Vor etwas mehr als 10 Jahren begab ich mich am Sonntagabend auf eine liturgische Entdeckungsreise. Die Kirche war mir gut vertraut, in der ein Pater der Petrusbruderschaft die heilige Messe feierte. Mein Herz hatte ich schon lange an St. Elisabeth verloren, gelegen im Zoo-Viertel in Hannover, eine neuromanische Kirche, konsekriert durch den Hildesheimer Bischof Daniel Wilhelm Sommerwerck am 20. November 1895. Die Fresken und Ausmalungen überstanden den Zweiten Weltkrieg unversehrt, die minimalen Schäden nach den Angriffen konnten stets rasch behoben werden. Meine Pilgerschaft durch Hannover hatte längst nach St. Elisabeth geführt, in die schönste Kirche der Diasporastadt an der Leine, und dort lernte ich die "forma extraordinaria" kennen.

Die Freude an Schönheit geht einher mit einer gewissen liturgischen Sensibilität. Die Postmoderne indessen zeigt sich auch als Ort der Unsicherheit und Verwunderung. Jahre zuvor bereits hatte ich scheu und voller Fragen mit dem Philosophen Robert Spaemann brieflich Kontakt aufgenommen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Wortlaut meiner Zeilen, aber an seine Antwort: Er schickte mir den Vortrag "Was die Präsenz des klassischen Ritus für die Kirche bedeutet" zu, den er 1994 auf der Versammlung von "Pro Missa Tridentina" gehalten hatte. Sichtbar trat mir vor Augen, wie mein Großvater – ein nüchterner Holzkaufmann – von der feierlichen Liturgie "von früher" erzählte hatte. Vorstellen konnte ich mir das alles nicht. Papst Benedikt XVI. erließ am 7. Juli 2007 das Motu Proprio "Summorum Pontificum". Dort heißt es unter anderem: "Das von Paul VI. promulgierte Römische Meßbuch ist die ordentliche Ausdrucksform der »Lex orandi« der katholischen Kirche des lateinischen Ritus. Das vom hl. Pius V. promulgierte und vom sel. Johannes XXIII. neu herausgegebene Römische Meßbuch hat hingegen als außerordentliche Ausdrucksform derselben »Lex orandi« der Kirche zu gelten, und aufgrund seines verehrungswürdigen und alten Gebrauchs soll es sich der gebotenen Ehre erfreuen. Diese zwei Ausdrucksformen der »Lex orandi« der Kirche werden aber keineswegs zu einer Spaltung der »Lex credendi« der Kirche führen; denn sie sind zwei Anwendungsformen des einen Römischen Ritus. Demgemäß ist es erlaubt, das Meßopfer nach der vom sel. Johannes XXIII. im Jahr 1962 promulgierten und niemals abgeschafften Editio typica des Römischen Meßbuchs als außerordentliche Form der Liturgie der Kirche zu feiern."

Die Freunde der "forma extraordinaria" atmeten auf und freuten sich sehr – und, anders als von manchen erwartet, versammelten sich nicht einige wenige hochbetagte liturgische Nostalgiker zum außerordentlich schönen, festlichen Choral-Amt, in Hannover und anderswo. Wer heute die heilige Messe in der "forma extraordinaria" mitfeiern möchte, der mag seit etlichen Jahren die Basilika St. Clemens in der niedersächsischen Landeshauptstadt besuchen oder sich über Messorte bei "Pro Missa Tridentina" informieren und staunend die Jugendfrische der Liturgie der römisch-katholischen Kirche sowie die sichtbare Freude am Glauben erleben. Von einer "Neuen liturgischen Bewegung" hat Benedikt XVI. gelegentlich versonnen geträumt. Die "alte Liturgie" erfreut sich eines überaus großen Zuspruchs, besonders viele junge Gesichter sind zu sehen und junge, leuchtende Stimmen zu vernehmen.

Gleichwohl wurden und werden noch immer ernsthafte Bedenken vorgebracht. Auch ich muss mich selbstkritisch fragen: Ist das nicht einfach nur Freude am Glanz? Vielleicht ein liturgischer Purismus, ja bloßer Ästhetizismus? Leidet mein absolutes Gehör andernorts zu sehr unter kraftvollen Stimmen und Orgeldonner?

Unter anderem Claudia Stockinger sprach in ihrem Beitrag "Feuilletonkatholizismus" – in "Stimmen der Zeit" in der Ausgabe 7/2012 publiziert und kostenfrei verfügbar – kritisch reflektiert über Formen eines notorischen Ästhetizismus, der wieder Einzug in die katholische Kirche gehalten habe. Insbesondere dem Romancier und Essayisten Martin Mosebach wurde vorgeworfen, er argumentiere ausschließlich ästhetizistisch: "Etwas Schönes aber – so der klassische Schönheitsbegriff Mosebachs – bedarf keiner Begründungen außerhalb seiner selbst, ist in sich stimmig, sich selbst genug. …  Indem Mosebach den Ästhetizismus-Vorbehalt auszuhebeln behauptet, argumentiert er doch ästhetizistisch." Der Ästhetizismus werde für Mosebach zum "Glaubensbekenntnis". Zugleich nehme er durch die Ausschließlichkeit, mit der er für die außerordentliche Form des Römischen Ritus eintrete, "eine per definitionem als fundamentalistisch zu bezeichnende Haltung" ein: "Die Entscheidung für eine elitäre Kultform, die bestimmten (nämlich unpopulären) ästhetischen Ansprüchen genügt, bietet aus feldtheoretischer Perspektive zugleich einen enormen Standortvorteil. Religion übernimmt damit zum einen die Funktion, das Besondere der je individuellen Wahl gerade auch im intellektuellen Milieu herauszustellen, um auf dem Markt der Möglichkeiten eine Aufmerksamkeit sichernde Position zu besetzen." Claudia Stockinger schreibt weiter, auf diese Weise werde "das Konstrukt einer vorkonziliaren katholischen Kirche" entworfen.

Mit der ultramontanen und regionalen Kirchenpolitik bin ich ebenso wenig vertraut wie mit der Expertise von engagierten Feuilletonisten. Auch sind mir die Wünsche, Absichten und Vorstellungen, die hierzu geäußert werden oder verborgen damit verbunden sind, nicht bekannt. Aber ich verfüge, wie gesagt, über ein absolutes Gehör, an dem ich auch gänzlich schuldlos bin. So war für mich – und ist es bis heute – die Gregorianische Choralmusik ein Ausdruck der Schönheit, die himmelwärts, nach Oben weist und auch mein sehnsüchtig nach Gott aufschauendes Herz hebt und hält. Die Schönheit der Musik sei, mit Benedikt XVI. gesagt, auch ein "Wahrheitsbeweis des Christentums", eine gewagte Äußerung. Meine Erfahrung deckt sich damit. Ich vertraue auch auf die Weisheit unseres emeritierten Papstes. Im Jahr 2002 publizierte Kardinal Joseph Ratzinger einen Beitrag mit dem Titel "Verwundet vom Pfeil des Schönen", enthalten in dem Band: "Unterwegs zu Christus". Dort schreibt er: "Schönheit verwundet, aber gerade so erweckt sie den Menschen zu seiner höchsten Bestimmung. … Schönheit ist Erkenntnis, ja eine höhere Art des Erkennens, weil sie eben den Menschen mit der ganzen Größe der Wahrheit trifft." Die Theologie müsse heute wieder die "Begegnung mit der Schönheit des Glaubens vermitteln". Der "überzeugende Wahrheitsbeweis" seien die Heiligen und die "Schönheit, die der Glaube hervorgebracht hat": "Damit Glaube heute wachsen kann müssen wir uns selbst und die uns begegnenden Menschen in die Begegnung mit dem Heiligen, in die Berührung mit dem Schönen führen." Dies sei mitnichten eine "Flucht ins Irrationale" oder ein "bloßer Ästhetizismus". Kardinal Joseph Ratzinger bekräftigt abschließend: "Wer kennt nicht das viel zitierte Wort von Dostojewski: Die Schönheit wird uns erlösen? Man vergißt aber meistens zu erwähnen, daß Dostojewski mit der erlösenden Schönheit Christus meint. Ihn müssen wir sehen lernen. Wenn wir ihn nicht mehr bloß durch Worte kennen, sondern vom Pfeil seiner paradoxen Schönheit getroffen sind, dann lernen wir ihn wirklich kennen und wissen von ihm nicht mehr bloß aus zweiter Hand. Dann sind wir der Schönheit der Wahrheit, der erlösenden Wahrheit begegnet. Nichts kann uns mehr mit der Schönheit Christi selbst in Berührung bringen als die vom Glauben geschaffene Welt des Schönen und das Leuchten auf dem Gesicht der Heiligen, durch das hindurch sein eigenes Leuchten sichtbar wird."

Hierzu gehört auch die Schönheit der Liturgie – vor allem vernehmbar durch den Gregorianischen Choral –, wie sie in der "forma extraordinaria" würdig gefeiert wird. Dass geistliche Musik, so auch die Gregorianik, bloß ästhetizistisch aufgenommen werden kann, möchte ich nicht bestreiten. Subjektive Missverständnisse sind in allem möglich und in allem, so scheint mir, nicht wesentlich. Wer aber die "Erschütterung durch die Begegnung des Herzens mit der Schönheit als wahre Weise des Erkennens" verachtet oder abweist, so Kardinal Ratzinger 2002, trägt dazu bei, dass Glaube und Theologie verarmen und veröden: "Diese Weise des Erkennens müssen wir wiederfinden – das ist eine dringliche Forderung dieser Stunde." Die Feier der heiligen Messe in der außerordentlichen Form des Römischen Ritus zeigt uns, dass Schönheit und Wahrheit zueinander gehören.  

Dr. Thorsten Paprotny lehrte von 1998 bis 2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte zahlreiche Bücher im Verlag Herder. Gegenwärtig arbeitet er an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. Er publiziert regelmäßig in den "Mitteilungen des Instituts Papst Benedikt XVI.".  

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