Die Menschen sind zu allen Zeiten – und viele sind es auch heute – von der Sehnsucht bewegt, dass ihnen Gott nahe kommt und sie mit ihm so vertraut sind, dass sie sich in ihm geborgen wissen und den Sinn ihres Lebens und der ganzen Geschichte erkennen können. Diese Sehnsucht ist vor allem lebendig gewesen in Zeiten, in denen die Menschen viel Dunkles erfahren mussten und der Sinn des Ganzen fraglich geworden ist – wie in der heutigen Zeit, in der das unsichtbare und doch allgegenwärtige und scheinbar allmächtige Virus die tiefe Verwundbarkeit und Verletzlichkeit von uns Menschen wieder in neuer Weise sichtbar gemacht hat. 

Fleischwerdung des Sinnes Gottes

In diese Situation hinein ertönt auch und gerade heute die Botschaft der Weihnacht. Sie besagt in ihrem elementaren Kern, dass die tiefe Sehnsucht der Menschheit in Erfüllung gegangen ist, nämlich im weihnachtlichen Geschehen in Bethlehem. Der Prolog im Johannesevangelium, der seit frühen Zeiten in die Mitte der Liturgie am Weihnachtstag gehört, bringt den zentralen Inhalt des Weihnachtsfestes mit einem einzigen, aber inhaltsschweren Satz zum Ausdruck: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (Joh 1, 14).

Damit ist uns zunächst die Zusage gegeben, dass mitten in der Dunkelheit des heutigen menschlichen Lebens von Gott her der tiefste Sinn aufgeleuchtet ist. Denn was der Evangelist Johannes als „Logos“ und als „Wort“ bezeichnet, kann man auch mit „Sinn“ übersetzen. Weihnachten gibt uns die entscheidende Antwort auf die die Menschen in allen Zeiten und auch heute bewegende Frage, worin denn der Sinn des menschlichen Lebens und der ganzen Schöpfung besteht. Von diesem Sinn sagt das Weihnachtsevangelium, dass er nicht nur im Anfang bei Gott war, sondern dass Gott selbst dieser Sinn ist. Und dies bedeutet, dass der Sinn und damit das alles Entscheidende in unserem Leben uns gegeben, uns geschenkt ist: Es ist umsonst, «sola gratia» und damit gratis.

Von dieser tiefen Wahrheit zeugt auch der Brauch, der für Weihnachten charakteristisch geworden ist, nämlich der Brauch des Schenkens und des Beschenkt-Werdens. Wenn dieser Brauch nicht einfach eine oberflächliche oder gar nur kommerzielle Gestalt annimmt, sondern aus dem Herzen von uns Menschen kommt, dann bringt er das tiefste Wesen von Weihnachten zum Ausdruck, dass in unserem Leben alles Wichtige, vor allem auch der Sinn unseres Lebens, Geschenk ist, für das wir dankbar sein dürfen und sollen.

Dieser von Gott uns Menschen geschenkte Sinn ist aber nicht bloß eine schöne Idee oder eine geistvolle Theorie. Von diesem Sinn sagt das Weihnachtsevangelium vielmehr, dass er Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat. Dem ursprünglichen Wortsinn gemäß heißt es sogar, dass der Sinn unter uns Menschen sein Zelt aufgeschlagen und gleichsam campiert hat. Erst damit ist das innerste Geheimnis von Weihnachten angesprochen, dass Gott selbst Mensch geworden ist und dass er ganz Mensch geworden ist, ohne dabei sein Gottsein aufzugeben. Gott bleibt vielmehr ganz Gott und wird zugleich ganz Mensch: Dies ist der tiefste Sinn und somit das große Geheimnis der Weihnacht, das wir nicht genug bestaunen und für das wir nicht genug dankbar sein können.

Menschwerdung Gottes als Kind

Dazu gehört, dass wir dessen ansichtig werden, dass Gott ganz konkret Mensch geworden ist, nämlich als Kind. Jesus Christus, der ewige Sohn Gottes, wird Kind, um in unsere Welt zu kommen. Denn wenn er Mensch werden will, dann will er offensichtlich nicht nur ein bisschen, sondern ganz Mensch werden und alle Dimensionen des Menschseins – außer der Sünde - annehmen. Er wird ganz konkret Mensch – als Kind. Gott ist nicht nur in diesem Kind in Bethlehem, sondern geradezu als dieses Kind Mensch geworden. Er hat sich in ihm nicht nur gezeigt, sondern ist selbst Fleisch geworden. Nicht bloß geistige Inspiration, sondern fleischliche Inkarnation ist die Herzmitte des christlichen Weihnachtsfestes.

Hier leuchtet der tiefste Grund dafür auf, dass Weihnachten wie kein anderes Fest von einer warmen Freude geprägt ist, wie sie vor allem der heilige Franz von Assisi erfahren und bezeugt hat. Er hat Weihnachten vor allem wegen seiner kindlichen Wärme mehr als jedes andere Fest geliebt und gefeiert, und zwar „mit einer nicht zu beschreibenden Freude“, wie Thomas von Celano, sein erster Biograph, überliefert: „Er sagte, dies sei das Fest der Feste, denn an diesem Tag ist Gott ein kleines Kind geworden und hat Milch gesaugt wie alle Menschenkinder. Franz umarmte – mit welcher Zärtlichkeit und Hingebung! – die Bilder, die das Kind darstellten, und sammelte voller Mitleid wie die Kinder Worte der Zärtlichkeit. Der Name Jesus war auf seinen Lippen wie Honig.“ 

Weihnachten bringt uns am deutlichsten nahe, wer Gott ist. In einem schutz- und wehrlosen Kind ist Gott Mensch geworden; und er hat diesen Weg gewählt, damit wir erkennen können, wie Gott ist: Der lebendige Gott ist nirgendwo herrlicher als im demütigen Ausgeliefertsein eines neugeborenen Kindes. Gott ist nirgendwo stärker als in seiner in einem auf Hilfe und Liebe angewiesenen Kind ausgehaltenen Schwäche. Gott ist nirgendwo hilfsbereiter als in der Hilflosigkeit eines nach Geborgenheit suchenden Säuglings. Gott ist nirgendwo allmächtiger als in der frei gewählten Ohnmacht eines weinenden Neugeborenen. Gott ist nirgendwo göttlicher als in seiner zärtlichen Kindlichkeit. Ein kleines Kind – der ewige Gott: Das ist das grösste Wunder, das uns das Weihnachtsfest zumutet und das uns herausfordert, noch gründlicher danach zu bohren, warum Gott an Weihnachten den Weg der Kindwerdung gewählt hat. 

Aufsteigen des Menschen und Herabsteigen Gottes

Offensichtlich wollte es Gott in unserer Welt nicht besser haben als das schwächste Glied in unserer Gesellschaft, als das Kind. Denn Gott ist Mensch geworden in einer Welt, in der - damals wie heute - nicht die Kinder im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen, sondern die Starken und Mächtigen das Sagen haben und siegen. Diese trostlose Wahrheit der Weltgeschichte hat Papst Benedikt XVI. einmal schonungslos mit den anschaulichen Worten ausgedrückt: „Kaiphas und Pilatus waren stärker als Jesus, Nero stärker als Petrus und Paulus, Trajan stärker als Ignatius von Antiochien, Marc Aurel stärker als Polykarp und so die ganze Geschichte hindurch.“ Dies ist die bittere Wahrheit der Weltgeschichte – auch heute. 

Weil Gott Mensch geworden ist in einer Welt, in der wir Menschen stets hoch hinaus und deshalb aufsteigen wollen, hat Gott den umgekehrten Weg gewählt, auf dem er herabgestiegen ist. Gott, der Schöpfer der Welt, ist herabgestiegen in das Gegenüber seiner Schöpfung; und in seinem Sohn Jesus Christus ist Gott sein eigenes Geschöpf geworden, indem er in unsere menschliche Natur herabgestiegen ist. Indem Jesus sich im Jordan hat taufen lassen, ist er, der Sündenlose, herabgestiegen und hat sich in die Schar der Sünder eingereiht. In seinem irdischen Leben ist er herabgestiegen und hat sich zu denen heruntergebeugt, die von Krankheiten an Leib und Seele geplagt sind, und er hat sich den verirrten Schafen zugewendet. Vollends am Kreuz ist er ins Leiden der Menschen herabgestiegen und sogar in die scheinbare Ausweglosigkeit der Verzweiflung, wie wir im Apostolischen Credo bekennen: „hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Am Kreuz ist der Weg vollendet worden, der in der Krippe begonnen hat, so dass schon an Weihnachten sichtbar ist, dass Krippe und Kreuz aus dem gleichen Holz gebaut sind.

Herabsteigen ist die Grundbewegung Gottes, die aber kein anders Ziel hat als die Erhebung von uns Menschen aus unserem Elend zur Wiederherstellung unserer wahren Würde. Da wir Menschen aufgrund unserer erbsündlichen Verfassung stets hoch hinaus wollen und, um zur Gottähnlichkeit aufzusteigen, sogar unsere Menschlichkeit verraten und verlassen, ist Gott in seinem Sohn in unser Fleisch herabgestiegen und hat uns unsere verlassene und verratene Menschlichkeit wieder zurückgebracht. In diesem wunderbaren Tausch besteht das schönste Weihnachtsgeschenk, das Gott uns macht und das der heilige Papst Leo der Große mit dem tiefen Wort zum Ausdruck gebracht hat: „Der Sohn Gottes… hat sich mit uns vereint und hat uns so mit sich vereint, dass der Abstieg Gottes zum menschlichen Dasein zum Aufstieg des Menschen zur Höhe Gottes wurde.“ Indem Christus in unsere Natur heruntergestiegen ist und sich klein gemacht hat wie ein Kind, werden wir Menschenkinder erhöht und groß gemacht.

Gottes Liebe als innerstes Motiv seiner Menschwerdung

Wenn wir das Weihnachtsgeschenk des wunderbaren Tausches in unser Herz eindringen lassen, dann stossen wir auf den tiefsten Grund dafür, dass Gott an Weihnachten ein Kind werden wollte. Denn er wollte in unserer Welt ein Lebewesen sein, das angewiesen ist auf die bergende Liebe von uns Menschen. Er wollte ein Angewiesener werden, um in dieser elementaren Bedürftigkeit in uns Menschen Liebe und Zuneigung zu ihm erwecken, und zwar als unsere Antwort auf seine Liebe, die er uns zuerst geschenkt hat. 

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Weihnachten spricht uns die schöne Botschaft zu, dass der tiefste und letzte Grund der Menschwerdung Gottes und damit der Sinn unseres menschlichen Lebens in seiner Liebe zu uns Menschen besteht. Diese weihnachtliche Kernbotschaft hat der heilige Augustinus mit den Worten zum Ausdruck gebracht: „Christus (ist) hauptsächlich deshalb auf die Welt gekommen, damit der Mensch erkenne, wie sehr ihn Gott liebt und damit er es darum erkenne, damit er selbst den recht innig wieder liebe, von dem er zuerst geliebt worden ist und damit er auch den Nächsten liebe.“ Weihnachten bringt es ans Tageslicht, dass Gott, dem wir in der Krippe in Bethlehem begegnen, als Gott offenbar ist, der schlechthin Liebe ist, und dass die Frohe Botschaft von Weihnachten in ihrem innersten Kern eine Botschaft der Liebe ist. 

Diese Liebe schenkt uns Christus in jeder Feier der Eucharistie, in der er zu uns herniedersteigt und sich in der Gestalt der Hostie so klein macht wie im Kind in der Krippe. Wie sich Gott an Weihnachten im kleinen Kind in der Krippe offenbart hat. so schenkt Christus sich selbst uns in der unscheinbaren Gestalt der Hostie, in einem kleinen Stücklein Brot. Die Eucharistie ist das neue Bethlehem, das genau übersetzt „Haus der Brotes“ heisst. Jedes Mal, wenn wir die Heilige Eucharistie feiern, ereignet sich wieder neu Weihnachten.

Wenn wir diese Liebe Gottes auf uns wirken lassen, dann kann unsere Konsequenz nur darin bestehen, dass wir Menschen nicht weiterhin aufsteigen wollen, sondern uns die Bewegungsrichtung Gottes aneignen, nämlich das Heruntersteigen. So hat es Jesus seinen Jüngern nahegebracht. Als sie ihn gefragt haben, wer unter ihnen wohl der Grösste sei, hat er ein Kind in ihre Mitte gestellt und gesagt: „Wer der Grösste sein will, soll der Diener sein.“ Der Jüngling, der hoch hinauswollte und deshalb Jesus fragte, was ihm denn noch fehle, hat Jesus zur Antwort gegeben, ihm fehle genau dies, dass er vom Sockel seines Besitzes herabsteige und zu teilen lerne. Und selbst Petrus musste diese Lektion lernen, als Christus sich vor ihm niedergebeugt und ihm die Füsse gewaschen hat.

Was Weihnachten uns zumutet, sehe ich am deutlichsten konkretisiert in der Gestalt des Zachäus in Jericho, von dem es im Evangelium heisst, er sei auf einen Baum gestiegen, um Jesus zu sehen. Jesus jedoch hat ihm zugerufen, er solle herabsteigen. Denn wenn er etwas von ihm sehen wolle, dann müsse er herab- und gerade nicht hinaufsteigen. Dies ist die Bewegungsrichtung, die Gott an Weihnachten vollzogen hat und die er denen zumutet, die ihm in der Krippe von Bethlehem begegnen: Sie zeichnen sich nicht durch menschlichen und allzumenschlichen Hoch-Mut aus, sondern durch göttliche Demut, weil sie jene Liebe Gottes ausstrahlen, mit der sie an Weihnachten berührt und beschenkt worden sind. 

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung.

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