29. März 2024
Ohne ihn gäbe es kein Ostern, keine Kreuzigung und keine Auferstehung. Gemeint ist Pontius Pilatus, der Statthalter von Judäa, der innerhalb des österlichen Geschehens, des Leidens Christi und seinen Tod am Kreuz eine zentrale Rolle spielte. Doch welche war die genau? War er ein Werkzeug Gottes? Oder schlicht ein politischer Opportunist als Vertreter der kaiserlichen Macht in einem winzigen Landstrich der Levante, bewohnt von einem eigenwilligen und zuweilen grausam eifernden Volk, dessen Gebaren ihn als römischer Soldat des öfteren befremdet haben mag? Das Verwaltungsgebiet Judäa, welches damals neben Judäa zudem noch aus Samaria und Idumäa im Süden zwischen Mittelmeer und Totem Meer bestand, war beinahe deckungsgleich mit dem Gebiet, in dem Jesus Christus umherwanderte, verkündete und Wundertaten vollbrachte.
Womöglich ist der Statthalter von Judäa aber auch ein beherzter Mann gewesen, der in dem diplomatischen Rahmen, in dem er eingebunden war, seinen Spielraum auszunutzen wusste, um alles zu versuchen, was von seiner Seite aus möglich war, um das Leben Jesu doch noch zu retten: Etwa als er die Menge befragt, welchen Verbrecher er freilassen solle, wozu das Matthäusevangelium eigens anmerkt: „Er wusste nämlich, dass man Jesus nur aus Neid an ihn ausgeliefert hatte“ (Mt 27,18).
Der direkt darauf folgende Vers ist besonders ungewöhnlich und enthält eine wichtige Hintergrundinformation zum Privatleben des Pilatus. Wir kommen gleich noch einmal darauf zurück. Dass die Rolle des Präfekten von Judäa in der Passionsgeschichte Jesu nicht gar so ungnädig beurteilt werden sollte, darauf weist uns insbesondere auch das Evangelium nach Lukas hin, Kapitel 23, 13 bis 16.
Vermutlich stammt Pilatus aus Mittelitalien, den Abruzzen oder auch Umbrien und hatte entweder als Centurio oder als Tribun am Rhein oder an der Donau dem Reich gedient – dies war in den allermeisten Fällen die Voraussetzung, ein Präfektenamt zu erhalten. Tacitus bezeichnet Pilatus zwar - um das Jahr 100 – als Prokurator, doch tatsächlich hatte er das Amt des Statthalters, also des Präfekten, mit Amtssitz in Caesarea und als Oberbefehlshaber von etwa 3.500 Soldaten der Kavallerie und Infanterie seit dem Jahre 26 bis zum Jahre 37 inne. Er hatte einen Leuchtturm und ein Äquadukt errichten lassen, sorgte sich also um eine gewisse Infrastruktur seines Verwaltungsgebietes. Dass er dazu noch ein Privatleben besaß und verheiratet war, ja seine Frau ihn sogar nach Judäa begleitet hatte, erfahren wir einzig und allein aus einer fast winzigen, aber dafür um so geheimnisvolleren Passage im Matthäusevangelium, die sich nur dort findet: "Während Pilatus auf dem Richterstuhl saß, ließ ihm seine Frau sagen: Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig. Ich hatte seinetwegen heute Nacht einen schrecklichen Traum" (Mt 27,19).
Mehr erfahren wir nicht: Weder ihren Namen noch den konkreten Inhalt ihres Traumes, in dem es allerdings um Jesus von Nazareth gegangen sein muss. Gerade deshalb aber wurden Schriftsteller und bildende Künstler durch die Jahrhunderte hinweg von diesem einzigen Vers zutiefst inspiriert. Die Überlieferung der kirchlichen Traditionen, vor allem der Ostkirche, kennt sogar den Namen dieser Frau – Claudia Prokula habe sie geheißen, von vornehmer Abkunft sei sie, ja sie sei sogar mit dem damals amtierenden Kaiser Tiberius verwandt gewesen. Die wohl berühmteste Darstellung der von Matthäus geschilderten Szene findet sich auf einem Tafelbild in der Wiener Schottenkirche, das um 1469 entstanden sein soll.
Die Kirchenväter waren sich uneins in der Bewertung dieses – letztlich folgenlosen - Eingriffs einer Frau in das Passionsgeschehen. Johannes Chrysostomus glaubte genau wie Ambrosius von Mailand, oder aber auch in jüngerer Zeit Calvin, daran, dass Claudias Traum von Gott gesandt worden sei. Dagegen waren Beda Venerabilis, Anselm von Laon und auch Martin Luther davon überzeugt, dass er nicht von Gott gekommen sein könne, sondern vom Satan, der das Heilgeschehen habe aufhalten beziehungsweise verhindern wollte – der ewige Feind habe sich eines Weibes bedient, um die Erlösung zu verhindern. Dagegen könnte allerdings sprechen, dass sämtliche Träume, die im Matthäusevangelium erwähnt werden - wie etwa die beiden Träume des heiligen Josef - stets von Gott und seinen Engeln geschickt wurden. Die katholische Schriftstellerin Gertrud von le Fort hat sich von der Überlieferung zu ihrer Erzählung „Die Frau des Pilatus“ inspirieren lassen, in der Claudia Procula durch zahllose sakralen Bauten aller künftigen Jahrhunderte wandert und dabei immer wieder und wieder die Passage aus dem Credo erschallen hört: „Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben“. Zurückgekehrt nach Rom schließt sie sich den Christen an, ihr Mann muss dabei zusehen, wie sie im Circus den Märtyrertod stirbt – letztlich die Bluttaufe erhält.
Es gibt eine weitere literarische Bearbeitung des Traums der Claudia Procula, die nicht ganz so bekannt ist wie die Erzählung der wunderbaren Gertrud von le Fort - dabei mit noch eindrücklicheren Bildern: Sie findet sich in dem Kranz von elf "Christuslegenden", den uns Selma Lagerlöf, der als erster Frau überhaupt im Jahre 1909 den Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, geflochten hat. Unter diesen hochpoetischen Legenden, die zumeist auf apokryphen Überlieferungen fußen, findet sich auch eine Bearbeitung des Motivs des Schweißtuchs der Veronika mit dem gleichnamigen Titel, das ihre Kollegin von le Fort einige Jahrzehnte später ebenfalls inspiriert hat. Die Greisin Faustina, die mittlerweile fast neunzig Jahre alte, ehemalige Amme des Kaisers Tiberius, ist der einzige verbliebene Mensch, auf den der grausame und hasserfüllt gewordene Mann noch hört, die er liebte wie eine zweite Mutter. Doch nun ist sie in die Sabiner Berge in die Hütte zurückgekehrt, in der sie einst geboren wurde, und somit ist niemand mehr im Palast auf Capri, der ihn noch zurückhalten kann, wenn Misstrauen und Menschenhass ihn überkommen. So schlecht steht es um des Kaisers Seele, dass selbst die Römer aufgegeben haben, für ihn in seinem besonderen kleinen Tempel zu beten. Ein grauenvoller Aussatz habe Tiberius befallen, der ihm die Finger und Zehen verfaulen lasse und ihn völlig entstelle.
Ohne zu zögern und trotz ihres hohen Alters macht sich des Kaisers ehemaliges Kindermädchen auf den Weg nach Jerusalem, um nach dem Propheten aus Nazareth zu suchen, von dem man ihr berichtet hat, dass er mit Gottes Vollmacht Aussätzige von der Krankheit befreien und ihr Aussehen vollständig wiederherstellen kann. Doch sie trifft dort zu spät ein - Jesus Christus befindet sich bereits auf seinem Weg nach Golgatha. Sie kommt hinzu, als er auf der Via Dolorosa fällt und sie trocknet ihm mit ihrem Schleier den Schweiß, wischt notdürftig das Blut aus seinem Antlitz. Sie wird mit diesem Schweißtuch, dem Schleier, der jetzt auf wunderbare Art ein genaues Abbild von Jesus Christus trägt, nach Rom zurückkehren, den Kaiser heilen und auf den Namen Veronika getauft werden. Im letzten Drittel der Erzählung hat Selma Lagerlöf den Traum der Claudia Procula eingefügt und mit dichterischer Einfühlsamkeit beschrieben, was dessen Inhalt gewesen sein könnte: Die junge Frau des römischen Landpflegers Pilatus steht auf dem Dach ihres Hauses und schaut in den Hof hinunter, wo sie alle Kranken, Blinden, Lahmen, Pestkranken, Aussätzigen und Siechen der ganzen Welt versammelt sieht. Sie sprechen zu ihr: "Wir suchen den großen Propheten, den Gott zur Erde hinab gesandt hat. Wo ist der Prophet von Nazareth, er, der über alle Pein Macht hat? Wo ist er, der uns von allen unseren Leiden zu erlösen vermag?" Claudia hört einen ihrer Sklaven antworten:"Pilatus hat ihn getötet". Die Kranken heulen und klagen ob dieser Antwort. Claudia ist darüber so verstört, dass sie zu weinen beginnt und davon aufwacht. Als sie wieder einschläft, setzt sich der Traum fort. Diesmal ist der Hof voller Wahnsinniger, Geisteskranker und Besessener. Sie flehen, dass der Prophet von Nazareth ihnen ihren Verstand wiedergeben möge. Doch sie erhalten dieselbe Antwort, reagieren darauf mit einem Geheul wie von wilden Tieren und fangen an, sich selbst zu zerfleischen. Claudia möchte nicht mehr schlafen, aber der unheilvolle Traum setzt sich weiter fort. In der nächsten Sequenz haben sich alle Gefangenen, Zwangsarbeiter in den Bergwerken, Galeerensklaven, zum Tode durch Hinrichtung Verurteilten in ihrem Hof versammelt und flehen darum, dass Jesus ihnen die Freiheit und den Sklaven das Glück wiedergeben möge. Auch ihnen wird beschieden, dass ihr Anliegen unmöglich sei, denn Pilatus habe Jesus getötet, worauf die Gequälten in einen solchen Wutausbruch verfallen, "dass Himmel und Erde erbebten." Die verzweifelte Claudia erwacht unter Tränen, kann aber nichts dagegen unternehmen, dass der Schlaf mitsamt der nächsten Traumsequenz sie heimsucht. Diesmal sieht sie auf ihrem Hof alle Menschen, die jemals in Kriegen verwundet und verstümmelt worden waren. Mit offenen, blutenden Wunden stehen sie vor ihr, gemeinsam mit all jenen, die in Kriegen ihre Väter, Söhne, Brüder und Enkel verloren haben. Sie fragen nach jenem Propheten aus Nazareth, der Frieden auf die Erde bringen wird, der die Schwerter zu Sensen und die Speere zu Winzermessern umschmieden wird. Sie erhalten von dem mittlerweile ungeduldig gewordenen Sklaven die selbe Antwort wie alle anderen. Claudia will den Jammer der Menschen nicht mehr mitanhören, stürzt von der Balustrade fort, erwacht zur gleichen Zeit und bemerkt, dass sie vor Angst aus dem Bett gesprungen war. Doch wiederum übermannt sie der Schlaf und es folgt die letzte der schrecklichen Traumsequenzen dieser einen Nacht: Diesmal steht der Kaiser Tiberius selbst vor der Pforte, unmenschlich entstellt und nur an seiner Kleidung und seinem Gefolge zu erkennen. Er bittet - dieses Motiv ist kongruent zur Rahmenerzählung um die kaiserliche Amme Faustina - um Heilung durch den Propheten und Heiler aus Nazareth und verspricht dafür Unmengen von Geschmeide, Schalen mit Perlen und Säcke mit Goldmünzen, die Herrschaft über Judäa, die römische Kaiserherrschaft als sein Adoptivsohn. Doch selbst dem Cäsar Tiberius muss der Sklave der Procula und ihres Mannes, dieses Mal auf Knien, mitteilen, dass Pontius Pilatus ihn getötet habe. Nun erwacht Claudia erneut und erwacht erst am nächsten Tag - dem Tag des Verhörs Jesu und seiner Kreuzigung. Eilends lässt sie eine Botschaft an ihren Mann senden, doch sie kann die Verurteilung Jesu nicht verhindern – Pilatus seinerseits wäscht darauf hin in aller Öffentlichkeit seine Hände, an denen nicht das Blut eines Unschuldigen kleben soll (Mt 27,24).
Von Tertullian, der um 220 gestorben ist, wissen wir, dass Pilatus später Christ wurde, als ein Zeuge der Unschuld Christi. Andere Überlieferungen sprechen von einem Selbstmord in Vienne im Jahr 39. Dass Claudia sich den Christen anschloss und Pontius Pilatus sich später taufen ließ, ist allerdings nicht ganz unwahrscheinlich. Tatsächlich ist zumindest Claudia in den orthodoxen Heiligenkalender aufgenommen worden.
Zuerst veröffentlicht im Vatican-Magazin.