiheit selbst wird zum höchsten Wert und zum Geltungsgrund moralischer Normen.“ Freiheit werde ihr eigener Bestimmungsgrund. Sie bedarf demnach außerhalb ihrer selbst keines Zweckes, um Rechtfertigung, und keiner Wahrheit, um Orientierung zu finden. Kant dagegen sei der Überzeugung, dass das moralische Gesetz der Bestimmungsgrund der Freiheit sei, und zwar „unzertrennlich“.

Die Wendung, Freiheit sei das Höchste, wiederhole sich in den Ausführungen Striets mit mantraartiger Zuverlässigkeit. Aber: „Das ist völlig unkantianisch. Bei Kant ist das Höchste die Tugend.“ Tugend sei „moralische Gesinnung im Kampf“. Recktenwald zitiert Kant mit den Worten: „Diesen Kampf haben wir stets nötig, da die Reinheit unserer Gesinnung durch die sinnlichen Antriebe gefährdet ist und wir stets hinter den Anforderungen des Sittengesetzes zurückbleiben. Deshalb ist eine wesentliche Wirkung des Sittengesetzes unsere Demütigung, die Niederschlagung unseres Eigendünkels.“ Recktenwald kommentierte, „Gedanken zu Opferbereitschaft und Selbstverleugnung, die bei Kant einen großen Raum einnehmen“, seien „unseren Autonomie-Theologen“ fremd.

Kant und Striet unterschieden sich aber nicht nur in ihrem jeweiligen Autonomie- und Freiheitsverständnis, wie Recktenwald erläuterte, sondern auch das Verständnis von Sittengesetz und Vernunft klafften völlig auseinander. Die Moderne zeichne sich durch zwei Grundzüge aus: die Hochschätzung der Vernunft und die Skepsis gegen jede Autorität. Durch die Entthronung der Vernunft habe Friedrich Nietzsche den Weg freigemacht, das Sittengesetz als etwas Menschengemachtes zu sehen, als eine Erfindung: Entweder ist die Vernunft eine göttliche Wirklichkeit, also eine Urvernunft, oder es existiert nur die menschliche Vernunft in ihrer historischen Bedingtheit – dann wird das Sittengesetz zu etwas Menschengemachten.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Magnus Striet habe sich für die zweite Möglichkeit entschieden und gesagt: „Werte und Normen sind das Resultat eines historischen Prozesses.“

Für Recktenwald galt vor diesem Hintergrund: „Striet ist nicht, wie er meint, über Kant hinausgegangen, sondern hinter ihn zurückgefallen. Kant wollte die strenge Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes sichern.“ Für Kant sei das Sittengesetz gerade nicht etwas, das man ersonnen habe, sondern das mit einer Autorität an die Menschen herantrete und sie binde.

Für Striet sei die menschliche Freiheit „eine vom Menschen selbst gesetzte, und weil dem Menschen diese Freiheit das Höchste ist, muss Gott sich diesem moralischen Universum einfügen“, fasste Recktenwald zusammen. „Hier wird der Mensch zum Gesetzgeber Gottes.“

„Die Idee einer göttlichen Ordnung, der sich der Mensch einfügen muss, wird von Striet abgelehnt, dafür aber die Idee einer vom Menschen ersonnenen Ordnung etabliert, der sich Gott einfügen muss“, erklärte er.

Für Kant sei die Autonomie ohne eine „Kultur der Zucht“, die „in der Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden“ besteht, nicht zu haben. Für viele Theologen heute wende sich der Autonomiebegriff indes nicht gegen den Despotism der Begierden, sondern im Namen des freien Auslebens derselben gegen die Autoritätsansprüche Gottes und der Kirche, so Recktenwald: „Für Kant ist alle Autorität dem Sittengesetz vorbehalten; unsere Theologen lehnen sie ab, weil sie nicht einmal die Autorität des Sittengesetzes anerkennen.“

Liebe und Hingabe hätten in ihnen erst recht keinen Platz, hob er hervor. Wenn die heilige Edith Stein schreibe: „Die Hingabe unseres Willens ist das, was Gott von uns allen verlangt und was wir leisten können. Sie ist das Maß unserer Heiligkeit“ – dann formuliere sie ein Heiligkeitsideal, das den gegenwärtigen Autonomieverfechtern doppelt unverständlich sei, in moralischer und in rechtlicher Perspektive. Nach deren Perspektive müsse Gott als übergriffig erachtet werden. So gerate nicht nur Kants Autonomie, sondern „auch das Gottesbild“ „in den Strudel heutiger Theologie“.

Alle Vorträge der Tagung an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster sollen in Buchform erscheinen. CNA Deutsch plant, über weitere Vorträge zu berichten.

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