München - Montag, 12. September 2016, 12:00 Uhr.
Gleich aus mehreren Gründen hat das Buch "Benedikt XVI. Letzte Gespräche" weltweite Schlagzeilen gemacht, das der Autor und Papst-Kenner Peter Seewald nun veröffentlicht hat. Gründe, die Kurienerzbischof Georg Gänswein – neben anderen Themen – in der Rede zur Sprache bringt, die er am heutigen Montag bei der Vorstellung des Buches im Münchner Literaturhaus gehalten hat. CNA dokumentiert die Worte des Präfekten des Päpstlichen Hauses und langjährigen Privatsekretär Benedikts:
DAS LETZTE AMEN
Sehr geehrte Damen und Herren!
Genau heute vor 10 Jahren hielt Papst Benedikt XVI. - in genau dieser Stunde! - in Regensburg eine Jahrhundertrede, als er in seiner alten Alma Mater aus einem Gespräch aus dem Jahr 1391 des byzantinischen Kaisers Manuel II. mit einem gebildeten Perser über das Christentum und den Islam und die Wahrheit zitierte. Im Nachhinein, heute erscheint manchen die Rede als prophetisch, die damals allerdings auch einen ersten Aufruhr der islamischen Welt auslöste, wofür ihn die Journalisten des Westens fortan als "Professor Papst" verspotteten.
Doch heute feiert die katholische Kirche wie vor zehn Jahren auch noch das Fest Mariä Namen - in Erinnerung an den Sieg der christlichen Heere Europas in der Schlacht vom Kahlenberg vor Wien, wo sie am 12. September 1683 unter dem Pontifikat von Papst Innozenz XI. die Osmanische Eroberung des Abendlands stoppten.
"An Mariä Namen sagt der Sommer Amen", sagte man lange im katholischen Deutschland, besonders auf dem Land, wo ich herkomme und aufgewachsen bin, und wo der 12. September lange Zeit auch eine ganz praktische rechtliche Bedeutung hatte. Es war das Ende der Ernte und ab heute durften deshalb die Armen der Umgebung das liegen gebliebene Korn von den abgeernteten Feldern aufsammeln.
Und vielleicht trifft dieser letzte Aspekt ja am besten einen fast schon providentiellen Grund dieser Zusammenkunft, wo ich die Ehre habe, Peter Seewalds Buch "Letzte Gespräche" mit Benedikt XVI. vorzustellen, dem ich seit 2003 als Privatsekretär diene, und der dieses Buch nach seinem Amtsverzicht noch höchstpersönlich gegengelesen und genehmigt hat.
Da mag nun eine erste Klarstellung hilfreich sein. Diese "Letzten Gespräche" sind kein streitbarer "hard talk" im Stil der berühmten Serie der BBC, und Peter Seewald hat erst gar nicht versucht, Benedikt XVI. journalistisch zu "grillen", wie es in der angelsächsischen Medienwelt genussvoll heißt. Vielmehr enthält das Buch die Aufzeichnung freundlicher Gespräche vor und nach dem Amtsverzicht des Papstes, in einem intensiven Abfragen der Erinnerung, wo zwei ganz unterschiedliche, doch durch und durch bayrische Seelen – das darf ich als Schwarzwälder wohl sagen – im Tonfall und von Herz zu Herz zueinander finden. Die großen Fragen hatte Peter Seewald Kardinal Joseph Ratzinger schon vor zwanzig Jahren für das "Salz der Erde" und "Gott und die Welt" sowie Papst Benedikt XVI. vor rund acht Jahren für das "Licht der Welt" gestellt. Zu diesen bedeutenden Gesprächsbänden kommt hier nun ein Band mit einer Auswahl neugieriger Fragen, die Seewald selbst noch hatte, in einem Feld, das für viele fast schon abgeerntet schien, zu einer Biografie Joseph "Benedikt" Ratzingers, über die er sich schon seit Jahren beugt, aber offensichtlich nicht mehr so recht vorwärts kommt.
Neben einer Variation schon bekannter Details zu seinem Leben überraschen die Antworten des Papa emeritus deshalb diesmal durch eine ganz eigene und neue Intimität, in die das Buch den Leser mit hinein nimmt, und durch eine fast unverblümte Sprache, wenn wir hier etwa aus dem Mund des zurück getretenen Papstes vom "großen Mundwerk" seines Widersachers Hans Küng erfahren, oder - besonders heute und hier am Münchener Salvatorplatz! – vom ehemaligen Erzbischof von München und Freising hören, wie er ohne Filter von den "Münchnern in ihrem bisserl Größenwahn", spricht, den sie seinem Empfinden nach "ja haben". Oder wo wir in einer anderen Sequenz plötzlich unvermittelt von der vorehelich geborenen Mutter Benedikts XVI. lesen, worüber die beiden freimütig sprechen.
Dieser zwanglose Ton verleiht dem Band eine bisweilen fast zauberhafte Leichtigkeit und ungezwungene Heiterkeit, wo es vor den Antworten Benedikts immer wieder in Klammern heißt: "holt tief Luft", "tiefes Einatmen","schmunzelt", "lacht", "lacht auf", ,"lacht laut", "amüsiertes Lachen", "heftiges Lachen" oder "Papst lacht lauthals" - zum Beispiel auf die Nachfrage Seewalds, ob Joseph Ratzinger denn in Konzilszeiten mit der Theologenkommission auch wirklich im römischen Trastevere "gezecht" habe.
Deshalb berührt es auch um so stärker, dass wir da – auf Seite 61 - einmal ebenso unvermittelt in Klammern lesen: "der Papst weint" - bevor der alte Mann sich zu jener Abendstunde des 28. Februar 2013 äußert, als er über dem Geläut aller Glocken Roms im weißen Helikopter nach Castel Gandolfo entschwebte, in die Abendstunden seines Lebens hinein. Da "wusste ich", sagt er dann, dass er in diesem Moment "des Darüberschwebens und dabei die Glocken von Rom läuten zu hören, da wusste ich, dass ich danken darf und dass die Grundstimmung die Dankbarkeit ist. Das hat mich schon sehr bewegt."
Auf diesem Abflug saß ich ja neben ihm, selbst zutiefst erschüttert, wie jeder weiß, der diesen Abschied vor dem Bildschirm verfolgt hat. Und ich weiß, dass er im Gegensatz zu mir damals nicht weinte, wenn ich das hier verraten darf und ich habe die Glocken Roms unter uns auch selbst bis jetzt noch im Ohr auf jenem Schicksalsflug, bevor wir in seinem geliebten Castel Gandolfo landeten, wo er sich ein letztes Mal auf dem Balkon des Papstpalastes mit einem "buona sera" von den Menschen auf dem Platz und von allen Katholiken der Erde als Papst verabschiedete.
Doch ich muss ehrlicherweise gestehen, dass mir heute bei der Lektüre eher an jenen Stellen die Tränen kommen könnten, wenn ich in diesen Aufzeichnungen immer wieder lese, welch ein leidenschaftlicher Fußgänger und Wanderer der alte Papst doch Zeit seines Lebens war. "Im Gehen war ich immer gut," sagt er an einer Stelle, "ich bin ja viel gewandert," an einer anderen, während ich heute doch vor allem vor Augen habe, wie der leidenschaftliche Wanderer von Tag zu Tag nur noch zu immer kleineren Schritten imstande ist. Seit vielen Monaten muss mir deshalb auch keiner mehr den guten Sinn seines Rücktritts von seinem überschweren Amt vor Augen führen. Denn das sehe ich ja jeden Tag mit meinen eigenen Augen, was meinem Verstand kein Buch besser erklären könnte.
Zeichnet dieser Band den Leserinnen und Lesern denn nun ein neues Bild der Person Benedikts XVI.?
Hier darf und muss ich mich natürlich ausnehmen, weil ich ihn ja, wie gesagt, täglich vor Augen habe und fast jeden Tag neue "letzte Gespräche" mit ihm führen darf. In den anekdotenreichen Hintergrundgesprächen Seewalds ist deshalb für mich auch vieles Ornament - wo aber die öffentliche Wahrnehmung der Person Benedikts XVI. dennoch um viele überraschende und aufschlussreiche Facetten bereichert wird – und zwar in einem oft auf gut bayrisch "ratschenden" Plauderton. In mehr als einer Hinsicht ergänzt und korrigiert dieses Buch die Kenntnis vieler Leser vom ersten Pontifikat des dritten Jahrtausends deshalb auf fast beiläufige Weise vielleicht entscheidend.
Da ist erstens das Wurzelgeflecht der Gründe und Motive und die genauen Umstände vom rätselhaften Amtsverzicht Benedikts. Zweitens sein Verhältnis zu seinem Nachfolger Franziskus. Drittens seine persönliche Sicht auf die verschiedenen Krisen und "Skandale" seines Pontifikats und nicht zuletzt die zutiefst menschliche Dimension des wohl letzten abendländischen Monarchen an der Spitze der katholischen Kirche, dem Macht nie etwas bedeutete und der als die "glücklichste Zeit" seines Lebens jene rund zwölf Monate bezeichnet, als er nach seiner Priesterweihe am 29. Juni1951 ein Jahr lang als junger Kaplan in der Pfarrei Heiligblut in München arbeiten durfte.
Doch um mit dem Ersten zu beginnen:
Peter Seewald hat dem heiligen Vater die berühmte QUO VADIS-Frage nie gestellt, also jenes legendäre "Wohin gehst du?", wie Christus selber Petrus fragte, als der Apostelfürst und Vorläufer aller Päpste über die Via Appia aus der brennenden Hauptstadt floh, die Kaiser Nero in Brand gesteckt hatte. Seewald hat auch nicht nach jener Passage aus der Antrittspredigt Benedikts vom 24. April 2005 gefragt, wo der neu gewählte Papst den Gläubigen zurief: "Betet für mich, damit ich vor den Wölfen nicht davon laufe!"
Hier sehen wir, warum. Die Fragen hätten nirgends gepasst. Denn das macht der Papa emeritus immer wieder selber klar: es war keine Flucht, Rom brannte nicht, es heulten keine Wölfe unter seinem Fenster und sein Haus war wohl bestellt, als er den Staffelstab zurück in die Hände des Kollegiums der "Herren Kardinäle" legte.
Oder in seinen eigenen Worten: " Ich bin überzeugt, dass es nicht eine Flucht war, schon gar nicht vor praktischem Druck, der nicht da war. Man darf nie weggehen, wenn es ein Davonlaufen ist. Man darf nie vor Pressionen weichen. Man darf nicht im Augenblick des Sturms davongehen, sondern muss dann standhalten. Man darf nur weggehen, wenn niemand es verlangt. Und niemand hat es verlangt zu meiner Zeit. Niemand. Mir war klar, dass ich es tun musste und dass dies der richtige Augenblick war. Es war für alle eine völlige Überraschung."
Der Arzt hatte ihm gesagt, er dürfe nicht mehr über den Atlantik fahren. Wegen der Fußball-Weltmeisterschaft war aber der nächste Weltjugendtag von 2014 auf 2013 vorgezogen worden. Sonst hätte er schon noch durchzuhalten versucht bis 2014. "Aber so wusste ich: Das schaffe ich nicht mehr. Und alle anderen "Dinge waren im Februar 2013 vollkommen bereinigt." So sah er da auch den Zeitpunkt gekommen, sich "von den bisherigen großen Menschenmengen zu lösen und mich in diese größere Intimität hinein zu begeben."
Es war, sagt er weiter: "aber auch keine innere Flucht vor dem Anspruch des Glaubens, der den Menschen ins Kreuz hineinführt. Der Schritt ist keine Flucht, sondern eben eine andere Weise, meinem Dienst treu zu bleiben."
Hat er den Rücktritt denn nur eine Minute bereut?
Die Antwort ist vehement: "Nein. Nein, nein. Ich sehe jeden Tag, dass es richtig war." Es gebe auch keinen Aspekt, den er nicht bedacht habe. Im Gegenteil. Alles sei nur besser gekommen, als er es planen konnte! Daher auch dies: "Als Gescheiterten kann ich mich nicht sehen. Ich habe acht Jahre meinen Dienst getan."
Und was ist an den vielen Verschwörungstheorien, will Seewald wissen, die seit seinem Rücktritt nicht verstummen wollen. Erpressung? Verschwörung? Darauf hat der Papa emeritus nur eine Antwort, kurz angebunden: "Völliger Unsinn!" - In Wahrheit bleibe hingegen dies aus seinem Schritt zu lernen und als neue Erkenntnis zu beherzigen: " Der Papst ist kein Übermensch. Wenn er zurücktritt, bleibt er in einem inneren Sinn in der Verantwortung, die er übernommen hat, aber nicht in der Funktion. Insofern hat das Papstamt von seiner Größe nichts verloren, auch wenn die Menschlichkeit des Amtes vielleicht deutlicher hervortritt."
Da ich – wie gesagt - täglich mit Benedikt XVI. im Gespräch bin, war mir all dies nicht neu und ich kann es nur als authentisch unterstreichen. Persönlich, muss ich aber sagen, schien mir in diesem Zusammenhang eine andere Passage irgendwie neu und bezeichnend und besonders erhellend, auch wenn sie an ganz anderer Stelle in dem Buch erscheint.
"Ende April, Anfang Mai 1945", erinnert ihn Seewald nämlich an eine Aussage der Erinnerungen Joseph Ratzingers von 1998, wo es heißt, "entschloss ich mich nachhause zu gehen". Das klingt lapidar. Joseph Ratzinger war 1945 17 Jahre alt, und dienstverpflichtet an einem der Flakhelfer-Standorte in der Umgebung seiner Heimat. "In Wirklichkeit war das Fahnenflucht", erinnert ihn deshalb Seewald, "worauf die Todesstrafe stand. War ihnen das nicht bewusst?"
Seine Antwort: "Ich wundere mich nachträglich darüber. Ich wusste, dass da Posten stehen, dass man sofort erschossen würde und dass so etwas eigentlich nur schlecht ausgehen kann. Warum ich trotzdem so ungeniert nach Hause gegangen bin, kann ich mir eigentlich nicht mehr erklären, welcher Grad von Naivität mir da zu eigen war."
Es ging aber gut aus, und nicht schlecht! - Und hier, muss ich gestehen, wurde ich deshalb bei der Lektüre von einer Art Déjà-vu-Erlebnis heimgesucht, jedoch in einem umgekehrten Sinn, die bei mir die Frage aufwarf, ob in diesem prägend lebensrettenden Jugenderlebnis Joseph Ratzingers nicht auch ein verborgener Schlüssel zu suchen ist für seinen spektakulären Schritt am Lebensende, an dem er sich so sicher wie ein Schlafwandler gegen 1000 Widerstände und viele guten Gründe im Sommer 2012 ein zweites Mal einfach und still "entschloss, nach Hause zu gehen."
Hier komme ich zu meinem zweiten Punkt. Was erfährt die Weltöffentlichkeit über das Verhältnis des Papa emerito zu seinem Nachfolger Franziskus?
Erstens: Er hatte überhaupt nicht mit Jorge Mario Bergoglio gerechnet. Der Erzbischof von Buenos Aires war für ihn "eine große Überraschung". Er hatte überhaupt keine Vorstellung von seinem Nachfolger. Wie er dann nach der Wahl aber – am Fernseher in Castel Gandolfo - sah, wie der neue Papst "einerseits mit Gott redete, andererseits mit den Menschen, da war ich wirklich froh. Und glücklich." Und was sagt er dazu, dass Franziskus auf der Loggia ganz in Weiß erschien, ohne die rote Mozzetta, dem bis dahin traditionellen Umhang der Päpste? "Er hat eben die Mozzetta nicht haben wollen. Das hat mich gar nicht berührt." Doch "diesen Aspekt der Herzlichkeit, der ganz persönlichen Zuwendung, habe ich zuvor (an dem Erzbischof von Buenos Aires) nicht so erlebt. Das war für mich eine Überraschung!"
Und nach der bisherigen Amtszeit von Papst Franziskus – ist er da zufrieden? Ohne Umschweife antwortet er: "Ja, da ist plötzlich eine neue Frische in der Kirche, eine neue Fröhlichkeit, ein neues Charisma, das die Menschen anspricht, das ist schon etwas Schönes. Viele sind dankbar, dass nun der neue Papst in einem neuen Stil auf sie zugeht. Der Papst ist der Papst, ganz gleich, wer er ist." Mit seiner Art hat er "keinerlei Problem. Im Gegenteil ich finde das gut, ja." Zu seinem eigenen Pontifikat sieht er "nirgendwo einen Bruch". Er sieht "neue Akzente ja, aber keine Gegensätze. Er ist ein Mann der praktischen Reform. Und dann ist da auch der Mut, mit dem er Probleme anspricht und nach Lösungen sucht."
Und mehr noch: in mancher Hinsicht sieht er sich und seinen Petrusdienst durch seinen Nachfolger auch korrigiert, wie er offen einräumt, etwa "durch die direkte Zuwendung zu den Menschen. Das ist sehr wichtig. Er ist durchaus auch ein Mann der Reflexion. Und ein nachdenklicher Mensch, aber zugleich jemand, der es gewohnt ist, immer unter Menschen zu sein. Und vielleicht bin ich ja tatsächlich nicht viel genug unter den Menschen gewesen."
So durchzieht überhaupt ein erstaunliches Maß an Selbstkritik - gewürzt durch manche Selbstironie - die Erinnerungen, die Peter Seewald in ihm abruft, und auch die Fähigkeit zu fast kindlicher Freude bis ins hohe Alter. Zum Konzil zum Beispiel, an dem er als junger und viel versprechender Berater von Kardinal Frings aus Köln teilnahm, und über die Reform des Konzils, an der er "sich jetzt noch freut", räumt er dennoch umstandslos ein: "Wir haben da zu sehr im Theologischen gedacht und nicht überlegt, welche Außenwirkung diese Dinge haben werden" und: es "gab da auch viele Spinnereien und Zerstörungen." In jenen Tagen sah er sich selbst übrigens als Progressisten. Andere meinten, er sei ein Freimaurer, der "wiederholt angeschwärzt" wurde. Warum? "Weil ich eben unfähig sei oder was. Und natürlich auch häretisch und so weiter."
Tatsächlich ist er aber auch immer wieder verwundert über sich selbst, und seine "Naivität", wie er es nennt, und darüber, "mit welcher Dreistigkeit ich damals – in Konzilszeiten – gesprochen habe, " der sich auch jetzt noch - auf Seewalds ungläubige und verwunderte Nachfrage - als "echten Fan von Johannes XXIII." bezeichnet und von dessen "völliger Unkonventionalität".
Er selbst hingegen hat erst als Erzbischof von München und Freising mit dem gewohnten Radfahren aufgehört, weil er "so unkonventionell nicht zu sein wagte." Im übertragenen Sinn aber war er überhaupt nie ein Radfahrer, der nach oben buckelte und nach unten trat. Er buckelte und buckelt vor keinem. Im Gegenteil. In seiner fast schon sprichwörtlichen Arglosigkeit hat er oft gerade seine Gegner und "Nichtfreunde" gefördert und geschützt wie etwa Hans Küng - oder auch Kardinal Kasper. Wäre er nur eine Woche später zurückgetreten, hätte sein schwäbischer Kardinalskollege - wegen der fälligen Überschreitung der Altersgrenze für Kardinäle und ihrer möglichen Teilhabe an der Papstwahl - nicht mehr am Konklave für seinen Nachfolger teilnehmen können! Doch solche Gedanken, wie überhaupt alle taktischen und strategischen Machtspiele blieben ihm Zeit seines Lebens fremd. "Alle wussten, dass ich keine Politik mache", sagt er einmal, "und das hemmt Feindschaft. Man weiß: Der ist nicht gefährlich."
Jetzt hingegen schreibt er Sonntag für Sonntag Predigten für vier, fünf, manchmal auch acht oder neun Leute in seinem "Klösterchen", der früher vor tausenden sprach. Es ist ihm ein Gleiches. Die eher spöttische Rede vom "Professor Papst" aber kam bei ihm offensichtlich eher als Kompliment denn als Schmährede an, vielleicht auch aus seiner Unfähigkeit, Zynismus selbst auch nur zu denken. Denn: "Ich bin eben doch tatsächlich mehr Professor, jemand, der die geistigen Dinge überlegt und bedenkt. Ich wollte mein Leben lang ein richtiger Professor sein." Das war und blieb er dann auch bis heute: ein deutscher Universitätsprofessor, der gern Stimmen imitiert wie das Schwyzerdütsch Hans Urs von Balthasars und der seine zahllosen Reden und Werke bis zuletzt allesamt mit Bleistift niederschrieb, in einer selbst entwickelten Ultra-Steno-Schrift, um mit der Geschwindigkeit seiner Gedanken mithalten zu können. Und der sich auch in Krisenzeiten seine sieben bis acht Stunden notwendigen Schlafs in der Nacht nie rauben oder nehmen ließ, auch nicht seine Siesta, an die er sich seit 1963, seit seinen römischen Konzilsjahren, gewöhnt hatte, als jemand der vor allem sehr, sehr gern am Schreibtisch saß und dessen unverzichtbares Instrument zur Geburtshilfe seiner gründlicheren Gedanken ein bequemes Kanapee war. Zitat: "Ein Kanapee brauch ich immer. Und möglichst absolute Stille."
"Die politische Bedeutung" seiner Regensburger Rede und den internationalen Lärm darum hat er, wie er offen zugibt, in dieser Stille einfach "nicht richtig eingeschätzt". Überhaupt hat der große Denker und Dichter große Anstöße immer wieder wie unbeabsichtigt gegeben, wie ein Wunderkind.
Als er am 1. März 1982 in Rom ankam, um den Vorsitz der Glaubenskongregation zu übernehmen, konnte er noch so gut wie kein Italienisch und hatte keine Zeit für einen Italienisch-Kurs. "Italienisch habe ich nur im Mitreden gelernt. Das blieb natürlich auch mein Handicap." Wie am Anfang fiel er deshalb auch am Ende – bei seiner Verzichtserklärung – ins Lateinische zurück, das er bis heute glänzend beherrscht.
Dass Menschenkenntnis nicht seine Stärke ist, gibt er ebenso unumwunden zu wie eine gewisse Vorsicht und Ängstlichkeit, der darum auch oft "sehr behutsam und vorsichtig war, "weil ich", wie er sagt, "die Grenzen der Menschenkenntnis bei anderen und bei mir selbst oft erfahren habe."
Im September 1991 hat der Nichtraucher und Nichttrinker eine Gehirnblutung erlitten. "Jetzt kann ich nicht mehr" hat er Johannes Paul II. danach gesagt, der seinen Rücktritt damals gleichwohl kategorisch ablehnte. "91 bis 93 waren schwierige, mühsame Jahre", sagt er lakonisch dazu. 1994 kam eine Embolie dazu, danach kam es zu einem gelben Fleck auf der Netzhaut. Seitdem sieht er mit dem linken Auge nur ganz schlecht, also schon Jahre vor seiner Wahl zum Nachfolger Petri. Ein Aufhebens hat er nie davon gemacht. Der halbblinde Papst! Wer hat das je schon gewusst?!
Vielleicht ist Benedikt XVI. deshalb für viele auch noch nie so menschlich geworden wie hier in diesem letzten Buch – in seinen großen Stärken und seinen kleinen Schwächen und Gebrechen. In keinem seiner anderen Interview-Bücher hat er so viel gelacht. Und niemals und nirgends geweint.
Ich habe die Druckfahnen oft lesen müssen und am Schluss das Buch dann quasi in einer Nacht noch einmal gelesen. Viele Seiten könnte ich deshalb fast auswendig wiederholen.
Finden wir in diesen letzten Aussagen Benedikts XVI. denn nun vielleicht sein Testament oder eine letzte Korrektur seines Testaments? Das wohl eher nicht. Sein Testament als Papst findet sich in den 9 Bänden der "Insegnamenti", die er von seinem Pontifikat hinterlassen hat, vor allem aber in seinen Jesusbüchern, die er "einfach schreiben musste, weil die Kirche am Ende ist, wenn wir Jesus nicht mehr kennen". Und wir finden manche testamentarischen Erkenntnisse auch im "Salz der Erde", in "Gott und die Welt" und dem "Licht der Welt", die Peter Seewald von ihm schon aufgezeichnet hat.
In gewisser Hinsicht leistet dieses Buch hingegen auf unspektakulär beiläufige Weise eine letzte Dekonstruktion seines alten Bildes bei Freund und Feind. Er lässt nirgends zu, dass der Interviewer ihn auf ein Podest hebt. Er sperrt sich hartnäckig und widerspenstig gegen den Entwurf eines Denkmals seiner selbst und sabotiert amüsiert und auf das liebenswürdigste, wo er nur kann, jeden Versuch einer Heiligsprechung zu Lebzeiten. Oder - historisch kritisch gesprochen - er entmythologisiert sich hier immer wieder selbst, auch Peter Seewald gegenüber.
Im Vertrauensraum dieser Gespräche fragt Seewald ihn bisweilen neugierig wie ein Kind seinen Großvater. Doch auch der hochgelehrte Kirchenmann selbst wirkt in seinen Antworten hier mehr als einmal unschuldig wie ein Kind, das lange auf dem Papstthron saß, rätselhaft und unergründlich, als ein Kind des heiligen Geistes, das zwischen brillanten Analysen auch völlig unbefangen davon erzählt, wie sehr er sich an Spielen "wie ‚Mensch ärgere dich nicht’ und solchen Sachen" erfreuen konnte, wo er doch so lange auch "eine starke Seele brauchte, um all den Schmutz zu verdauen", der ihm etwa als Chef der Glaubenskongregation unter die Augen kam. Als ein großes Kind Gottes, mit entwaffnender Milde, das sehnsüchtig wie der heilige Augustinus danach verlangt, endlich in jenes "Immerdar" zu gelangen, von dem es im Psalm 105 heißt "Sucht immerdar sein Angesicht" – und als ein Kind, das immer noch heim will, "wo es wieder so schön sein wird, wie es bei uns zu Hause war" .
Aber auch als einen hintergründig und leise lächelnden Mann von einem fernen Zeitalter offenbart er sich hier, aus "quasi prähistorischer Zeit", wie er selbst einmal halb ironisch bemerkte. Trotz seiner überragenden und hellwachen Intelligenz und Bildung ähnelt er hier nirgendwo auch nur von ferne jenem machtverliebten Gernegroß und furchteinflößenden Großinquisitor, als der er so oft von seinen "Nichtfreunden" verzerrt und verzeichnet wurde.
Persönlich, muss ich gestehen, rief die Lektüre dieser Gespräche deshalb mehr als einmal das wehmütige Bild vom "Kleinen Prinzen" Antoine de Saint-Exupérys in mir wach – wenn Sie mir diese Anleihe bei dem französischen Piloten und Himmels-Dichter gestatten - und dabei muss ich nun auch selber lachen: Ein päpstlicher kleiner Prinz in roten Schuhen (in den Schuhen des Fischers!). Von einem fremden Stern - als ein herabgefallener Bote des Himmels für unsere Zeit, obwohl ich aus nächster Nähe vielleicht besser als jeder andere weiß, dass weder Joseph Aloisius Ratzinger noch Benedikt XVI. auch in dieser poetischen Figur natürlich durchaus nicht aufgehen.
Doch damit soll es hier genug sein.
Schließen möchte ich deshalb gern mit der Bauernweisheit des Tages vom Anfang dieser Vorstellung: "An Mariä Namen sagt der Sommer Amen."
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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— CNA Deutsch (@CNAdeutsch) June 25, 2016