21. April 2024
Wo steht die Lebensschutz-Bewegung in Deutschland – und was kommt demnächst auf sie zu? CNA Deutsch sprach mit der Vorsitzenden des Bundesverbands Lebensrecht, Alexandra Linder, die auch einen Blick über den deutschen Tellerrand hinauswarf.
Der neue Bericht der „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ umfasst 628 Seiten. Warum ist der Bericht so lang – ist das Thema vorgeburtliche Kindstötung nicht eigentlich glasklar?
Es ging in diesem Bericht um die aktuelle Gesetzeslage, die Situation von Frauen, den Vergleich mit anderen Staaten und rechtliche Bewertungen. Von den zwei Gruppen dieser Kommission hat die erste sich auf 421 Seiten mit einer möglichen Neuregelung des § 218 außerhalb des Strafgesetzbuches beschäftigt, die zweite Gruppe behandelte Eizellspende und die sogenannte Leihmutterschaft.
Eigentlich ist das Thema natürlich glasklar, wie Sie sagen. Die Kommission sollte jedoch auf Grundlage unseres Gesetzes versuchen, zwischen dem Lebensrecht des Kindes und dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter einen Kompromiss außerhalb des Strafgesetzes zu finden, der beidem gerecht wird. Für ein solches Versuchs-Konstrukt braucht man viel Papier.
Sie haben an anderer Stelle auf eine „einseitige Besetzung der Kommission“ verwiesen. Woran machen Sie das fest?
Einige wenige haben eine objektive Haltung – was sich auch daran zeigt, dass es ein Kapitel mit abweichenden Meinungen einiger Mitglieder der Kommission gibt –, andere kommen eindeutig aus dem einseitig ausgerichteten Pro Familia-Bereich, zum Beispiel die ehemalige Bundesvorsitzende dieser Organisation, oder haben sich klar für Abtreibung positioniert. Dagegen war niemand berufen, der eine dezidiert lebensbejahende Haltung bei Abtreibung hat. Die Absicht war bereits bei der Ankündigung von Familienministerin Paus zu erkennen, die das Ergebnis, Abtreibung gehöre nicht ins Strafrecht, praktisch vorgegeben hat.
Die Kommission gesteht den ungeborenen Kindern stufenweise mehr Menschenwürde zu. Inwiefern ist diese Sicht der Dinge problematisch?
Menschenwürde ist inhärent, das heißt, sie kommt dem Menschen allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gattung Mensch vom Beginn seiner Existenz an bis zum Tod zu und wird auch noch danach gewahrt, indem man Verstorbene würdig behandelt und bestattet. Menschenwürde kann weder zugeteilt noch abgesprochen werden.
Laut den Empfehlungen der Kommission soll Menschen in den ersten Wochen ihrer Existenz diese Menschenwürde mit den damit verbundenen Rechten gesetzlich genommen werden. Menschenwürde wird damit vor der Geburt abhängig vom Alter des Kindes zugeteilt oder abgesprochen, wofür es weder eine ethische Grundlage noch eine wissenschaftliche Begründung gibt. Es ist schlicht willkürlich. Die Gesetzeslage war, das sollte man nicht vergessen, ohnehin schon faktisch mit einem abgestuften Menschenwürdekonzept verknüpft, was man dadurch zu regulieren versuchte, dass es eine Beratungspflicht gibt und Abtreibung eine Ausnahme bleiben sollte. Das hat nicht funktioniert.
Eigentlich müsste man jetzt angesichts der Zahlen und der Lage der Frauen im Konflikt einen ganz anderen Weg gehen als flächendeckende, legalisierte Abtreibung zu fordern: Prüfung des Gesetzes, vollständige Statistik, Qualitätsprüfung der Schein-Beratungsstellen, deutliche Ausweitung der Beratung und Hilfen, striktere Regulierung. Denn es kann ja kein Staatsziel, kein menschliches oder gesellschaftliches Ziel sein, noch mehr Abtreibung zu haben. Und eine weitere Gefahr einer solchen Abstufung: Genauso willkürlich könnte man künftig auch anderen Menschen die Menschenwürde absprechen wollen.
Das letzte Wort ist mit den Empfehlungen der Kommission nicht gesprochen. Familienministerin Paus sprach von einem „nun notwendigen offenen und faktenbasierten Diskurs“, Gesundheitsminister Lauterbach forderte „einen breiten gesellschaftlichen und natürlich auch parlamentarischen Konsens“, und Justizminister Buschmann verwies auf „das Verantwortungsbewusstsein für den sozialen Frieden in unserem Land“. Wie werden die Lebensschützer in den nächsten Wochen und Monaten arbeiten?
Wir treten seit über 40 Jahren friedlich und sachlich dafür ein, dass Menschen, die ihre Grundrechte selbst noch nicht, momentan nicht, nicht mehr oder gar nicht einfordern und ausüben können, geschützt werden. Das gilt für vorgeburtliche Kinder genauso wie für Menschen in suizidalen Lebenslagen, in schwierigen Situationen wie Schwangerschaftskonflikten, am Lebensende etc. Das Angebot, einen Menschen aufgrund einer besonderen Lebenslage zu töten oder töten zu lassen, ist eine Kapitulation vor lösbaren Problemen und eine schwere Verletzung der Menschenwürde.
Im internationalen Vergleich ist Deutschland im Übrigen noch nicht so schlecht aufgestellt wie viele andere Staaten. Statt mit der Legalisierung von Abtreibung, Leihmutterschaft oder assistiertem Suizid, was angesichts der verheerenden nachfolgenden Entwicklung ohnehin unverständlich ist, nachzuziehen, könnte man auch ein Vorbild für Lebensalternativen und Lebensoasen werden. Unsere Organisationen verstärken ihre Arbeit und ihre Hilfsangebote weiter.
Aus den Reihen der deutschen Bischöfe bzw. aus Einrichtungen, die von der Kirchensteuer finanziert werden, hört man inzwischen regelmäßig Kritik an einer angeblichen Vermischung von Lebensschutz und einer rechten politischen Ausrichtung – aber natürlich auch von anderer Stelle. Halten Sie dies für gerechtfertigt?
Wenn mit rechts inhaltlich gemeint ist, dass es um Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und ähnliches geht: definitiv nein. Ein Lebensrechtler tritt für die Menschenwürde und damit den Lebensschutz jedes Menschen weltweit ein. Er kann damit überhaupt keine politische Ausrichtung haben, die irgendeinem Menschen seine Menschenwürde absprechen will.
Umgekehrt würde ich diese Kritiker gern fragen, warum sie sich nicht auch von linken politischen Ausrichtungen distanzieren, die Kindern vor der Geburt die Menschenwürde teilweise vollständig absprechen wollen und Organisationen wie die International Planned Parenthood Federation, den Dachverband von Pro Familia, unterstützen, die dies vor allem in afrikanischen und asiatischen Staaten vorantreiben.
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Zuletzt hat es beim Münchner Marsch fürs Leben tätliche Übergriffe auf friedliche Lebensschützer gegeben. Der Bundesverband Lebensrecht veranstaltet den Marsch in der Bundeshauptstadt Berlin sowie parallel einen weiteren Marsch in Köln. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht? Was erwarten Sie für die Zukunft?
Der Berliner Marsch für das Leben kennt diese Gewalt seit vielen Jahren. Die Polizei ist darauf eingestellt, so dass unsere Teilnehmer dort sehr gut geschützt sind. In Köln, wo wir im letzten Jahr zum ersten Mal parallel einen Marsch veranstaltet haben, wurde die Lage von den örtlichen Zuständigen unterschätzt; es kam zu großer Gewalt, zu Vandalismus, körperlichen Angriffen, am Tag vorher gab es eine Aufforderung der Kölner Oberbürgermeisterin, sich uns in den Weg zu stellen. Dieses Jahr wird sich die Polizei entsprechend darauf vorbereiten und unsere Teilnehmer schützen.
Die Aggressionen und Angriffe gegen Mitgliedsvereine im Bundesverband Lebensrecht, befeuert durch diffamierende, sachlich falsche Berichterstattung über unsere Arbeit und Organisationen, werden massiv stärker und gehen inzwischen auch auf die persönliche Ebene. Wir sind durch unsere stetige Sacharbeit in vielen Bereichen sehr präsent und offenbar gefährlich. Gewalt, Drohung, Diffamierung oder ähnliches gibt es in keiner Weise seitens des BVL und seiner Mitgliedsorganisationen, sondern ausschließlich von der Gegenseite. Wir erwarten, dass das noch eine Zeitlang so weitergeht, bis wir – frei nach den Eskalationsstufen von Gandhi – unsere Lebensrechtsziele hoffentlich erreicht haben.
Auf der Ebene der Europäischen Union gibt es Bestrebungen, ein sogenanntes „Recht auf Abtreibung“ als Grundrecht festzulegen, wobei die bisherigen Vorstöße allesamt nicht bindend waren. Wie schätzen Sie das ein?
Momentan ist es ein Wahlkampfgetöse im Hinblick auf die Europa-Wahlen im Juni und natürlich Angst davor, die momentane Meinungshoheit in bestimmten Gremien zu verlieren. Man sollte diese nicht bindenden Resolutionen aber auch nicht unterschätzen. Sie dienen immer wieder als Rechtfertigung für weitere ethische Aufweichungen auf nationaler und internationaler Ebene. So sollen laut einer EU-Verordnung aus dem letzten Herbst zum Umgang mit Substanzen menschlichen Ursprungs (SoHO) Embryonen, also vollständige Menschen, wie Zellen oder Gewebe behandelt und verwertet werden dürfen.
Abschließend noch ein globaler Blick: Die Lebensschutz-Bewegung ist in den USA besonders gut aufgestellt. Seit der Aufhebung des juristisch hochproblematischen Urteils Roe v. Wade nach rund 40 Jahren im Sommer 2022 gibt es aber auch viele Rückschläge. Analog scheint dies in anderen Teilen der Welt der Fall zu sein. Warum? Und wie geht es weiter?
Wichtig ist, die Thematik sachlich, ethisch und immer mit Blick auf die Betroffenen anzugehen. Ein reines Abtreibungsverbot mit Gefängnisstrafen für Frauen halte ich für falsch, weil die Erfahrung zeigt, dass es in solchen Staaten oft keine Hilfen gibt und die Frauen meistens unter Druck handeln – aber die wahren Verursacher zu ermitteln und zu bestrafen, ist natürlich schwierig. Meistens sind es übrigens Männer, was uns emanzipierte Frauen zusammen aktiv werden lassen sollte.
Die reine Legalisierung der Abtreibung ist falsch, weil Kinder vor der Geburt dieselben Menschenrechte haben wie danach. Weiterhin ist es falsch, dass man in manchen Staaten Frauen und Mädchen nach Vergewaltigung oder, wenn sie als Prostituierte arbeiten müssen, nur eine Abtreibung anbietet und sie dann in dieselbe Situation zurückschickt, statt ihre Lebenssituation zu verbessern.
Unser Ziel ist, dass Frauen wirklich emanzipiert leben und mitbestimmen können. Dazu gehören Bildung, Gesundheitsversorgung, Respekt. Abtreibung gehört nicht dazu und hat noch nirgendwo zur Emanzipation oder zu einem anderen Nutzen für Frauen beigetragen. Und wir haben das Ziel, dass in unseren vereinzelten bis vereinsamten Gesellschaften niemand über Abtreibung und assistierten Suizid nachdenken muss, weil wir eigentlich die besten Voraussetzungen für eine solidarische und nächstenliebende Gemeinschaft haben, auf die wir uns wieder besinnen sollten.