7. Oktober 2018
In Jerusalem blühen auch im Winter Rosen. - Dunkelrot, rosa und weiß wie Schnee leuchten sie mir in der Dämmerung entgegen, wenn ich in der Früh durch den Garten zur Abtei hinübergehe. Es ist immer wundervoll, zurück zum Zionsberg zu kommen, besonders schön ist es zu den Laudes der Mönche in "Mariä Heimgang". Wo auf der Welt könnte es friedlicher sein? Jetzt ist vor meinem Fenster wieder ein Wiedehopf in den entlaubten Feigenbaum geflogen und spreizt seinen Federkamm gegen den Himmel.
Hinter dem Baum umschließt ein Gitter die Ruine, wo die Apostel die Gottesmutter nach ihrem Tod aufgebahrt haben, bevor sie die Jungfrau unten im Garten Gethsemani begraben haben, wie es sich die Jerusalemiter seit Generationen erzählen. In der Christnacht sind wir zu Fuß nach Bethlehem geeilt. Sanftes Licht der Sterne beschien die Stacheldrahtgebinde auf den Hirtenfeldern. Am Abend war im Osten der Gipfel des Ölbergs kupfern aufgeleuchtet, darüber ein Himmel in türkis, darin eine Wolke, im exakt gleichen Glühen wie die Erde darunter, gerade so, als sei es eine zweite Schöpfung in der Höhe.
Himmelfahrtsleuchten. Es war so schön, dass man sich unwillkürlich bekreuzigen möchte. Es ist der letzte Blickwinkel Marias, den wir hier teilen. Hier hat sie gelebt. Gerade hinter dem Garten, wo jetzt die Rosen blühen, ist sie gestorben. Im Nachbarhaus war sie beim ersten Pfingstfest dabei, gerade eine Viertelstunde vom Golgatha entfernt, wo sie die Passion Christi aus allernächster Nähe mit erlitten hat: den Foltertod ihres Sohnes, "der für uns Blut geschwitzt hat, gegeißelt und mit Dornen gekrönt wurde, das Kreuz durch die Straßen der Stadt geschleppt hat, am Kreuz gestorben ist - und den sie hier auch zu Elisabeth getragen, in Bethlehem geboren, da vorne im Tempel aufgeopfert und nach drei Tagen wieder gefunden hat" - nachdem sie ihn mit Josef in der Stadt verloren hatte.
Jerusalem ist die Stadt des Rosenkranzes. Jedes Wort hat hier einen Ort. Das gibt es nicht einmal in Rom. Auch in der schönsten Stadt der Welt gibt es nicht diese Offenbarung Christi im Andenken der Steine wie in Jerusalem. Jerusalem ist der Ort des Rosenkranzes. Jeder Rosenkranz verbindet mit dieser Stadt. Die Zeit des Rosenkranzes ist aber überall und jederzeit. Besonders in Zeit großer Not. Und besonders seit dem 16. Oktober 2002, als der Papst in Rom ein "Rosenkranzjahr" auf dem Petersplatz ausgerufen hat, an einem strahlend hellen Nachmittag.
Vielleicht war es der wichtigste, sicher war es ihm selbst der liebste Akt unter all den Feierlichkeiten zum Jubiläum seines weltbewegenden Pontifikats. An dem Tag hat er nicht ein weiteres flehentliches Gebet, sondern das Handwerk des Betens selbst wieder in die Kirche zurück getragen. Es war eine fast schon vergessene Kunst (wie die Herstellung des Kobaltblau der Kathedralenfenster), die er im letzten Jahr vor dem Vergehen und Vergessenwerden rettete. Denn es war ja nicht nur eine unglaubliche Renaissance des Rosenkranzes, die er damit einleitete.
Mit dem gleichen Dekret fügte er dem Kranz nach Jahrhunderten auch einen vierten Zyklus ein und hat seine Struktur grundlegend erneuert. Bis dahin konnte man den Rosenkranz seiner 150 Ave Maria wegen noch einen "Volkspsalter" nennen - in Entsprechung zu den 150 Psalmen des Alten Testaments, die seit Jahrhunderten täglich von allen Mönchen und Klerikern gebetet werden. Seit dem Oktober 2002 aber erinnert der Rosenkranz in seiner neuen Vierzahl plötzlich nur noch an die vier Evangelien. Es war ein innerer Quantensprung, eine umstürzende Neuorientierung, von der nur ein Jahr später schon rätselhaft ist, warum es nicht schon viel früher dazu kam. Jetzt erst scheint der Rosenkranz endlich vollständig und vollkommen.
Er sei eine geniale Weise, "Jesus Christus mit den Augen seiner Mutter zu betrachten" sagt Johannes Paul II. heute. "Wer mich sieht, sieht den Vater", sagte Jesus hingegen selbst. Ist das Gebet der Großmütter also etwa ein Instrument zur Gottesschau? Ja, sagt der Papst, und nicht nur das: er sei auch das "am besten geeignete Mittel zur Heiligung unseres Lebens". Er kann gar nicht genug davon bekommen, das Gebet immer wieder neu zu preisen. In seiner Hand hat die schlichte Perlenschnur die Welt verändert. Und sie ist das Geheimnis seiner Kraft und Freude.
Das wurde besonders noch einmal im letzten Oktober deutlich, als wir in Pompeji Zeuge wurden, wie der Papst das Rosenkranzjahr auf seiner letzten Reise im größten Marienheiligtum Italiens feierlich beendete. Er war so froh und gelöst wie schon lange nicht mehr. Wir hatten Platz neben dem Block der Strafgefangenen bekommen, die aus dem Zuchthaus vor die Marienbasilika gebracht worden waren, um hier mit dem Nachfolger Petri zusammen den neuen und vierten "lichtreichen Rosenkranz" zu beten, mit dem der Papst dem vorher dreifachen Kranz nun auch noch das Glitzern des Jordan eingefügt hat, das blumensatte Grün Galiläas, den Glanz der Bergpredigt, das Licht des Berges Tabor und das Leuchten des Zionsberges.
Vor allem aber ist er ein "eucharistischer Rosenkranz", der vom Wasser des Jordan und dem verwandelten Wein der Hochzeit von Kana schließlich in den Abendmahlsaal selber führt, und von dort in jeden nächsten Tabernakel, als ein einziges unauslotbares Geheimnis. Um dieses Gebet im Wechsel mit dem Papst zu sprechen, hatten die schweren Jungs Ehrenplätze rechts vor der Tribüne in der dichten Menge bekommen, neben Nonnen aus Neapel und einem lokalen Gesangverein.
Als der Papst endlich auf seinem Rollstuhl vor die Madonnen-Ikone geschoben wurde, heulten einige hemmungslos. Andere rissen ihre tätowierten Arme in die Luft. Zwanzig Meter vor uns aber lächelte der krank und alt gewordene Papst so selig in sich hinein wie ein frisch genährter Säugling auf dem Schoß seiner Mutter, als er den Perlenkranz emporhob und mit der Menge zu beten begann.
Mehr, so schien es, wollte er in diesem Leben nicht mehr vollbringen. Der "lichtreiche Rosenkranz" ist sein liebstes Vermächtnis: das einfachste aller Gebete ist sein bleibendes Testament geworden. Denn bald wird den Menschen die Sowjetunion und ihr Zusammenbruch ja schon so fern sein wie uns schon lange die Einfälle der Mongolen geworden sind. Auch der Anteil des Papstes an der Befreiung vom Joch der totalitären Herrschaft über die Hälfte des Erdkreises wird bald nur noch Geschichte sein.
Die Erweiterung des Rosenkranzes aber wird auch in 500 Jahren noch unzählige Lippen und Herzen bewegen. "Was ist der Rosenkranz wirklich?" hatte er Minuten zuvor in seiner Einleitung gefragt und geantwortet: "Er ist ein Kompendium des Evangeliums. Er lässt uns kontinuierlich zu den wesentlichen Szenen des Lebens Christi zurückkehren. Es lässt uns sein Geheimnis praktisch ‚nachatmen‘. Der Rosenkranz ist der Königsweg der Kontemplation. So gesehen, ist es der Weg Marias. Wer kennt und liebt Christus besser als sie?"
Was soll das aber heißen: dass er "ein Kompendium" des Evangeliums sei, obwohl es doch nur an zwanzig Schlüsselszenen aus dem überreichen Evangelium erinnert? Ähnlich habe ich vor Jahren einmal gefragt, als unser alter Pfarrer aus Offenbach uns noch einmal in München besuchen kam. "Was soll das heißen?" fragte ich ihn da: "Wie soll ich das verstehen: ,Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, der dich, o Jungfrau im Himmel gekrönt hat’". Da lächelte er nur. "Der Rosenkranz ist doch nicht zum Verstehen da", sagte er, "der Rosenkranz will betrachtet werden."
Der Rosenkranz ist also - buchstäblich - eine andere Art der Weltanschauung. Er ist ein Verstehen durch Betrachten, durch unablässiges Beobachten, durch immer wieder Hinsehen. In jedem Rosenkranz schauen wir uns fünf Ikonen der Heilsgeschichte an. Die zwanzig verschiedenen Geheimnisse darf man sich deshalb auch vorstellen wie Schlüssellöcher in den Raum der Evangelien, durch die wir wie mit einem Prisma immer mehr von der Wirklichkeit der Erscheinung Gottes in Jesus erfassen - und zwar, noch einmal in den Worten des Papstes, "mit den Augen seiner Mutter".
Der Blick durchs Schlüsselloch zeigt immer Neues, er lässt auch immer tiefer sehen. So gesehen ist es Theologie pur. Es ist allerdings Theologie für alle und nicht nur für Theologiestudenten und es ist Theologie, die vom Gebet umrahmt ist und nicht von Gerede. Es ist ein Sehen, das nicht seziert, sondern zusammenfügt. Keine Ideologie kann sich dieser Schau bemächtigen und kein Zeitgeist. Neben der Liturgie ist der Rosenkranz das idealste Hilfsmittel für jene "Theologie auf Knien", von der Hans Urs von Balthasar einmal sprach.
Sie setzt den Verstand nicht aus, sondern befreit ihn. Darum sind die Finger auch so wichtig - und der Kranz mit seinen abgesetzten Perlen als taktile Hilfe für die verschiedenen Vaterunser und Ave Maria. Es ist eine Art Blindenschrift, um die Augen nicht abzulenken und den Verstand. Sie sollen sich nicht mit dem Zählen aufhalten müssen; das können sie hier ganz den Fingern überlassen.
Dennoch lässt sich der Rosenkranz natürlich nicht nur auf den Knien beten, sondern auch im Gehen und Stehen, im Bus und in der Bahn - im immer neuen Blick auf die Kindheit Jesu, auf seine Passion, auf seine Auferstehung - und jetzt eben auch auf seine drei letzten Lebensjahre. Der "schmerzhafte Rosenkranz" nimmt Mel Gibsons "Passion of Christ" schon seit Jahrhunderten vorweg. Und jetzt hat er bei den Dreharbeiten zu dem Film, der im kommenden Frühjahr noch viele Gemüter erregen wird, vielen Schauspielern als Leitschnur gedient.
Jeder Rosenkranz führt nach Jerusalem und vernäht die christliche Existenz mit dem Heiligen Land. Jeder Kranz ist eine kleine Pilgerreise. Dazu ist es aber auch das einfachste - und süßeste - aller Gebete. Mit ihm geht es wie mit Mehl, das man im Mund kaut. Je länger man es zwischen den Zähnen hat, je mehr verwandelt sich die Stärke in Zucker. Der Rosenkranz erschließt sich deshalb erst vollständig in der häufigen, absichtslosen - und am besten täglichen - Wiederholung. Dann aber gestaltet er das ganze Leben um.
Ja, der regelmäßige Rosenkranz verändert das Leben. Deshalb kann man ihn langsam oder schnell beten, das ist schon fast egal. Zwanzig Minuten sind eine gute Zeit. Er kann länger, er darf kürzer sein. Pater Pio sollen die Perlen wie Forellen durch die Finger geschossen sein. Natürlich kann man ihn halb oder ganz beten. Er ist kein Gesetz und kein Seminar. Eher ist er ein Garten, in dem man sich aufhält. Und wenn man über dem Rosenkranz einschläft, hieß es früher, beten ihn die Engel weiter.
Warum sollte das heute also anders sein? Das Wichtigste scheint nur zu sein: Nicht los zu lassen! Dass man sich an dem Kranz festhält wie ein angeschlagener Boxer an den Seilen. Denn diese Gebetsform ist ein neuer Halt. Der Rosenkranz ist weniger ein Gebet, das durch unsere besondere und angestrengte Andacht gewinnt, sondern es macht uns im Gegenteil auf Dauer andächtig. Der Rosenkranz nimmt keine Zeit, er schenkt Zeit. Und Ruhe. Und Frieden. Und Furchtlosigkeit. Und Gelassenheit.
Nicht wir müssen dieses Gebet verändern; dieses Gebet verändert uns. Es ist wahrhaftig kein Gebet, das sich "verstehen" lässt, jedenfalls nicht allein mit den grauen Zellen, sondern auch mit den Fingerspitzen, den Lungen und dem Herzmuskel. Der Kranz ist ein Glück. Im Jüngsten Gericht Michelangelos sehen wir ihn in einem Detail als eine Kette, die sogar Verdammte noch aus der Unterwelt empor hebt. Wir können ihn überall beten, allein oder - am schönsten - im Wechsel, im Auto, im Taxi, in der Bahn. Mit dem Rosenkranz gibt es keinen Stau mehr, keinen Flughafenstress, sondern nur noch Gelegenheiten zur Ruhe und zum Frieden.
Er lässt sich natürlich andächtig beten, und konzentriert, aber auch schläfrig, müde, abgespannt. Der Rosenkranz füllt leeren Raum wie Regen trockenen Boden tränkt. Er wässert den Boden der Existenz. Er macht leicht. Er nimmt die Angst. Und er ist so einfach. Im Bus, im Lärm, in der Stille, in Freude und Not. Er ist ein Gebet, das sich in der regelmäßigen Wiederholung unserem Leben einweben lässt wie ein immer festerer Teppich unter den Füßen. Er ist kein Stoßgebet. Außerhalb von Klostermauern ist er die Mutter eines Gebetslebens, das den Namen verdient. Darum verändert er unser Leben und unseren Tod.
Heute Morgen ist mein Bruder Karl Josef in Berlin mit dem Rosenkranz in der Hand gestorben, habe ich vorhin am Telefon gehört. Vor sechs Wochen hat er ihn erstmals nach einem Menschenalter wieder in die Hand genommen und nicht mehr losgelassen. Ich höre es und sehe ihn vor mir, wie ich ihn von Kindesbeinen an geliebt und verehrt habe, und schaue aus dem Fenster auf die Lichter und Sterne Jerusalems und weiß und spüre und erfahre, dass uns durch alle Trauer in diesem Kranz aus Rosen eine Freude verbindet, die stärker ist als aller Tod.
Jerusalem, auf dem Zionsberg, am 28. Dezember 2003
PAUL BADDE, bis 2002 Korrespondent der WELT in Jerusalem, von damals bis 2013 in Rom, seitdem Korrespondent und Autor des Senders EWTN in Rom. Der Artikel erschien in der Zeitung DIE TAGESPOST am 30. Dezember 2003.
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