24. Januar 2019
Am 25. Januar 1959 machte Papst Johannes XXIII. im Kapitelsaal der Abtei St. Paul vor den Mauern vor 17 Kardinälen eine anscheinend epochale Ankündigung. Besonders dann, wenn man den herrschenden Diskursen in Theologie und Kirche traut: Der Papst wollte nicht nur "ein Konzil", sondern anscheinend "das Konzil überhaupt" einberufen. Stellvertretend für viele Stimmen aus dem Klerus dieser Zeit bekannte ein weltoffener, freundlicher Priester der Diözese Hildesheim – geboren in der Mitte der 1960er-Jahre –, vor einigen Jahren ganz unbefangen, wie sehr das "Konzil" ihn geprägt habe, eine auch biografisch höchst interessante Bemerkung. Zu derselben Zeit etwa wohnte ich einer interdisziplinären Tagung bei, veranstaltet an der Leibniz Universität Hannover. Die bekannte Osnabrücker Theologin Margit Eckholt wurde am Ende des Vortrages über Kirche heute von einem evangelischen Religionspädagogen gefragt, welche Rolle "das Konzil" für ihr theologisches Denken spiele. Das leidenschaftliche Bekenntnis zu "dem Konzil", insbesondere zur Pastoralkonstitution "Gaudium et spes", erfolgte umgehend. Das Zweite Vatikanische Konzil scheint also noch immer als "das Konzil an sich" wahrgenommen zu werden.
In der Kirchengeschichte sind 21 Ökumenische Konzilien verzeichnet, die ihre je eigene Bedeutung besitzen. Augenzeugen, vor den Fernsehern wie auf dem Petersplatz seinerzeit, erinnern sich an die barocke Prachtentfaltung bei der feierlichen Konzilseröffnung am 11. Oktober 1962. Der hochverehrte Papst Johannes XXIII. liebte die kostbaren liturgischen Paramente, den Prunk und das feierliche spanische Hofzeremoniell. Auch seine Enzykliken waren wieder in einem erhabenen Stil verfasst. Die Verklärung des Papstes ist auch heute noch spürbar. Auf einem interdisziplinären Colloquium vor 5 Jahren hörte ich, wie eine begeisterte junge Theologin vom "Geist des Aggiornamento" schwärmte. Die Wissenschaftlerin sprach davon, dass Johannes XXIII. sich in der Eröffnungsansprache des Konzils zum "Aggiornamento" bekannt habe und dass dieser revolutionäre "Geist des Konzils" in allen Texten der Kirchenversammlung gegenwärtig gewesen sei. Auf meine Erwiderung hin, dass ein italienischer Begriff in einer auf Latein gehaltenen Ansprache wie "Gaudet mater ecclesia" tatsächlich ein bemerkenswert revolutionäres Moment gewesen wäre, sah mich die Kollegin erstaunt an. Das Zweite Vatikanische Konzil ist bis heute umgeben und umrankt von Anekdoten, Legenden und Mythen. Die Konstitutionen und Dekrete dieses Konzils stehen im Schatten einer bemerkenswerten Diskursgeschichte. Zwar mag die von Rudolf Bultmann betriebene Entmythologisierung des Neuen Testaments auch exegetische Irr- und Abwege begünstigt haben. Gleichwohl wäre zu erwägen, ob die Zeit nicht reif sein könnte, Bultmanns Begriff aufzunehmen und endlich mit der Entmythologisierung des Zweiten Vatikanischen Konzils zu beginnen.
Am 25. Januar 1959 sagte Johannes XXIII. in italienischer Sprache – "certo tremando un poco di commozione" (= gewiss von innen her ein wenig zitternd"), aber "con umile risolutezza" (= "mit demütiger Entschlossenheit"). Die deutsche Übersetzung dieser Rede spricht sodann spröde von einer "doppelten feierlichen Veranstaltung". Auf Italienisch kündigte Johannes XXIII. eine "duplice celebrazione" an, eine Diözesansynode für die Stadt Rom und ein Ökumenisches, somit Allgemeines Konzil für die Weltkirche. An dem Begriff "celebrazione" scheiden sich die Geister. Wer die Konziliengeschichte in den Blick nimmt, mag sich fragen, ob der erfahrene Kirchendiplomat Roncalli tatsächlich fröhliche, festliche Ereignisse im Sinn hatte und darum eine "doppelte feierliche Veranstaltung" einberufen wollte. Er dürfte den Begriff "celebrazione" ausschließlich mit Blick auf sein Vorhaben gewählt haben. Johannes XXIII. plante keine orts- und weltkirchlichen Großfeste und auch kein Heiliges Jahr. Ebenso wenig kündigte er spektakuläre geistliche "Events" an. Der Heilige Vater äußerte schlicht die feste Absicht, eine Synode für Rom und ein Konzil durchzuführen – "celebrazione" könnte hier angemessen also mit "Durchführung" übersetzt werden und nicht mit "Feier". Ernst und nachdenklich nahmen die Kardinäle diese unerwartete Mitteilung auf. Warum hätten sie auch jubeln sollen? Euphorie wäre deplatziert gewesen. Die verschiedentlich geäußerte Mutmaßung, dass schon hier, bei der vermeintlichen Applausverweigerung, die Haltung konservativ bis restaurativ gesinnter Kurienkardinäle einen adäquaten Ausdruck gefunden hätte, ist eine mögliche Interpretation. Aber ist diese Deutung zutreffend? Wer bereits Gegensätze aufspüren möchte, die zu der Zeit noch gar nicht sichtbar gewesen sein konnten – so unbestimmt wie Johannes XXIII. sich artikuliert hatte –, mag sie im Nachhinein trotzdem, von der eigenen Hermeneutik geleitet, bereits dort als verborgen präsent vermuten. Den Eindruck virulenter Vorbehalte und einer bornierten Skepsis spürte Johannes XXIII. selbst freilich gar nicht. Historisch betrachtet: Hinreichend Kenntnisse in Bezug auf das vorzeitig abgebrochene Erste Vatikanische Konzil unter Pius IX. und die heftigen Kontroversen wie Konflikte waren vorhanden. Dieses Wissen mochte verständlicherweise für eine sachgerechte Einordnung der bevorstehende Kirchenversammlung statt für eine ungehemmte Begeisterung im Vorfeld sorgen.
Im Gedenken an Pius IX. übrigens, den Konzilspapst des 19. Jahrhunderts, notierte Johannes XXIII. im Spätherbst 1959 in seinem "Geistlichen Tagebuch": "Ich denke oft an Pius IX., heiligen und ruhmreichen Angedenkens, und möchte in der Nachahmung seines opfervollen Lebens würdig werden, seine Heiligsprechung noch zu feiern." Erst Johannes Paul II. sprach Pius IX. und Johannes XXIII. am 3. September 2000 selig. Innerkirchlich wie in interessierten Medien bot die doppelte Seligsprechung eine Gelegenheit zu maßloser Kritik. Der gütige, verklärte Johannes und der verachtete, geschmähte Pius sollten vom selben Tag an als Selige verehrt werden? Stimmen der Empörung wurden vernommen, wie so oft in der langen Geschichte der Kirche – und sind oft ein guter Indikator. Also hatte Johannes Paul II. mit sicherer Intuition, unbeirrt und im festen Vertrauen auf den Herrn, wie so oft in seinem langen Pontifikat, sehr weise entschieden, beide Konzilspäpste an jenem Tag seligzusprechen.
Der 25. Januar 2019 lädt dazu ein, 60 Jahre nach der Ankündigung über eine sachgerechte Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils neu nachzudenken, wie dies auch von Benedikt XVI. mehrfach gefordert wurde. In gleicher Weise scheint es angemessen zu sein, und das gilt für Bischöfe, Theologen und einfach gläubige Christen in aller Welt, auf stigmatisierende Kampfbegriffe wie "vorkonziliar" zu verzichten. Es gab 21 Ökumenische Konzilien der Kirche, somit also endete die erste "Vorkonzilszeit" im Jahr 324 mit dem Konzil von Nizäa. Mit jedem Konzilsabschluss begann gewissermaßen, sehr wahrscheinlich, eine neue Vorkonzilszeit. Niemand von uns weiß und kann wissen, ob einige von uns oder spätere Generationen die Einberufung eines neuen Ökumenischen Konzils erleben werden. Sind wir alle also "vorkonziliar"? Könnte sein. Indessen, auf theologische wie zeitgeistliche Konzilsfantasien sollte vernünftigerweise ebenso verzichtet werden wie auf diesen Begriff.
Die Treue zum Zweiten Vatikanischen Konzil schließt die Treue zu allen 21 Konzilien der Kirche mit ein. Die Arbeit an der theologischen Aufklärung über die Mythen der neuesten Konzilsgeschichte gilt es zu vertiefen. Papst Benedikt XVI. sagte am 14. Februar 2013 vor dem versammelten Klerus der Diözese von Rom: "Es gab das Konzil der Väter – das wahre Konzil –, aber es gab auch das Konzil der Medien. Es war fast ein Konzil für sich, und die Welt hat das Konzil durch diese, durch die Medien wahrgenommen. … Für die Medien war das Konzil ein politischer Kampf, ein Machtkampf zwischen verschiedenen Strömungen in der Kirche. Selbstverständlich haben die Medien für jene Seite Partei ergriffen, die ihnen zu ihrer Welt am besten zu passen schien. Es gab jene, die die Dezentralisation der Kirche suchten, die Macht für die Bischöfe und dann – durch das Wort »Volk Gottes« – die Macht des Volkes, der Laien. … Wir wissen, daß dieses Konzil der Medien allen zugänglich war. Es war also das vorherrschende, das sich stärker ausgewirkt und viel Unheil, viele Probleme, wirklich viel Elend herbeigeführt hat: geschlossene Seminare, geschlossene Klöster, banalisierte Liturgie … und das wahre Konzil hatte Schwierigkeiten, umgesetzt, verwirklicht zu werden; das virtuelle Konzil war stärker als das wirkliche Konzil. Aber die wirkliche Kraft des Konzils war gegenwärtig und setzt sich allmählich immer mehr durch und wird zur wahren Kraft, die dann auch wahre Reform, wahre Erneuerung der Kirche ist." Die Entmythologisierung des Zweiten Vatikanischen Konzils, als Beitrag zur geistlichen Erneuerung der Kirche heute, scheint ein eminent wichtiges Forschungsgebiet für die katholische Theologie darzustellen.
Dr. Thorsten Paprotny lehrte von 1998 bis 2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte zahlreiche Bücher im Verlag Herder. Gegenwärtig arbeitet er an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. Er publiziert regelmäßig in den "Mitteilungen des Instituts Papst Benedikt XVI.".
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