5. April 2018
Am 12. April 2015, zum hundertjährigen Gedenken an den armenischen Völkermord, erhob Papst Franziskus den armenischen heiligen Dichter Gregor von Narek zum ökumenischen Kirchenlehrer. Es war der Barmherzigkeits-Sonntag nach dem Osterfest. Das entsprechende Apostolische Schreiben vom gleichen Tag spricht vom Doctor Ecclesiae universalis. Wer ist dieser gelehrte Mönch, was steht in seinen Büchern, was in seinem Hauptwerk, dem "Buch der Trauer"?
"Dieses Buch wurde über ein Jahrtausend mehr geküsst als gelesen."
Dieses Zitat von Barouir Sevag (1924–1971), einem der populärsten Dichter des modernen Armenien, über das Buch seines heiligen Vorgängers Krikor Narekatsi oder Gregor von Narek, zeugt von gelebtem religiösem Literaturgefühl. Tatsächlich ist das "Buch der Trauer" die zweite Bibel der Armenier, einer Nation, die sich stets durch ihre Schrift und ihre Dichtung definiert und letztlich am Leben erhalten hat.
Für alle Kultursoziologen, aber auch für den mitteleuropäischen Touristen, der das Land im Kaukasus, am äußersten Rand Europas, besucht, ist es offensichtlich: Diese Einheit von Literatur, Religion und Nation, über Jahrtausende gewachsen, ist nicht nur "sophisticated". Diese Kombination ist das Rezept für das Überleben einer ur-christlichen Nation in einem wechselhaft feindlichen Umfeld. Diesem "Buch" (armenisch: Madean) – man könnte sagen diesem "Buch an sich" – werden bis heute Heilkräfte zugeschrieben. Das "Madean" muss deshalb nicht unbedingt penibel gelesen werden. Kranken wird es oft auf das Herz gelegt und immer noch, auch nach siebzig Jahren Sowjetherrschaft und Umerziehung, wird es geküsst.
So viele Aspekte einer schillernden Dichterpersönlichkeit, so viele Erwartungen in die Persönlichkeit eines Buchs, das von "Trauer" handelt – tatsächlich nur von Trauer?
Beginnen wir ganz von vorne, um das Geheimnis dieses Werkes besser zu verstehen – unter dem Motto: Bücher küssen ist gut, Bücher lesen auch nicht so schlecht …
Unser Autor, Gregor oder Krikor, der heilige Kirchenlehrer, kam nicht aus dem Nirgendwo. Die Provinz Vaspouragan (im heutigen Ost-Anatolien) war im zehnten Jahrhundert eine blühende Kulturlandschaft, in ihrer Mitte das Kloster Narekavank. Dort ein junger Mönch, Sohn einer literarisch gebildeten Familie, heute würde man wohl sagen "gehobene Mittelschicht", Bildungsbürgertum.
Das Kloster Narekavank vor seiner Zerstörung (📸 Wikimedia / CC0) pic.twitter.com/q8YZ4q65Dm
Der junge Kleriker hat seinen Stolz bei aller Demut doch nicht abgelegt, er hat sich der Kultur der Klugheit und der Gelehrsamkeit verschrieben, was in der armenischen Tradition stets "Sprachen lernen" bedeutet, je gründlicher und je mehr desto besser. Später wurde ein solcher Übersetzer zwischen den Kulturen, ein Dolmetscher zwischen Denkmustern und Theologien, auch gern als "Dragoman" bezeichnet.
Bis heute ist dieser Ehrentitel zum Beispiel im armenischen Patriarchat von Jerusalem gebräuchlich. ("Dragoman" hat etymologisch nichts mit "Drachen" zu tun, sondern mit dem griechischen "deiknymi" – deuten).
Dragoman ist einer, der so wie auch Gregor von Narek die Grenzen seines Klosters, seines Zimmers weit zu überschreiten vermag, um lesend und verstehend Welten zu erforschen und – als Dichter – die Innen- und die Außenwelt in einem Text zu vereinen. "Jede Sprache ist wie ein Mensch", sagt heute der Dragoman in Jerusalem. "Nun geht es darum, die Sprachen miteinander zu versöhnen, damit sie zueinander und ineinander finden". So verstand auch der jugendliche Mönch seine Aufgabe: Eine Sprache zu sprechen und zu schreiben, dieses unglaublich bunte und vielfältige und reiche Altarmenisch, eine Sprache wie ein duftender Teppich, eine Sprache, in der das Griechische, das Hebräische, das Persische, aber auch die Sprache der Bauern und der Hirten nachklingen können. Eine "Sprache mit Herzschlag" hätte Barouir Sevag, der sowjet-armenische Nachkomme des heiligen Narek, in seiner Epoche wohl gesagt.
Wobei andererseits, so wiederum Narek im Original, jedes Wort ohne Pathos, schlicht und im Stil eines Mönches ins Herz treffen müsse – mitten ins Herz. Deshalb schrieb er sein Gebetbuch, für sich, für die Mönche, für seine Familie, für alle die, die trauern und damit lernen dürfen, diese Reise zwischen Schmerz und Hoffnung als Chance zu verstehen. Die Verzweiflung, so die Botschaft des ganz und gar nicht fundamentalistischen, des ganz und gar nicht in der Enge seiner Zelle wohnenden Mönches, war: zuerst Demut, aber dann: Freiheit, Atmen lernen, in den Himmel schauen können! Ein Kloster wie das Narekavank war dann auch keine in sich abgeschlossene Einsiedlerkolonie, sondern viel eher theologische Akademie, Schreibwerkstatt, ein Ort, an dem Bildung und Spiritualität zusammenkommen konnten.
Das Echo dieser Atmosphäre – zwischen der Kontemplation in der gut verschlossenen Zelle, und was anders ist der Leib, der Körper als Gefängnis der Seele, und dem offenen Himmel, den geöffneten Augen, der erlösten Physis des Betenden oder Singenden – dieses Echo hört der Leser des heiligen Gregor. Biographische Daten sind kaum vorhanden. Mit Händen zu greifen ist immerhin eine Reliquie des Heiligen, die in Etchmiadsin, dem heiligsten Ort der armenisch-apostolischen Kirche, dem Sitz des Katholikos aller Armenier aufbewahrt wird.
Das zehnte Jahrhundert und einige Jahrhunderte davor in Vaspouragan, einem Fürstentum des zerfallenen armenischen Königreiches, sind keine "dunklen Jahrhunderte" wie zuvor im Reich der Karolinger, sondern erhellt durch Schriften, durch einen regen kulturellen Austausch mit dem strahlenden Byzanz. Es ist eine Zeit der zivilisatorischen Verwahrlosung und der wissenschaftlichen Brillanz.
Dennoch ist es eine Epoche der Verdüsterung, eine Zeit, in der dieser ersten christlichen Nation da und dort der spirituelle Mut abhanden kam. Die illuminierten Bücher leuchteten dank der meisterhaften Buchmalerei schön, ja heller als je – die Farben glänzen bis heute. Der Himmel, unter dem gelebt und gearbeitet wurde, verdüsterte sich jedoch. Es ging darum, dass die, die um Atem rangen, wenigstens durch Lesen und Beten die Luft der Freiheit spüren sollten.
Der gebildete und sicherlich sehr stolz erzogene Mönch Narek hat diese Notwendigkeit erkannt, weshalb in seinem Buch der Trauer eben dieser Atem der Freiheit stets wiederkehrt. Keine Tröstung ohne Trauer, kein freies Atmen ohne die durchlebte Angst, ja Todesangst. In der Zeit des Krikor Narekatsi war die große Epoche, die goldene Epoche der alt-armenischen Sprachkultur und Literatur erschöpft. Was von den griechischen Kirchenlehrern zu übersetzen war, das war übersetzt. Was als neuer theologischer "Esprit" in der Nachfolge eines Nerses Shnorhali, Movses Chorenatsi und anderer in der Ostkirche hochverehrter und geschätzter Kirchenlehrer geleistet werden konnte, das war getan. Die Emanzipation einer eigenständigen armenischen Spiritualität hatte stattgefunden, eben auch im liturgischen Bereich.
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Die Liturgie war textlich reich und beschenkte die Gläubigen, der kanonisierte Messe-Text bedeutete nun Sicherheit und Konservativismus zugleich. Wo waren noch Spielräume?
Dem Mönch Gregor war die Verknöcherung des Altarmenischen, die Gefahr, dass der "Esprit" des Wortes Gottes zur liturgischen Formel werden könnte, bewusst.
Seine Literatur, seine Neu-Stilisierung des Beten-Könnens, der rücksichtslosen Zwiesprache mit Gott, war eine Revolution, die bis heute in der Liturgie der armenisch-apostolischen Kirche nachwirkt. Es war eine Revolution im Umgangston mit Gott. Narekatsi hat seiner Muttersprache als Stilist tausende neue Wortschöpfungen geschenkt, die bis heute gelesen und "geatmet" werden. Der unendliche Widerspruch zwischen Armseligkeit und himmlischer Freiheit sollte sich in der historischen Wirklichkeit der Armenier, im schönsten und brutalsten Alltag zwischen Jerusalem, Aleppo, Istanbul, Kars, Jerevan und so weiter, immer wieder erweisen. Das gilt bis heute, über den Völkermord hinaus, wenn man an die zweitausend christlichen Armenier aus dem zerbombten Aleppo denkt, die vor vier Jahren in Armenien Zuflucht gefunden haben.
"Wir sind wirklich ernsthaft krank", sagte kürzlich ein Vertreter des Heiligen Stuhles von Etchmiatsin am Beginn seiner Antwort auf die Frage eines braven Fernsehjournalisten. Was denn das "Buch der Trauer" in der postsowjetische Ära Armeniens den Menschen, den Lesern noch zu sagen hätte, das war die Frage an den Kirchenmann, der cooler wirkte als sein Interviewer. Literatur- und Kultursendungen sind in den armenischen Medien sehr präsent, nicht nur bei halb-privaten Sendern, die zum Teil der Kirche sehr nahe stehen. Auch das staatliche Fernsehen gibt dem kulturellen und vor allem literarischen Erbe großen Raum. Es kann lange und ausführlich diskutiert werden. Die Zuschauer, die das Lesen ihrer Sprache langsam verlernen, hören gerne zu. "Narek hilft uns, diese Krankheit zu definieren, er bietet nicht nur Rezepte an, sondern lädt uns ein – zu einer Operation."
Bunter denken da die jungen Dichterinnen und Dichter im Land. Manche haben Narekatsi abgesehen von seiner Heiligkeit als einen "Wortwahnsinnigen" entdeckt, der jenseits aller poetischen, vielleicht auch theologischen Regeln lebte. Dennoch, so die dreißigjährige armenische Dichterin Tatev Chachyan, war er kein billiger Anarchist oder selbstverliebter Mystiker, nein: Er war konkret und präzise, er war kreativ, mutig und bestimmt. "Einmal Hölle und zurück, das ist unser Narek, das ist die Botschaft. Die Betonung liegt auf dem Zurück". Die Dichterin gibt auch die Antwort auf das Stichwort "Krankheit", von jenem Kirchenvertreter in den Raum gestellt, dem ja der Mut am Herzen lag, aber auch die Sehnsucht nach den Lesern, die – theologisch erwünscht – natürlich auch Betende sein mögen.
"Krankheit, also Analphebetismus", meint die Dichterin, "das ist für ein Volk, das sich ganz und gar durch das Wort, durch Sprache und Literatur definiert, der eigentliche Selbstmord. Narekatsi ist derjenige, der schon vor tausend Jahren genau dagegen und gegen die spirituelle Selbstermordung angekämpft hat". Dann, meinte sie, bei der Verabschiedung nach unserem Treffen und meinem Hinweis auf das Dichter-Zitat, dass das "Buch" doch mehr geküsst als gelesen wird: "Küssen und lesen – das ist doch fast dasselbe. Könnte das ein Versuch sein, die Krankheit, die Dumpfheit zu überwinden?" Sie erinnert mich an einen ausgezeichneten Videofilm, der das armenische Alphabet vorstellt, jeder Buchstabe von Menschen "konfiguriert", die Schrift dadurch beseelt und physisch geworden.
Die Armenier mussten in ihrer Geschichte, nicht zuletzt wegen ihres geographischen und kulturpolitisch geprägten Schicksals, immer wieder Phasen der abgrundtiefen Verzweiflung erleben, neben der physischen Vernichtung war es auch die Entseelung ganzer Provinzen. Auf einem der Todesmärsche im Jahr 1915, in der syrischen Wüste, verließ eine Frau die Karawane, bog ab, in Richtung Niemandsland, das sichere Todesurteil. "Wo willst du hin?", riefen die anderen ihr zu. "Ich gehe zu einem Begräbnis!", "Aber wer ist denn gestorben?" "Gott ist gestorben!", antwortete sie und ging weiter. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch diese auf den Tod verzweifelte Frau wie viele andere auf diesem Todesmarsch, eine Seite des "Narek" an ihrem Leib getragen hat. Religion, Glauben an Gott durch alle Verzweiflungen hindurch – das ist das höchstmögliche Risiko. Gregor von Narek hat sich darauf eingelassen und uns sein Buch ans Herz gelegt, um es nicht nur zu küssen, sondern auch zu lesen – um mit Gott zu leben.
(*) Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von VATICAN Magazin.
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Hinweis: Meinungsbeiträge spiegeln die Ansichten des Autors wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch.