Ein einziges Evangelium – darf man das überhaupt? Peter Löw wagt mit „Das eine Evangelium“ ein Experiment, das aufhorchen lässt: Er greift die uralte Idee des Tatian auf, die vier Evangelien des Neuen Testaments zu einem einzigen, durchgehenden Text zu verschmelzen – eine Idee, die die Kirche einst skeptisch sah und schließlich verwarf. Nun bringt Löw sie zurück ins Gespräch – in moderner Sprache, mit literarischem Anspruch und tiefem Respekt vor dem biblischen Ursprung.

Doch was steckt dahinter? Ist „Das eine Evangelium“ ein Versuch, die Heilige Schrift neu zu erzählen, oder vielmehr ein Weg, das Evangelium in seiner inneren Einheit erfahrbar zu machen? Will Löw die Vielfalt der vier Evangelisten aufheben, oder ihre gemeinsame Botschaft zum Klingen bringen?

Im Gespräch mit Christian Peschken (EWTN) erklärt der Autor, warum er sich auf dieses theologisch gewagte Terrain begibt, wie er die Grenze zwischen Interpretation und Offenbarung achtet – und warum er überzeugt ist, dass die frohe Botschaft gerade heute wieder einheitlich gehört werden muss.

Anfang des Jahres haben Sie Ihre Evangelienharmonie herausgebracht. Was beabsichtigen Sie damit?

Wir wollen damit ein Ziel erreichen: Re-Evangelisierung. Hier verfolgen wir zwei Ansätze. Zum einen soll das eine Evangelium als Instrument für die Mission dienen. Deshalb werden Exemplare des Buches ins Arabische, ins Persische (Farsi), ins Spanische und ins Englische übersetzt.

Zum anderen möchten wir der schleichenden Entchristianisierung in Europa etwas entgegensetzen, indem wir einen niedrigschwelligen Zugang zum Leben von Jesus Christus anbieten. Der Zugang zum Christentum ist heute ein anderer als noch vor einigen Jahren: Unsere Gesellschaft ist schnelllebiger geworden und komplexen Darstellungen weniger zugänglich. Hier setzen wir mit dem einen Evangelium an.

Eine ähnliche Lage fand bereits Tatian im zweiten Jahrhundert vor. Mit seiner Evangelienharmonie – dem Diatessaron – wollte er vor allem zur Missionierung der syrisch‑griechischen Bevölkerung beitragen. Damit hatte er großen Erfolg. Die Christianisierung dieser Gesellschaft beruhte wesentlich auf seinem Diatessaron, das einen einfachen Zugang zur christlichen Botschaft erlaubte.

Heute befinden wir uns in einer vergleichbaren Situation. Wir leben zwar in einer vordergründig christlich geprägten Gesellschaft, für viele erscheint das Christentum jedoch nur noch als Mischung aus Unfug, traditionalistischem Erbe und spirituellem Lifestyle. In dieser Lage einen neuen Ansatz zu wählen – nämlich Das eine Evangelium in Anlehnung an das Erfolgsbuch Tatians – erschien uns naheliegend.

Herr Löw, ein einziges Evangelium – das klingt fast nach einem Eingriff in die Struktur der Heiligen Schrift. Wollen Sie mit Ihrem Buch wirklich die vier Evangelien „vereinheitlichen“ – oder geht es Ihnen um etwas ganz anderes?

Historisch gibt es nur ein Evangelium, nämlich die eine Frohe Botschaft. Jesus hat nicht in vier verschiedenen Welten gelebt, sondern in einer realen Welt vor 2000 Jahren. Dass es später zu vier schriftlichen Ausformungen kam, beruhte weniger auf einer besonderen theologischen Überlegung als auf den Realitäten der Überlieferung in verschiedenen Gemeinden.

Eine zusammenhängende Erzählung des Lebens Jesu liegt daher nahe. Mein Ziel war es nicht, eine Konkurrenz zu den vier Evangelien zu schaffen, sondern eine gut lesbare Darstellung vom Leben und Leiden Jesu zu verfassen, die auch für weniger geübte Bibelleser leicht zugänglich ist. Schon im dritten Jahrhundert wurde beklagt, dass man beim sorgfältigen Studium der Evangelien „schwindelig“ werden könne. Die Verständnisschwierigkeiten, die aus der Aufteilung der Frohen Botschaft in vier Texte erwachsen, sind also alt. Mit dieser Veröffentlichung möchten wir einen einfachen, leichten Zugang zur frohen Botschaft schaffen.

Kritiker könnten sagen: Wer das Evangelium neu zusammensetzt, schreibt seine eigene Bibel. Wie stellen Sie sicher, dass Ihr Werk nicht als Konkurrenz zur kirchlich anerkannten Bibel verstanden wird?

Das eine Evangelium ist nicht von mir „verfasst“, sondern baut Wort für Wort auf den anerkannten Texten der vier Evangelien auf. Jedes Wort entstammt einem dieser Evangelien. Wir haben sie aus der kirchlich approbierten Ausgabe der Herder-Bibel entnommen. Dennoch ist „Das eine Evangelium“ kein Konkurrenzprodukt, sondern eine Einstiegshilfe in den christlichen Glauben, die gerade nicht für den liturgischen Gebrauch bestimmt ist.

Es gibt ja bereits zahlreiche Darstellungen des Lebens und Leidens Christi, die harmonisiert sind: Kinderbibeln, künstlerische Ansätze wie das Musical „Jesus Christ Superstar“ oder die Erfolgsserie „The Chosen“ sowie die Passionsspiele in Oberammergau. Auch diese treten natürlich nicht in Konkurrenz zu den liturgischen Evangelien.

Als gläubiger, praktizierender Katholik liegt es mir fern, der kirchlich anerkannten Bibel etwas entgegenzusetzen. Vielmehr haben wir durch „Das eine Evangelium“ die Möglichkeit, unsere Mitmenschen auf eine einfache Art zu den vier Evangelien hinzuführen. Das eine Evangelium könnte man vielleicht als eine von vielen Türen zum Herzen der Menschen bezeichnen.

Tatian wollte im zweiten Jahrhundert die Evangelien in einer einzigen Erzählung zusammenführen. Das wurde von der Kirche später kritisch gesehen – seine Evangelienharmonie hat sich nicht durchgesetzt. Warum greifen Sie ausgerechnet auf ein solches theologisch heikles Vorbild zurück?

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Hier möchte ich widersprechen. Das Diatessaron Tatians hatte sehr wohl eine wichtige Funktion in der Missionierung des Nahen Ostens. Über Jahrhunderte diente es dort als eigentliches Lektionar im liturgischen Gebrauch, also als Grundlage für die sonntäglichen Lesungen. Es entfaltete zudem eine eigene Wirkungsgeschichte, die über den engeren kirchlichen Bereich hinausreicht.

Viele der in Europa entstandenen Evangelienharmonien gehen im Wesentlichen auf Tatians Werk zurück. Hier sind etwa zu nennen: das althochdeutsche Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg aus dem neunten Jahrhundert oder der Codex Fuldensis – eine Version aus dem sechsten Jahrhundert, die auch lange liturgisch verwendet wurde.

Wir wollten mit „Das eine Evangelium“ an die Erfolgsgeschichte des Diatessarons, die im zweiten Jahrhundert begann, anknüpfen. Das Diatessaron war damals das Hauptinstrument der überaus erfolgreichen Evangelisierung im Nahen Osten; und das in einem ähnlich kritischen Umfeld, wie wir es heute vorfinden. Gute und erfolgreiche Konzepte aus der Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, ist, glauben wir, nur eine logische Konsequenz, wenn man das Ziel einer Re-Evangelisierung erreichen will.

Die katholische Tradition legt großen Wert auf die Vielfalt der vier Evangelien als Ausdruck der Fülle des göttlichen Wortes. Läuft Ihr Ansatz nicht Gefahr, diese Vielfalt zu verflachen?

Nein, im Gegenteil – ich sehe darin keine Verflachung, sondern eine Vertiefung. Die vier Evangelien bleiben in ihrer Bedeutung unverändert bestehen; mein Buch möchte lediglich zeigen, dass ihnen eine gemeinsame Geschichte zugrunde liegt. Es ist also kein Ersatz, sondern eine Einladung, die Fülle der Evangelien von einem einfach zugänglichen Ausgangspunkt her neu oder wieder zu entdecken. Nur, wer das Buch als Zuneigung zu den klassischen Evangelien versteht, erkennt seinen Charakter und unsere Intention.

Ihr Buch trägt den Titel „Das eine Evangelium“. Ist das eine spirituelle Zuspitzung – oder wollen Sie tatsächlich sagen, dass es das eine wahre Evangelium gibt, das über den vier biblischen Texten steht?

„Evangelium“ bedeutet Frohe Botschaft. Darin sind sich die Theologen einig: Es gibt nur eine Frohe Botschaft – die Jesu Christi –, wie es auch nur einen Jesus Christus gibt. Die vier Evangelien bedeuten nicht vier frohe Botschaften, sondern vier Perspektiven auf dieselbe Botschaft.

Sie haben erwähnt, dass Sie „Das eine Evangelium“ auch in Farsi, Persisch und Spanisch übersetzen wollen. Wieso wählen Sie gerade diese Sprachen?

Die Auswahl dieser Sprachen hat mehrere Gründe. Zum einen haben wir tatsächlich zahlreiche Anfragen aus diesen Sprachräumen erhalten. Es besteht offensichtlich ein tiefer Wunsch, einen eigenen muttersprachlichen Zugang zu haben. Es besteht ein großes Potenzial für die Re-Evangelisierung. Der arabisch-persische Sprachraum umfasst große Teile des Nahen Ostens und des Iran, also Regionen, in denen Tatian selbst im zweiten Jahrhundert missionarisch tätig war. Eine Übersetzung ins Farsi und Arabische knüpft daher direkt an die historische Linie seines Wirkens an.

Zum anderen sind sowohl Spanisch als auch Englisch Weltsprachen, die große, heterogene Bevölkerungen erreichen – auch in Regionen, in denen das Christentum sich stark gewandelt hat oder zunehmend säkularisiert ist. Gerade im hispanischen Raum Lateinamerikas gibt es viele Menschen, die eine tiefe religiöse Verwurzelung spüren, aber den Zugang zu den biblischen Texten verloren haben.

Insgesamt geht es also darum, die Botschaft dort verständlich zu machen, wo sie entweder vergessen oder nie wirklich gehört wurde – in kulturell, sprachlich und religiös sehr unterschiedlichen Kontexten. „Das eine Evangelium“ soll in dieser Vielfalt dieselbe Funktion erfüllen wie einst das Diatessaron: den Weg zur frohen Botschaft neu öffnen.

Peter Maria Löw, geboren 1960 in Ludwigshafen am Rhein, ist Unternehmer, Historiker, Jurist und Autor, katholisch. Nach Promotionen in Geschichte und Rechtswissenschaft sowie einem MBA an der INSEAD in Fontainebleau gründete er zahlreiche Unternehmen und leitet heute die LIVIA Group, ein international tätiges Family Office. Neben seiner wirtschaftlichen Tätigkeit engagiert er sich für den Erhalt historischer Bauten im Rahmen des European Heritage Project und lehrt als Honorarprofessor für Wirtschaftsethik an der Hochschule Heiligenkreuz. Löw ist Vater von sieben Kindern und lebt mit seiner Familie in München und auf Schloss Hofhegnenberg. Mit „Das eine Evangelium“ verbindet er seine historische und geistige Leidenschaft: den Versuch, die Botschaft Christi in ihrer inneren Einheit neu erfahrbar zu machen.