15. Mai 2019
"Es ist nicht das Richtige", pflegte meine Tante Marie, ehemalige Pfarrhaushälterin, kopfschüttelnd zu sagen, wenn sie in den letzten Lebensjahren die Kirchenzeitung studierte oder sich einige Signaturen der neuen Zeit bewusst machte. Sie stammte aus Schlesien, hatte lange Zeit in Leipzig gearbeitet und war dann, ihren emeritierten Pfarrer begleitend, ins Allgäu gezogen. Von dort führte sie der Weg, nach dessen Tod, in die Diaspora. Das Credo war ihr nie eine bloße Gewohnheit oder ein Lippen-, sondern ein echtes Liebesbekenntnis. Wenn aus sogenannten pastoralen Gründen einer kreativen Messgestaltung das Credo einmal am Sonntag ausgelassen wurde, sagte sie kopfschüttelnd: "Hält man nicht für möglich!" Als Tante Marie im März 2018 für immer nach Hause ging, hatte der Herr das letzte Amen ihr zugesprochen. In ihr war die stille Treue zum Glauben der römisch-katholischen Kirche zeitlebens gegenwärtig – und das fast 97 Jahre lang. Auf ihre herzliche, gütige Art konnte Tante Marie ein Vorbild und Beispiel sein.
"Hält man nicht für möglich!" Nicht nur weil gläubige Menschen wie meine Tante Marie wussten, wie schwer es war – hindurchgegangen durch die NS-Herrschaft und die DDR –, treu zum Glauben und zur Kirche zu stehen, hätte sie ihre markanten Worte seufzenden Unverständnisses wiederholt. Wie kann ein neukatholischer Regionalismus, anscheinend emanzipatorisch, sich breitmachen, und ausgerechnet im Marienmonat unter dem Namen "Maria 2.0" am 12. Mai 2019 einen "Kirchenstreik" ausrufen? Resonanz und Zustimmungen fanden die Protestgruppen vor allem aber in den säkularen Medien – ob vor dem Münsteraner Dom St. Paulus oder vor dem Freiburger Münster. Es waren jeweils einige Hunderte. Beim "Marsch für das Leben" sind es über 10.000 – aber hierüber wird nicht so freundlich berichtet. Wenn man jedoch den Fernsehbildern Glauben schenken wollte, die abends dann besonders auch die alten und kranken Menschen erreichten, die aufgrund ihrer Gebrechlichkeit am Sonntag nicht mehr die heilige Messe mitfeiern können, so entstand das Bild: Eine Massenbewegung kommt auf uns zu – und nicht nur ich habe in den letzten Tagen mehr als einmal die besorgt geäußerte, oft verständnislose Frage gehört: "Sah das bei Euch vor der Kirchtür auch so aus?" Über die Traurigkeit, den Zorn und die Empörung vieler frommer, älterer Katholiken berichtet niemand: "Was soll das nur alles? Wohin mag das noch führen?"
Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Der Berliner "Tagesspiegel" zeichnet ein realistisches Bild. Dort wird eine kirchlich ehrenamtlich aktive Frau zitiert: "Viele haben gesagt, sie könnten nicht mitmachen, weil sie gerade in dieser Woche einen wichtigen Termin in der Kirche hätten."
Erzbischof Dr. Burger spendete in Freiburg zeitgleich zum Protest das Sakrament der Priesterweihe und äußerte im Anschluss daran ein gewisses Verständnis für den Auftritt und die Forderungen der rebellischen Christenmenschen. Der Osnabrücker Bischof Dr. Bode äußerte sich ambivalent. Grundsätzlich lobte er die Kampagne: "Ich finde die Aktion gut, um ein Zeichen zu setzen für mehr Beteiligung von Frauen in der katholischen Kirche." Er schränkte das aber sogleich ein, weil die Weigerung, den Sonntagsgottesdienst mitzufeiern, ihm zu weit ging.
Vergessen wir nicht: Der Einladende zur Feier der Eucharistie ist immer noch Jesus Christus – nicht der Ortspfarrer, nicht der Ortsbischof, nicht einmal der Papst, und auch nicht die "katholische Frauengemeinschaft" oder das "Zentralkomitee der deutschen Katholiken".
Wer meint, einen Kirchenstreik ausrufen zu müssen, sollte auch wissen, vor wem er dafür einmal Rechenschaft ablegen wird. Auf den Tag gehen wir alle zu, ob wir daran glauben oder nicht. Natürlich werden solcher Unmut und Aufruhr auch bisweilen von geschmeidigen und ermutigenden Verlautbarungen und Mitteilungen einzelner Bischöfe begünstigt. Zuweilen entsteht der Eindruck, sicher auch bedingt durch die medial zurechtgeschnittenen Verkürzungen dieser episkopalen Statements, dass es überhaupt nicht mehr um eine Erneuerung der Kirche geht. Soll eine postmoderne Anpassung der Moraltheologie an scheinbar zeitgenössische Modeerscheinungen erfolgen? Eine Anpassung, in der mitunter das, was vom Katechismus als Sünde eindeutig benannt ist, als formgebendes Gestaltungsprinzip aufzutreten scheint?
Erinnert sich heute überhaupt noch jemand an das Lehramt und die Lehre der Kirche?
Der Bischof, als Lehrer des Glaubens, darf rein politisch für vieles Verständnis, ob für Proteste zum Klimaschutz oder für andere Oppositionsbewegungen, und auch zu allem anderen eine eigene Meinung haben – wie jeder andere Mensch hierzulande auch. Aber als Bischof ist er dazu bestellt, das Evangelium und die Lehre der Kirche unverkürzt zu verkünden und glaubwürdig zu vertreten. Für Bischöfe, Priester und Weltchristen gleichermaßen könnte gelten, jeder nach seiner Gabe und entsprechend seiner Berufung: Die Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte ist gültig, sie darf, soll und muss also auch bezeugt und verkündet werden. Wenn das aber nicht geschieht – warum auch immer –, so hätte meine Tante gesagt: "Hält man nicht für möglich!"
Vielleicht könnte es hilfreich sein, sich eine Episode aus der Nachkonzilszeit zu vergegenwärtigen – und die Wortmeldung eines vernünftigen Protestanten zu bedenken. Am 24. Juni 1966 empfing Karl Barth in Basel einige Theologen aus Deutschland. Die katholische Kirche, so erklärte ein bekannter Tübinger Gelehrter namens Hans Küng, stünde erst am Beginn einer "Revolution". Der Gastgeber widersprach entschieden und warnte vor diesem Ansinnen. "Für eine christliche Kirche ist eine Reformation gerade genug", so beschied Barth energisch, seinem Assistenten Eberhard Busch zufolge, dem jungen Professor, der behauptet hatte, die Konstitutionen des Konzils seien "nur der kleine Anfang einer erst noch zu erwartenden großen Bewegung, die man selbst nicht aus ihnen herauslesen könne".
Auf den synodalen Wegen in Deutschland mögen noch andere Phänomene auf uns warten – und einige fromme Katholiken werden noch oft sagen und denken: "Hält man nicht für möglich!" Katholiken allen Alters, und zwar die deutliche, überwältigende Mehrheit, werden in diesen Tagen aber auch dankbar sein und bleiben, dass sie zur heiligen Messe gehen und diese mitfeiern dürfen – und einige werden in ihr freudig Dienste verrichten, zur Ehre Gottes, auch weil sie wissen, dass sie nicht einem weltlichen Klub oder Verein dienen, sondern in Liebe Christus und Seiner Kirche verbunden sind. Sie begehren weder Ämter noch Auszeichnungen oder Medaillen, aber sie sind froh, in der Kirche des Herrn zu Hause sein zu dürfen.
Gläubige Katholiken sprechen ihr Credo vom Herzen her, so können wir auch sagen, als ganze Person, mit Sinnen und Verstand. Vielleicht kann ein jeder von uns sagen: Mein Herz schlägt katholisch.
Wir sind als Katholiken alle auf gewisse Weise auch in Rom geboren. Schon das allein kollidiert mit den Vorstellungen eines neukatholischen Regionalismus. Darum sind wir auch dankbar für klare Wortmeldungen von Lehrern des Glaubens. Der Regensburger Bischof Dr. Rudolf Voderholzer sagte am 11. Mai in der Abtei Heiligenkreuz im Rahmen eines Vortrags:
"Noch wichtiger als synodale Wege ist, dass wir alle uns verpflichten, das unsere einzubringen, um das Reich Gottes in der Welt aufzubauen und unsere je eigenen Christusbeziehungen bewusster und nachdrücklicher zu pflegen. Das ist der Erneuerungsweg der Kirche heute wie zu allen Zeiten. Er gelingt, wenn wir uns um Heiligkeit bemühen. Nicht Mehrheit, sondern Heiligkeit, das muss unser Ziel sein. … Ein synodaler Prozess, der meint, vor allem die Kirche neu erfinden zu sollen, beschreitet einen Weg der Zerstörung. Er zerspaltet die Christen, er zerstückelt die Kirche, er beschädigt letztlich auch unsere Gesellschaft und belastet auch die evangelischen Glaubensgemeinschaften. Er führt uns in die Enge hausgemachter Selbstbeschäftigung, keineswegs aber in die Weite, die der Herr uns eröffnet hat. … Die Weltchristen sind berufen, sich als Christen prägend und gestaltend einzubringen in die Politik, die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Medienwelt oder die Kunst. Als getaufte und gefirmte Christen sind sie befähigt, diesen Dienst in eigener Verantwortung auszuüben. Das sind die Elemente weltchristlicher Berufung und sie zu leben, schenkt den Christen und der Kirche Ausstrahlung und missionarische Kraft."
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