1. April 2023
Das verbrecherische System des Dritten Reiches war ein Kulturbruch, der Deutschland aus der Weltgemeinschaft herauskatapultiert hatte. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, der großen Philosophen, war zum Paria der Welt geworden, zum ausgestoßenen Etwas. Ein Signum dieses Schicksals schien im Morgenthau-Plan auf, der Deutschland nie wieder einen Platz in der Weltgemeinschaft zuweisen wollte. Deutschland habe – das war die erste Rache der Sieger – ob der Untaten in seiner jüngsten Vergangenheit das Recht verloren, als gleichberechtigter Staat zu existieren. Doch nach dem anfänglichen Rausch des Sieges gab es auch Stimmen, die sich der bedeutenden kulturellen und geistigen Tradition Deutschlands erinnerten und deshalb nicht wahrhaben wollten, dass diese für immer verschüttet bleiben sollte. Es gab Denker, die fest an das Gute im Menschen glaubten und die nicht einsehen wollten, dass alles schlecht in Deutschland ist. Diese wollten an die lange geistige Tradition und an den Geist der Deutschen anknüpfen, die ja, besonders in der inneren und äußeren Emigration während der Zeit der Dunkelheit, nicht aufgehört hatten zu existieren. Diese Intellektuellen konnten nicht einsehen, dass alles, was Deutschland groß gemacht hatte, tot sein sollte – vernichtet für immer.
Einer dieser Personen, die an die aus der Vergangenheit abgeleitete Zukunft Deutschlands glaubten, war Max Tau, der erste Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels – derjenige Jude, der seinem geliebten Heimatland entsagen musste, um überleben und dann von Norwegen aus sein Versöhnungswerk mit Deutschland beginnen zu können. Robert von Lucius, ein ehemaliger Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, lernte Tau schon als Kind in Norwegen kennen, wo sein Vater nach dem Krieg auf diplomatischem Posten war und die wegweisenden Intentionen Taus erkannte. Das Vehikel, auf das Tau setzte, war die Literatur, war die schriftstellerische Kultur dieser beiden Sphären, der deutschen und der nordisch-norwegischen. So konnte Tau als Literaturvermittler die unsichtbaren und die sichtbaren Grenzen transzendieren. Dadurch half er Deutschland, dem oktroyierten Stadium des Parias zu entsagen und allmählich wieder ein vollwertiges Mitglied der Weltgemeinschaft zu werden.
Lucius zeichnet die von Max Tau begangenen verschlungenen Pfade nach – den langen und nicht gradlinigen Weg von seiner Geburtsstadt Beuthen in Schlesien nach Oslo. Schon früh galt Tau als hochbegabt, doch er wählte – per aspera ad astra – einen Umweg, um zum Ziel zu gelangen. Ein Arzt riet den Eltern ab, den Sohn auf eine höhere Schule zu schicken, da er körperlich nicht den Anstrengungen gewachsen sein dürfte. Also trat er einem Fußballverein bei, wurde ein in Oberschlesien bekannter Spieler und blieb dieser Passion bis ins hohe Alter treu. Während seiner Lehrzeit in Breslau las er viel, was in ihm den Wunsch weckte, sich akademisch mit der Literatur zu beschäftigen. Er riss deshalb nach Posen aus, hörte Vorlesungen über Literatur und fiel einem der Professoren auf. Dieser empfahl ihm, Literatur zu studieren, doch konnte er nicht zum Studium zugelassen werden, da ihm das Abitur fehlte. In Berlin holte er als Zwanzigjähriger die Reifeprüfung nach und konnte dann dort endlich Literaturwissenschaften, Philosophie, Kunstgeschichte und Psychologie studieren, wobei er den Schwerpunkt auf nordische und norwegische Literatur legte. Er veröffentlichte nebenbei Aufsätze und brachte sogar schon Bücher heraus. In Hamburg schloss er das Studium ab, um dann in Kiel zu promovieren.
Nach der Promotion ging er zurück nach Berlin und trat als Lektor in den Verlag von Bruno Cassirer ein. In dieser Position eröffneten sich ihm viele Verbindungen mit Literaten, die er förderte und oft zu großer Bekanntheit führte. Allerdings hatten inzwischen die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, was Tau vor große Schwierigkeiten stellte. Doch er blieb vorerst in Deutschland, um sein segensreiches Werk fortzusetzen. Am 22. Dezember 1938 jedoch erlaubte ihm Norwegen die Einreise. Schon am nächsten Tag verließ er Deutschland.
Schnell konnte er, der sich ja als Kenner und Vermittler der norwegischen Literatur einen Namen gemacht hatte, in seiner neuen Heimat Fuß fassen und weiter zwischen der deutschen und norwegischen Literatur vermitteln. Er hatte ein Händchen im Erkennen von außergewöhnlichen Begabungen, und dadurch stand er oft Pate am Beginn großer Karrieren. Als einmal eine „zarte und bescheidene Frau“, wie er in seinen Memoiren schrieb, sein Arbeitszimmer betrat und ihm ein paar Blätter mit Lyrik vorlegte, wusste er sofort, dass er etwas ganz Großes las. Später hat dann Nelly Sachs den Literaturnobelpreis erhalten.
Nachdem die Wehrmacht Norwegen erobert hatte, wurde die Judenverfolgung auch in diesem Land unerträglich. Tau war gezwungen, in das neutrale Land Schweden zu fliehen, wo er seine Tätigkeiten als Literaturvermittler fortführen und sogar einen eigenen Verlag gründen konnte.
Im Jahr 1944 erhielt er die norwegische Staatsangehörigkeit. Darüber hinaus konnte er die Norwegerin Tove Filseth heiraten. Obwohl er in Stockholm alles vorfand, was er benötigte, um Literatur vermitteln zu können, zog es ihn nach dem Krieg doch wieder zurück nach Oslo. Er konnte nicht verstehen, warum Deutschland in den Strudel des verbrecherischen Nationalsozialismus geraten konnte, er wollte jedoch nicht hassen, obwohl auch Verwandte von ihm umgebracht worden waren. Er wollte weiter Mittler zwischen der deutschen und norwegischen sowie nordischen Literatur bleiben. Diese Mittlerrolle wurde 1950 gekrönt durch die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Sein versöhnendes Werk wurde erkannt und mit vielen weiteren Preisen belohnt. Durch sein Wirken wurde der Welt aufgezeigt, dass Deutschland nicht in toto dem Nationalsozialismus verfallen war und dass es nicht verdient hat, für immer aus der Weltgemeinschaft der Staaten ausgestoßen zu bleiben. Tau beschrieb vor aller Welt das andere Deutschland, das bessere, dasjenige, das berechtigt war, nicht nur zu existieren, sondern auch als Partner und Freund anderer Staaten würdig zu sein. Er war einer der allerersten Intellektuellen, der sich gegen die These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes wandte und für eine Verständigung eintrat.
Die Bereitschaft der Versöhnung erkennt Lucius nicht nur in der konfessionellen Toleranz, sondern auch in der deutsch-jüdischen Symbiose, die für Tau konstituierend gewesen ist. Deutschland und das Judentum gehören zusammen – seit Jahrhunderten. Beide haben sich gegenseitig befruchtet, beide haben daran gearbeitet, den „Geist“ zur Grundlage einer Kultur werden zu lassen, den viele andere Staaten und Gesellschaften übernommen haben.
Wir können dem Autor Robert von Lucius dankbar sein, Max Tau aus der Geschichte wieder in die Gegenwart zurückgeholt und den Nachgeborenen eine Persönlichkeit in Erinnerung gerufen zu haben, die am Anfang unseres modernen Staatswesens eine prägende und entscheidende Rolle gespielt hat. Die kleine Miniatur, die auch manch persönliche Erinnerung an Max Tau enthält, ist all jenen zu empfehlen, die wissen, dass die Zukunft nur gestaltet werden kann, wenn man die Geschichte kennt – die leidvolle und verwerfliche, aber auch die vom Bösen befreiende, Zukunft eröffnende.
Robert von Lucius: Max Tau. Schildknappe der Literatur – Erster Friedenspreisträger; Hentrich & Hentrich; 88 Seiten; ISBN: 978-3-95565-595-2; 8,90 Euro
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