28. September 2020
Wir halten den Atem an, als sich ihre Silhouette vor uns aufbaut: Diese Stadt von Türmen, Mauern und Palazzi in den Ausläufern der marchesichen Abruzzen, westlich von Ancona. Auf den Rücksitzen verstummen die Protest-Litaneien unserer zwei größeren Kinder – "Ich will lieber an den Strand!", "Wie lange dauert es noch?". Nur der jüngste kommentiert weiterhin jeden vorbeifahrenden Lastwagen begeistert mit "Ba!".
Theoretische Begeisterung
Wir sind nicht nur auf einem Ausflug, sondern auf einer Wallfahrt. Unsere Tochter Korona hat begeistert zugestimmt, als wir sie fragten, ob sie ihre Namenspatronin besuchen möchte. Die heilige Corona, in Osimo.
Zumindest war das in der Theorie so. Die Praxis schaut nach über 7 Stunden Hinfahrtzeit ins Hotel mit Traumstrand und Animateuren anders aus, wenn man sechs Jahre alt ist. Vom vierjährigen Bruder ganz zu schweigen. Und jetzt eine weitere Dreiviertelstunde im Auto – ist doch verständlich. Nur der Eineinhalbjährige ist – wie immer – völlig schmerzfrei. Faszinierend.
Je weiter wir mit unserem fahrbaren Untersatz den Stadtberg erklimmen, desto ehrfürchtiger staunen unsere Sprösslinge: Am Stadttor vorbei finden wir einen Parkplatz direkt an den hohen Stadtmauern mit ihren Spiegelquadern. Diese stammen aus der Zeit, als die Stadt Auximum hieß. Vor uns ein Eingang in das Tunnelsystem aus antiker Ära, das den ganzen Berg durchzieht. Wir wenden uns weiter bergauf, am Palazzo Municipale vorbei. "Senza Testa", die "Kopflosen" werden die Bewohner Osimos scherzhaft genannt, einen Spitznamen, an dem sie selbst Schuld sind: Wer stellt schon 12 römische kopflose Statuen statt ins Museum (wo sie alle bewundern) in den Gang des Rathauses (wo sie Symbol des Gemeinderats werden…)?
Wir wollen zur Heiligen Corona
Doch unser Ziel liegt noch ein Stück weiter oben: Schon bald sind wir vor der Kathedrale dieser kleinen Stadt angelangt, die bis 1986 die Bischofskirche des Bistums Osimo war und seit der Zusammenlegung mit dem Erzbistum Ancona die Konkathedrale. Der Patron dieser Kirche ist der Hl. Leopardo (ich ernte Gekicher von den Kindern, als ich den Namen nenne: Hihi, komischer Name), doch wir sind wegen einer anderen Patronin hier: In der Krypta dieser Basilica Minor liegt die Hl. Corona, Namenspatronin unserer Tochter begraben. Und zu ihr wollen wir ja.
Zuerst beeindruckt uns aber die Architektur dieser hochromanischen Basilika aus dem 13. Jahrhundert, die in der Ornamentik und Ausführung den Vergleich mit den apulischen Vorbildern nicht zu scheuen braucht: Der Porticus mit dem Doppelportal ist fein gearbeitet und reich verziert. Unseren Sohn, der sich sehr für die Landwirtschaft begeistert, faszinieren die Kapitelle mit Ochsenköpfen, ein später in die Wand eingemauerter Tympanon mit dem jüngsten Gericht von Mastro Philippo zeigt das hohe Können und die Frömmigkeit der Steinmetze.
Seltsam anmutend sind die zwei Schlangen mit eingerolltem Schwanz, die das rechte Portal umrahmen: Sie ähneln mit ihren geschuppten Körpern nordischen Vorbildern der Midgardschlange – eine Reminiszenz an die heidnischen Wurzeln der normannischen Eroberer Italiens? Nicht unwahrscheinlich, schließlich befindet sich Jesi, die Geburtsstadt Friedrichs II, nur einen Katzensprung entfernt. Es scheint, als dämme die Heiligkeit, die aus der Kirche strömt, diese Widermächte und mache sie kampfunfähig. Mich holt die Erinnerung an die schrecklichen Bilder der Pandemie, der Verzweiflung und der gefühlten Gottferne in den letzten Monaten wieder ein, und ich erkenne meine Erlebnisse darin. Den Schlangen übrigens entgegenhalten die Könige Salomo und David die geschlossene Truhe der 72 Dämonen und das Rauchfass des purifizierenden Weihrauchs. Vade retro! Hier herrscht ein Anderer!
Italienische Weihwasser-Kreativität
Die Tore sind jedoch auch für uns verschlossen, der jetzige Zugang führt durch ein kleines Tor und einen Gang. Hier finden wir die alte Taufkapelle, San Giovanni Battista. In ihr befindet sich ein zutiefst bewegendes und wunderschön gestaltetes Taufbecken aus Bronze, getragen von Ochsen. Es erinnert an das sog. "Eherne Meer" im Tempelbezirk, ein Wasserbecken aus Metall, das die Zähmung des Chaos durch die Allmacht Gottes repräsentierte. Gemäß Rupert von Deutz sei dieses Becken der alttestamentarische Prototyp eines jeden Taufbeckens, in der wir durch Gottes Gnade auf der Verstricktheit der Sünde in die Gotteskindschaft gehoben werden – symbolisiert durch Christus, den Sieger über Sünde und Tod. Ich habe noch nie eine derartige Darstellung gesehen, so künstlerisch anmutig und wie tiefsinnig die Verwiesenheit des Christusglaubens auf das Volk Israel ausdrückend!
Durch den kleinen Innenhof führt der Weg in die Basilika hinein. Ich grinse, denn italienische Kreativität begrüßt uns, ein kontaktloser Spender gibt uns seit Monaten wieder die erste Möglichkeit, uns mit Weihwasser zu bekreuzigen. Mit Freude nehmen wir das Geschenk an. Sofort wandert der Blick nach vorne, in den erhabenen Altarraum; darunter ist das Ziel unserer kleinen Wallfahrt, das Grab der Hl. Corona und ihrer Gefährten. Natürlich begeben wir uns durch die fast menschenleere Kathedrale dorthin. Was mich die ganze Zeit wundert, ist die Tatsache, dass außer uns kein anderer Pilger unterwegs ist – nur zwei Mesner kümmern sich liebevoll um das hochverehrte romanische Kreuz in der Seitenkapelle. Gerade das von der Pandemie so geschlagene Italien müsste doch die Hl. Corona als Fürsprecherin erwählt haben – doch scheint diese Heilige eher bei uns im bairisch-österreichischen Raum ein Revival erlebt zu haben. In der Krypta ist es leer und dunkel, bis uns auffällt, dass neben dem Eingang ein Automat für die Beleuchtung steht. Wir werfen den Wallfahrtsobolus eben hier ein und betreten den heiligen Raum.
Martyrin, Zeugin, mit Mut und Glaubenskraft
Gerade diese Krypta hat in der schönen und stillen Kirche noch einmal eine Steigerung der Besinnung zu bieten – zumindest für uns abgehärtete Eltern. Wir wenden uns den Sarkophagen der Heiligen zu, rechts der Heiligen Leopardus und Diocletianus mit spätantiken Ornamenten. Gegenüber finden wir, ganz schlicht über der Altarmensa – "zu den Altären erhoben" –, den Sarkophag des Hl. Victor und seiner Co-Martyrin Corona.
Bischof Gentile ließ die Gebeine beider aus Castelfidardo überführen und diesen Schrein im 12. Jahrhundert errichten und Kardinal Antonio Bichi im 17. Jahrhundert eine Identifizierung ihrer Gebeine vornehmen. Hier liegt die Namenspatronin unserer Tochter begraben, die zur Zeit in aller Munde ist.
Das junge Mädchen war Martyrin, Zeugin, mit Mut und Glaubenskraft: Der römische Soldat Victor (der aus Umbrien bzw. Venetien stammen soll) wurde mit anderen zusammen in Syrien unter Kaiser Marc Aurel denunziert, verhaftet und gefoltert. Die 16-jährige Corona, die die Verlobte eines Mitsoldaten gewesen sein soll, bestärkte Victor in seiner Christusnachfolge in einer ähnlichen Vision, wie sie der Hl. Und Protomartyrer Stephanus hatte: Sie sehe zwei Kronen herabkommen, als Zeichen des Sieges, eine für sich, eine für ihn. Während Victor mit heißem Öl übergossen wurde, ihm die Augen ausgestochen wurden und er (als römischer Bürger?) enthauptet wurde, ließen sich die Folterer ähnlich Grausames für die Jungfrau einfallen: Wie gemeinhin bekannt, wurden ihr die Gliedmaßen durch zwei hochschnellende Palmen ausgerissen. So wurde das Zeichen des Martyriums, die Palme, gleichzeitig das Symbol des christlichen Glaubenssieges, die Martyrerpalme. Corona trägt beides zu Recht. A propos der Name: Forscher nehmen an, das lateinische Corona (oder die griechische Entsprechung Stefania), also "(Sieges-)Krone" oder "die Bekränzte", sei eine spätere Zuschreibung für eine anonyme Heilige aus dem 2. Jahrhundert und so sei mit Victor, was "Sieg" bedeutet, erst im Nachhinein als Eigenname verwendet worden.
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Namen und Heilige im Glauben
Ich kann dieser Argumentation, auch wenn sie möglich ist, nicht viel abgewinnen: Victor und Stephania (als weibliche Form von Stephanos) scheinen mir beileibe keine so seltenen Namen in der Spätantike zu sein (siehe die Martyrer der Thebäischen Legion). In unserer Religion wurden und werden viele Heilige erst unter neuem Namen bekannt und als wirksame Fürsprecher angerufen. Wer ruft noch einen bärtigen, jüdischen Fischer mit Namen Simon an, den Jesus als den Fels bezeichnet hat und der Fels (griech. Kephas, lat. Petrus) für uns wurde?
Der Gedanke, dass es nach dieser Argumentation der Simonsdom in Rom wäre, lässt mich grinsen – doch ein Piepsen reißt mich aus meinen inneren Apologien. Die Zeit der Beleuchtung ist um, wir kehren langsam zum Ausgang zurück. In der Kirche hat wieder einmal das eingestellt, was unsere Familie von vielen Reisen her kennt und was bei uns scherzhaft der "Häring-Effekt" genannt wird: Zunächst leere und unbeobachtete Orte füllen sich, nachdem eines oder mehrere Mitglieder unserer Familie sie aufgesucht haben. Vielleicht wollen auch sie zur Hl. Corona? Schön wäre es.
Auf dem Weg zum Ausgang sinne ich wieder über die Bedeutung von Namen und vor allem die Bedeutung unserer Namenspatrone nach: Ich glaube daran, dass wir nicht zufällig unsere Namen (und die dazugehörigen Patrone) besitzen. Ich entdecke bei mir lieben Menschen, vor allem meiner Frau, wie viele Gemeinsamkeiten sie mit "Ihren" Heiligen besitzen (sie heißt Maria und Rita: Für die aussichtslosen Fälle, also mich). Bei unserer Tochter entdecke ich auch Verbindungen zum Leben und Wirken dieser jungen Frau aus dem 2 Jahrhundert über Zeit und Raum hinweg. Ich selbst verehre meinen Namenspatron, den Hl. Andreas, als Vorbild sehr, auch wenn ich sehr weit hinterherhinke. Ist es nicht so, dass unsere Namenspatrone, und die Verbindung, die wir im besten Falle und Sinne zu ihnen haben (sollten), ein unsichtbares Band ist, das uns prägt? Ob wir sie mitbekommen (von Eltern, Paten oder Ordensoberen) oder sie uns selbst aussuchen (z.B. bei Erwachsenentaufen), wir haben diese himmlischen Freunde, die mit uns vor Gott stehen. Gerade die Heiligenverehrung wird den apostolischen Kirchen oft als Götzendienst vorgeworfen. Ist es jedoch nicht eine andere Blickrichtung? Weisen unsere Patrone, die Gemeinschaft der Heiligen in ihrer Fülle und Vielfalt – und Individualität! – nicht darauf hin, dass es (mit Papst Benedikt XVI gesagt), es genauso viele Wege zu Gott gibt, wie es Menschen gibt?
Der Blick zur Mitte, zu Christus
Ich denke, dass in der katholischen, apostolischen Lehre viel Platz für uns ist, diese auf unsere eigene Art zu leben und dass dies genau im von Christus beabsichtigten Sinne ist. Unsere Namenspatrone und alle Patrone, die wir mitbekommen haben (Berufe, Orte, Regionen), sowie die, die wir für uns und andere erwählen, weisen mit ihrem Leben und Sterben unseren Blick nicht auf sich, sondern auf Christus, dem wir nachfolgen sollen – und dem diese schon nachgefolgt sind, in all ihren Eigenheiten, Fehlern und Sünden, aber mit ihrem Tun und Streben.
In der Mitte der Kirche, zum Ausgang gesehen rechts, wende ich mich zufällig noch in eine Seitenkapelle. Hier befindet sich ein Bild des Malers Guido Reni (allen Kreuzworträtslern bekannt als "berühmter italienischer Barockmaler" mit vier Buchstaben): "Christo in Pietà adorato dai Santi Tecla, Vittore, Corona e Diego d’Alcalà", in etwa übersetzt: Christus mit den Wundmalen, angebetet von den Heiligen Thekla (Konpatronin des Domes), Victor, Korona und dem Hl. Diego von Alcalà.
Die Blickrichtung aller geht zur Mitte, die Christus ist.
Wieder draußen, ist der Weg nicht weit zum Stadtpark mit Spielplatz und wunderbarer Aussicht auf die Abruzzen. Nicht weit entfernt muss Loreto sein, das Heiligtum des Hauses unserer Lieben Frau. Der Franziskaner Josef von Copertino soll beim Anblick Loretos in die Luft gehoben worden sein, er ist als Patron aller Fliegenden ebenso in Osimo begraben. Osimo ist eben eine Reise, besser eine Wallfahrt wert.
Andreas Häring arbeitet als Pastoralreferent in einem oberbayerischen Pfarrverband. Von 2006 bis 2007 studierte der Diplomtheologe in Jerusalem.
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