19. Mai 2017
Eine Filmszene für den nächsten Indiana Jones-Film könnte kaum spannender sein. Freunde hatten organisiert, dass wir in einem geheimen Depot der Kunstschätze Dresdens zugegen sein durften, als dort die weltberühmten Brüsseler Bildteppiche des 16. Jahrhunderts aus dem Fundus auf ihren konservatorischen Zustand überprüft wurden. Kostbares Privileg. Verwunschener Kulissenraum eines Theaters.
Die Leiterin und vier Mitarbeiterinnen und fünf Mitarbeiter waren notwendig, um den über drei mal drei Meter großen Teppich in seiner Spezial-Box aus seiner Hängung heraus zu rollen und in der Mitte des Raums die weiße Stoffbespannung von einer Ecke hier aufzuziehen und zu öffnen. Es war ein Weltkulturwunder, das Hildegard Schuhmann, eine Freundin aus Nürnberg, mit ihrem Mann vor Jahren entdeckt hat, das uns jetzt hier allen in einem entscheidenden Detail rechts unten in der Darstellung der "Kreuzigung Christi" in die Augen sprang.
Der kostbarste Schatz der Christenheit
Es war am 12. Mai 2017. Eine Woche später würde Kardinal Tagle aus Manila, der Primas der Philippinen, in den Abruzzen zu jener großen Prozession erwartet, mit der dort - in Manoppello - jährlich am dritten Sonntag im Mai seit dem Jahr 1712 das Heilige Schweißtuch Christi aus der Michaelskirche auf dem Tarigni-Hügel zur Nikolauskirche in die Stadtmitte getragen wird, um am nächsten Tag wieder zurück in das Heiligtum gebracht zu werden. Der spinnwebfeine Schleier mit dem Antlitz Christi ist völlig durchsichtig und der kostbarste Schatz der Christenheit.
In den ersten acht Jahrhunderten nach dem Tod und der Auferstehung Christi wurde das zarte Tuch in der östlichen Christenheit als Mandylion verehrt, danach fast 800 Jahre lang im Petersdom in Rom als "Allerheiligstes Schweißtuch" wo es aber auch "Veronika genannt worden war" (quod Veronica vocatur), wie es in päpstlichen Dokumenten aus dem Mittelalter heißt. - "Veronica", das war ein schöner und volkstümlicher Name für "vera icon", das heißt: für "das wahre Bild".
In Rom hatte dieses wahre Bild vom Antlitz Christi bis zu dem Horrortag der Brandschatzungen deutscher und spanischer Landsknechte am 6. Mai 1527 zahllose Pilger aus ganz Europa angezogen. Es ist die Bildmutter aller Christusdarstellungen.
Doch erst im August 2011 räumte Professor Antonio Paolucci, der Direktor der Vatikanischen Museen, bei einer Ausstellung einiger seiner Meisterwerke verschiedener Christusbilder im Staatsmuseum des Fürstentums San Marino beiläufig ein, dass die antike Reliquie des wahren Volto Santo (in der man das Urbild der Christusporträts erblicken müsse) "im Verlauf des Sacco di Roma 1527 verloren gegangen" sei. Es war ein sensationelles Eingeständnis.
Umflattert von Merkwürdigkeiten
Es wurde auch noch in einer Presseerklärung des Vatikans veröffentlicht, die allerdings kurz danach aus der Website des Vatikans entfernt wurde. Öffentlich dokumentiert blieb die Aussage der höchsten Autorität, was die Kunstschätze des Vatikans anbelangt, deshalb nur in einer Meldung des "Resto del Carlino", einer Tageszeitung aus Bologna, vom 18. August 2011.
Von solchen Merkwürdigkeiten ist das zarte Schweißtuch umflattert wie eine Sommerwiese von Schmetterlingen. Es ist ein dunkles Geheimnis um dieses helle Lichtbild. Viele fordert es auf fast unfassbare Weise heraus, nicht davon zu reden und noch wichtiger: gar nicht erst darauf zu schauen.
Im Jahr 2016 etwa erschien in Würzburg ein 883 Seiten starker Band mit zahlreichen Beiträgen zweier Kongresse in Wien und Würzburg, wo rund "drei Dutzend Experten - Exegeten des Alten und Neuen Testaments," wie es in der Produktbeschreibung hieß, mit "Patristikern, Syrologen, Slavisten, Byzantinisten, Ikonenspezialisten, Historiker, Kunst-, Rechts-, Textil-, Liturgie- und Musikhistorikern" - und alle zusammen natürlich überkonfessionell - zu beweisen versuchten, dass sich unser Christusbild ganz und gar dem kaum wahrnehmbaren Schatten auf dem majestätischen Turiner Grabtuch verdankt und nichts mit dem Schweißtuch aus Manoppello zu tun habe.
Dieses Objekt sei eine unbedeutende "Tüchleinmalerei" der Renaissance. Die Sache kam hoch wissenschaftlich daher, allerdings mit Haken. Die maßgeblichen "Kronzeugen" dieser angeblichen Expertenrunde kennen den Schleier aus Manoppello nur vom Hörensagen. Sie haben ihn noch nie gesehen, geschweige denn untersucht oder sich von den rätselhaft unerklärlichen Lichtreaktionen und Farbwechseln persönlich überzeugt. Irgendwelche Vergleichsobjekte zum Volto Santo können sie auch nicht benennen.
Dennoch waren sich alle einig: mit dem alten Veronika-Schleier des Vatikans konnte und sollte der Schleier aus Manoppello nichts gemein und nichts zu tun haben. Diese Identifikation sei hanebüchen und jeder, der genau dies behaupte, dürfe von der Fachwelt außer Skepsis nichts erwarten.
Unter dem Mikroskop keine Farbe
Kurzum, das Bildnis in Manoppello sei gemalt, für die einen von Dürer, für die anderen von Raffael, für wieder andere aus dem Umkreis von Dierick Bouts, und müsse außerdem als eine Kopie betrachtet werden. Dass sich auf dem Schleier von Manoppello auch unter dem Elektronenmikroskop keinerlei Farbe feststellen lässt, was soll’s. Nun ja, wenn die Wissenschaft es festgestellt hat. Immerhin hat der Wälzer, ich sagte es schon, 883 Seiten. Das schließt eigentlich jedes Befremden oder kritische Nachfragen aus. Die schiere Masse der Expertenstimmen soll hier offensichtlich alle andern Argumente kompensieren und zunichtemachen.
Dies auch mit der allerneuesten Entdeckung, wenn sie auch nichts als eine pure und komplett unbewiesene Behauptung ist: der alte Veronika-Schleier des Petersdoms soll sogar schwarz gewesen sein (S. 686). "Nachtigall, ick hör dir trapsen", hätte man früher in Berlin wohl dazu gesagt. Denn einen anderen Grund für diese steile These als jener, dass nur ja keiner meinen sollte, dass die alte Veronika des Vatikans nur ja nicht nicht mit dem Volto Santo von Manoppello identisch ist, lässt sich für diese Behauptung in der realen Welt jenseits aller Bibliotheken und Fußnoten nirgends finden, auch nicht durch den kühnen Befund, dass dieser schwarze Schleier, angeblich "noch heute existiert "- obwohl es zahlreiche Gemälde vor dem Jahr 1527 gibt, die den in Rom verehrten Schleier so durchscheinend zeigen wie in Manoppello - mit dem Gesicht Christi in der Mitte.
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Ecco: die "schwarze Veronica"!
Und nun blickte uns hier in Dresden plötzlich alle zusammen eben solch ein Gesicht an und es sprach nicht, es schwieg. Es schwieg Bände. Ecco: die "schwarze Veronica"! Sie war nur nicht schwarz, sie war transparent und stellte das Gesicht Christi hier schon vor Jahrhunderten in jenem muschelseidenfarbenen braunen Ton dar, der dem Volto Santo in Manoppello in den fernen Abruzzen so einzigartig eigen ist.
Denn einen durchsichtigen Schleier zu malen, ist das eine. Einen durchsichtigen Schleier mit den höchst komplizierten Verfahren der Teppichweberei darzustellen, ist etwas ganz Anderes. Jeder Faltenwurf im Gewand der Veronika hinter dem Schleier ist hier deutlich zu sehen, ebenso wie der linke Arm und die Hand, die das zarte Tuch an einem roten Faden hält. Es ist völlig klar, dass die Transparenz ein elementares Wesenselement jenes Tuchs war, das hier dargestellt werden sollte. Hier ist nichts zufällig. Es zeigt das Schweißtuch Christi, das heute in Manoppello zu sehen ist.
Ein sakraler Missing Link
Der kostbare Bildteppich (mit der Inventar-Nummer Gal.-Nr. B7 aus der Gemälde-Galerie Alte Meister) aus Wolle, Seide und Gold- und Silberfäden stammt von dem Meister Pieter de Pannemaeker, der in den Jahren 1517 bis 1525 mit seiner Werkstatt in Brüssel tätig war. Der Entwurf zu dieser Darstellung allerdings stammt von Bernaert (oder Bernard) van Orley, einem Meisterschüler aus dem Umkreis Raffaels, der sich zwischen 1509 und 1515 in Italien und Rom aufhielt.
Unter dem jungen Malerfürsten Raffael, der unter den Päpsten Julius II. und Leo X. alle Privilegien Roms genoss, wird Bernaert van Orley gewiss auch eine enge Bekanntschaft und Vertrautheit mit dem so genannten Schleier der Veronika gewährt worden sein, der damals noch als der größte Schatz der Päpste im alten Petersdom verwahrt wurde. Anders ist die fast spiegelbildliche Abbildung mit dem heutigen Schleier von Manoppello auf dem Karton Bernaert van Orleys weder zu begründen noch nachvollziehbar.
Dieser Bildteppich ist ein höchst kostbarer Missing Link der langen Geschichte der Rückkehr vom wahren Bild Gottes in die Geschichte. Der Rückkehr der Veronica. Deutlicher könnte ein Steckbrief des Heiligen Gesichts (Volto Santo) aus Rom vor dem Jahr 1527 nicht ausfallen.
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"Das Gesicht der Liebe": Das Tuch Christi, der Schleier von Manoppello ist "heimgekehrt": https://t.co/KpCgx8oZS0 pic.twitter.com/mOZJIqS1tQ