Der Aufstieg Chinas zur bereits weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft fordert die freie Welt heraus. Der Kölner Sozialethiker Elmar Nass gibt mit einem neuen Buch nicht nur tieferen Einblick in die Gedankenwelt der chinesischen Führung, sondern regt auch Strategien an, auf den Anspruch Chinas zu reagieren, wirtschaftliche, politische und militärische Weltmacht Nr. 1 zu werden.

Die Niederschlagung der demokratischen Bewegung in Hongkong verursachte hierzulande die jüngsten großen Negativ-Schlagzeilen über das mit 1,4 Milliarden Menschen bevölkerte Land im fernen Asien. Dass China philippinische Inseln gewaltsam besetzt und dort entgegen internationaler Vereinbarungen Militärbasen errichtet hat, ging offenbar an den meisten Deutschen vorbei. Sie vertrauen laut Umfragen den Chinesen in gleicher Weise wie den USA. Ein Irrtum, wie die Lektüre des neuen Buches von Elmar Nass zeigt. Es trägt den Titel „Der globale Puppenspieler. Die Vision des Xi Jinping und eine Antwort der Freiheit“.

Elmar Nass ist Lehrstuhlinhaber für Christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT), die vor einigen Jahren aus der Theologischen Hochschule der Steyler Missionare im benachbarten St. Augustin hervorgegangen ist. Am früheren KHKT-Standort befindet sich das China-Zentrum der Steyler Missionare, das katholische China-Experten in ganz Europa vernetzt und über die weltweit führende China-Bibliothek mit etwa 100.000 Exemplaren verfügt.

Diese Nähe könnte ein Auslöser für das Interesse von Elmar Nass an der Entwicklung jenes Landes sein, dessen atemberaubende Entwicklung viele Menschen neugierig macht. Der Kölner Sozialethiker hat bereits durch Vorträge und Veröffentlichungen seine China-Kenntnis unter Beweis gestellt. Im vergangenen Jahr erschien – ebenfalls im Kohlhammer Verlag – sein Buch „Ziele und Werte sozialistischer Marktwirtschaft. Chinas Wirtschaft aus ordnungsethischer Sicht“.

Es überrascht nicht, dass es laut Elmar Nass in China keine Presse-, Religions-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit gibt. Auch eine „demokratische Diktatur“, von der der Staatschef spricht, ist ein Widerspruch in sich.

Die „sozialistische Marktwirtschaft“ Chinas gründet auf den Fundamenten des Marxismus-Leninismus sowie der absoluten Herrschaft der kommunistischen Partei (KPCh) mit ihrem autoritären „überragenden Führer“ Xi Jinping, der weiterhin betont: „Der Marxismus ist und bleibt die Seele der Partei.“ Das Prinzip „Wandel durch Handel“, das auf ein Aufweichen und Nachgeben der Kommunisten durch den Austausch mit dem Kapitalismus hofft, funktioniert bei den Chinesen nicht, im Gegenteil: Beim Projekt der „Neuen Seidenstraße“ geraten immer mehr Länder in wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von China. Das betrifft sogar eine Reihe von EU-Staaten. Auch im Welthandel ist China nicht zimperlich. Es betreibt in hohem Maße Wirtschaftsspionage und verdrängt unliebsame Konkurrenz durch staatsfinanzierte Betriebe.

Aus Fehlern der Sowjetunion und anderer sozialistischer Länder hat China zumindest teilweise gelernt. Der Sozialismus ist nicht mehr starr-dogmatisch, sondern „ein fortlaufender Prozess mit ständigen Verbesserungen und Weiterentwicklungen“, so Nass. Die Partei öffnet sich für Neues, das nützt und passt. Vor allem schöpft China weiter aus der Tradition des Konfuzianismus. Dessen Ideale von Fleiß, Entfaltung der Talente, Tugend, Ehrlichkeit, Moral, Selbstvervollkommnung sowie Unterscheidung von Recht und Unrecht bleiben gültig. Staatspräsident Xi Jinping ist es außerdem gelungen, den Traum vom Wiederaufleben der großen chinesischen Nation in der Bevölkerung zu verankern. Nach den Demütigungen der vergangenen Jahrhunderte fällt die Vision, China in jeder Hinsicht autark zu machen, auf fruchtbaren Boden. „China will die Welt anführen mit der besten Ordnung“, verspricht der Staatspräsident.

Die Bürger müssen sich dazu in ein System einfügen, das die KPCh mit dem Bild eines Vogels im Käfig beschreibt, das bereits vor Jahrzehnten der ideologische Vordenker Chen Yun prägte: „Innerhalb des Käfigs kann der Vogel frei fliegen, wie er will.“ Die chinesische Wirtschaft sei der Vogel, der Käfig die Parteikontrolle. Das bedeutet: Freiheit in einem abgegrenzten Rahmen. Damit der Vogel nicht wegfliegt, bleibt der Käfig geschlossen. Ein Bild, das eine begrenzte Hoffnung erlaubt, deren Rahmen aber willkürlich bleibt.

Das System setzt auf Erziehung zum edlen, patriotischen Menschen, der seine Seele der Partei schenkt. Nass zitiert Staatschef Xi Jinping: „Lehrer sind Ingenieure der menschlichen Seele.“ Um tieferen Einblick in die Gedankenwelt der chinesischen Führung zu erhalten, durchkämmte der Autor 2.800 Seiten mit 400 Reden des Staatschefs.

Die Erziehung zum parteikonformen Menschen wird unterstützt durch eine umfassende Überwachung, perfektioniert mit einem Sozialkreditsystem, das durch künstliche Intelligenz (KI) gesteuert wird. Sozialverhalten und politische Zuverlässigkeit werden kontrolliert und bewertet. Was vermeintlich gut ist, wird autoritär vorgegeben. Eine gute Bilanz der Sozialpunkte verschafft nicht nur Annehmlichkeiten, sondern eröffnet Karrierechancen. Eine schlechte Bewertung verschließt ein Emporkommen. Eine Errungenschaft dieser Überwachung: Die Verkehrsdelikte haben abgenommen. Wer sich allerdings nicht konform umerziehen lassen will, wird als „Parasit“ diffamiert.

Natürlich ist das chinesische Modell auch brüchig: Es weist Unwahrheiten und Widersprüche auf, bleibt anfällig für Gier, Korruption und Machtmissbrauch. Insgesamt kommt das Land aber voran. Nass stellt deshalb die Frage: Wie reagiert die westliche Welt, also die Länder mit freiheitlich-demokratischem Menschen- und Gesellschaftsbild, auf die Herausforderung? Nass meint, man stehe „heute wieder an einem Scheideweg, vergleichbar mit Deutschland im Jahr 1952, als Adenauer programmatisch ausrief: ‚Es ist die Schicksalsfrage Deutschlands. Wir stehen vor der Wahl zwischen Sklaverei und Freiheit.‘“ Nass ist überzeugt: „Wir stehen vor einem Wettbewerb der Systeme, der ein Wettbewerb der Werte ist.“

Für welche Werte stehen wir eigentlich? Hier stellt Nass die westlichen und chinesischen Werte gegeneinander und vergleicht. Und er weist – zurecht – auf den kulturellen Zersetzungsprozess in den freiheitlichen Ländern hin, der in hohem Maße den Wirkungsgrad christlicher Ethik betrifft: „Erosionsartig schwindet der Einfluss der Kirchen und theologischer Begründungen von Werten, Ethik und damit auch sozialer Ordnung, wie sie aber noch von den Gründervätern Sozialer Marktwirtschaft selbstverständlich vorausgesetzt wurden.“

Als eine Lösung aus diesem Dilemma werde im deutschsprachigen Raum theologischer Ethik ein methodologischer Atheismus vertreten. Eine von der Transzendenz losgelöste christliche Sozialethik, die nicht mehr von Gott sprechen wolle, solle dann zumindest ihren kultur-christlichen Einfluss auf die Gesellschaftsordnung und deren Begründung behalten. „Doch damit beraubt sie sich ihrer eigenen Begründung und macht sich im Wettbewerb der Sozialethiken letzten Endes überflüssig“, so Nass.

Es folgt eine starke Passage im Buch des Kölner Sozialethikers: „Ihre Resilienzpotentiale entfaltet die christliche Sozialethik gerade erst aus ihrer Verwurzelung in der Transzendenz. Wer konsequent an Gott als das letzte Maß des Guten glaubt, der wird keinem Diktator hinterherlaufen. Wer seinen Lebenssinn ableitet aus der Vorstellung, einmal Rechenschaft für sein Leben vor einem Gott abzulegen, der wird sich nicht parteiideologisch umerziehen lassen. Und er wird eine Kultur der Unwahrheit ablehnen und brandmarken. Wer die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit und der Menschwerdung Gottes ernst nimmt, der wird die unantastbare Würde sowie individuelle Menschenrechte nicht in Frage stellen.“

Und er fährt fort: „Er wird kritische Menschen nicht als Parasiten oder Abschaum betiteln. Wer Jesu Gebot der Nächstenliebe ernst nimmt, der wird eine Optimierungsideologie verwerfen und den Wert eines Menschen nicht an seinem Leistungsoutput messen. Und an die Vorstellung eines Himmels auf Erden, wie ihn der marxistische Traum vorgibt, glauben Christen schon mal gar nicht. Denn für sie ist das Paradies allein bei Gott, und nicht von Menschen auf Erden machbar.“

Nass weist aber beim Wettbewerb der Systeme auch auf „offene Flanken“ unseres Systems hin: „Karriere in der Volksrepublik macht nur der, der sich zuvor auf schwierigen Posten gewissenhaft bewährt hat. Die Herausbildung einer Kaste von Emporkömmlingen ohne hinreichend nachgewiesene Eignung und Tugendhaftigkeit soll so verhindert werden. Natürlich ist dieses Ziel in China auch nicht erreicht. Aber das Tugendziel wird immerhin benannt und hochgehalten. Davon könnten wir uns wohl eine Scheibe abschneiden, um unsere Demokratie vor einer solchen Kaste der Dampfplauderer zu schützen, die ohne hinreichende Expertise, Tugend und Wertekenntnis die Welt erklären und die Gesellschaft lenken wollen. Anderes nämlich wäre zweifellos im Wettbewerb ein Pluspunkt für das chinesische Käfig-Modell.“

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Elmar Nass gibt im Schlussteil seines Buches eine Reihe von Anregungen dafür, wie sich unsere Wertefundamente weiterentwickeln können und wie die Politik der freiheitlich-demokratischen Länder auf Bedrohungen reagieren kann. Sein neues Buch gehört also nicht nur in die Hände von Handeltreibenden und Politikentscheidern, sondern sollte sich zu einem zentralen Thema in der Mitte unserer Gesellschaft entwickeln. Klar ist: Die chinesische Herausforderung mit dem Wettbewerb der Systeme wird nur zu gewinnen sein, wenn sich eine breite Mehrheit der Bevölkerung hinter der Idee von Freiheit und Menschenwürde entschieden versammelt!

Elmar Nass: Der globale Puppenspieler. Die Vision von Xi Jinping und eine Antwort der Freiheit; Kohlhammer Verlag; 26 Euro.

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