3. September 2020
Als Leo XIII am 20. Juli 1903 in Rom starb, hatte er ein Lebensalter von 93 Jahren und 140 Tagen erreicht. Dabei galt der italienische Adelige Giaocchino Pecci Zeit seines Lebens als ein wahres Arbeitstier; langfristig denkend, strategisch klug und mit höchster Disziplin arbeitete er ein Thema nach dem anderen ab. Tag für Tag begann "der erste moderne Papst" seinen Arbeitstag um 5 Uhr am Morgen. Leo war liebenswürdig, ein geschickter Diplomat und Kommunikator. Dem modernen Leben zugetan, ließ er sein Konterfei auf alkoholhaltigen Getränken ablichten und liebte den Schnupftabak; er war Technikfan, und es gibt von ihm sogar schon Film- und Tonbandaufnahmen. Mit einer Amtszeit von 25 Jahren wurde er nur von zwei Päpsten getoppt: Sein Vorgänger, Pius IX, war über 31 Jahre Papst; und Johannes Paul II. brachte es unter Schmerzen und mit eisernem Willen auf 26 Jahre.
Doch einen historischen Rekord ist Leo XIII. los: der älteste Papst in der Geschichte der Kirche zu sein. Abgenommen hat ihm den Rekord ein Mann, der ganz anders ist als Leo XIII: mit dem heutigen Freitag ist Papa Emeritus Benedikt der älteste Mann, der je auf dem Stuhl des Heiligen Petrus saß. Benedikt ist ein Mann von eher zarter Konstitution, durchaus keine Kraftnatur. Zeit seines Lebens zog er die Stille einer Gelehrtenstube dem diplomatischen Parkett vor. Seine Arbeitsweise war von Anfang an bedächtig, ruhig, gemessen und genau, wie ein Bergsteiger, der mit langsamen Schritten die höchsten Gipfel anstrebt. War Leo XIII vielleicht auf die Mehrung von Macht und Ansehen bedacht, so interessierte Benedikt nur eines: die Wahrheit – die faszinierende Vernünftigkeit des Glaubens an Gott, die sich in immer neuen Konstellationen herausstellen mochte, so lange man sich nur die Zeit nahm, in der Tiefe zu bohren. Als junger Theologe entdeckte ich den Autor Joseph Ratzinger, der mir zuerst nur auffiel wegen der Eleganz seines Stils und der Schönheit seiner Sprache – "pageturner" sind in der Theologie ja selten; aber mit der Zeit las ich ihn gewissermaßen aus arbeitsökonomischen Gründen und um des Wesens einer Sache willen: ein Aufsatz von Ratzinger ersetzte oft einen halben Tag in der Bibliothek. Als besäße er einen goldenen Griffel, begannen die meisten Gegenstände, denen er sich schreibend näherte, zu leuchten – ein-zu-leuchten. Das Studium von Joseph Ratzinger bereicherte selten nur den Kopf; es wärmte das Herz, brachte den tausendstimmigen Chor der großen Zeugen des Glaubens zum Klingen und machte Lust, selbst darin einzustimmen.
War Leo XIII. vielleicht der geschickteste Kirchenlenker seiner Zeit, so wird man Benedikt einmal wegen der Sicherheit, Universalität und Klarheit in der Lehre die Ehre eines "Kirchenlehrers" angedeihen lassen. In der Tat wählten Kardinäle nach dem Tod von Johannes Paul II. kein Verwaltungsgenie zum Nachfolger des Papstes aus Polen; sie wählten einfach den klügsten Theologen seiner Zeit, darüber hinaus einen Mann, der sich die fromme Einfalt eines Kindes bewahrt hatte, das mit staunenden Augen verfolgte, wie die Gnade Gottes in seiner Schwachheit wirkte. Dass er von sich sagte, er sei nur "ein einfacher demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn", war nicht die Floskel eines Mannes, der sich insgeheim für den Shooting Star der Weltkirche hielt. Ich glaube, er hat es nie ganz begriffen, was es heißt Papst zu sein. Einmal benutzten die Medien schon das Wort "Star" für ihn, - damals als sie von den aufmüpfigen "Jungstars" Wojtyła und Ratzinger schrieben, die das Zweite Vatikanische Konzil aufmischten und entscheidend dazu beitrugen, die Ära der Gegenreformation zu beenden und ein neues Zeitalter der Kirche einzuläuten. Damals hielten manche die beiden Männer, die heute bestenfalls für eine Hermeneutik der Kontinuität stehen, für gefährliche "Progressisten". In Wahrheit haben sich beide wahrscheinlich weniger verändert als die Welt, die sich so lange um sie drehte, bis man die ehemaligen "Jungstars" endlich der Restauration und Stagnation bezichtigte.
Darüber wurde Benedikt alt, sehr alt, älter als jemals ein anderer auf dem Stuhl Petri. Wie viele Tage und Jahre Gott ihm noch schenkt, weiß nur ER. Sicherlich wird seine Lehre die lausigen Angriffe derer überleben, die ihn bis zum Grab mit der berühmten sprungbereiten Feindseligkeit begleiten, statt mitreißende Theologie zu entwickeln und sich für den Herrn verbrauchen zu lassen. Ad multos annos, papa Benedikt! Sie sind kein Leo. Aber Sie sind der Papst meines Lebens. Ich möchte noch viel von Ihnen lernen.
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