Jerusalem - Donnerstag, 6. Juli 2023, 6:15 Uhr.
Der lateinische Patriarch von Jerusalem hat die israelische Regierung verurteilt und zu Frieden und Dialog zwischen beiden Seiten aufgerufen, nachdem die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) Luft- und Bodenangriffe auf das Flüchtlingslager Dschenin im palästinensischen Westjordanland ausgeführt haben.
Die IDF-Soldaten führten ab Montag eine 48-stündige Militäraktion durch, um "terroristische Infrastrukturen" zu zerstören, hieß es in einer Erklärung der IDF.
Bei den Angriffen wurden mindestens 12 Menschen getötet, darunter fünf Minderjährige. Mehr als 100 weitere Personen wurden in Krankenhäuser eingeliefert, mindestens 20 befinden sich in kritischem Zustand. Die Militäroffensive zerstörte auch Häuser, Gebäude und Straßen im gesamten Lager und legte die Wasserversorgung und das Stromnetz in den meisten Teilen des Lagers lahm. Tausende von Palästinensern flohen vor dem Angriff.
Patriarch Pierbattista Pizzaballa, der für die Katholiken des lateinischen Ritus in Israel, Palästina und Jordanien zuständig ist, verurteilte die Militäroperation und beklagte die Schäden an der römisch-katholischen Gemeinde in Dschenin.
"In den vergangenen zwei Tagen war die Stadt Dschenin einer beispiellosen israelischen Aggression ausgesetzt, die auch unserer lateinischen Gemeinde in Dschenin großen Schaden zugefügt hat", so der Patriarch in einer Erklärung auf Twitter. "Wir verurteilen diese Gewalt, fordern einen Waffenstillstand und hoffen auf die Fortsetzung des Friedens und des Dialogs, um weitere ungerechtfertigte Angriffe auf die Bevölkerung zu verhindern."
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen, die den Verletzten medizinische Hilfe leistet, berichtete, viele der Verletzungen seien Schuss- und Schrapnellwunden. Weiter hies es, dass die Zerstörung von Straßen die Versorgung erschwere, und beschuldigte die IDF, Tränengas in ein Krankenhaus geschossen zu haben, wodurch es am Abend des 4. Juli unbenutzbar wurde.
"Die Notaufnahme ist im Moment nicht benutzbar, sie ist komplett mit Rauch gefüllt, ebenso wie der Rest des Krankenhauses", so die Erklärung. "Menschen, die behandelt werden müssen, können nicht in der Notaufnahme behandelt werden, und wir müssen die Verwundeten in der Haupthalle auf dem Boden versorgen."
Der Angriff am 3. und 4. Juli auf das Lager Dschenin, in dem etwa 11.000 Palästinenser leben, war die größte israelische Offensive im Westjordanland seit Anfang der 2000er-Jahre.
Nach Angaben der IDF ist das Lager von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) umgeben, die "auf IDF-Fahrzeuge und unschuldige Passanten zielen". Die IDF setzten speziell entwickelte Bulldozer ein, um die Sprengsätze zu zerstören. Die IDF erklärten außerdem, sie hätten weitere Waffen beschlagnahmt, die angeblich für Angriffe auf israelische Zivilisten verwendet werden sollten.
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Die IDF behaupteten außerdem, dass sie gegen "schwer bewaffnete terroristische Gruppen" kämpften. Bei der Razzia seien keine Nichtkombattanten getötet worden.
"Wenn wir sagen, dass wir alle Anstrengungen unternehmen, um Zivilisten zu schützen, und nur Terroristen angreifen, dann meinen wir das auch so", hieß es in einer Erklärung der IDF nach den Angriffen.
Der UN-Menschenrechtsbeauftragte Volker Türk erklärte, dass "der Einsatz von wiederholten Luftangriffen, zusammen mit der Zerstörung von Eigentum, eine Reihe von ernsten Problemen in Bezug auf internationale Menschenrechtsnormen und -standards aufwirft, einschließlich des Schutzes und der Achtung des Rechts auf Leben". Er fügte hinzu, der Einsatz von Luftangriffen sei nicht mit den internationalen Gesetzen für Strafverfolgungsmaßnahmen vereinbar.
"Im Kontext der Besatzung können die Todesfälle infolge solcher Luftangriffe auch auf vorsätzliche Tötungen hinauslaufen", sagte Türk. "Die israelischen Streitkräfte müssen sich bei ihren Operationen im besetzten Westjordanland an die internationalen Menschenrechtsstandards für die Anwendung von Gewalt halten; diese Standards ändern sich nicht, nur weil das Ziel der Operation als 'Terrorismusbekämpfung' angegeben wird."
Das Lager wurde 1953 eingerichtet, um Palästinenser zu beherbergen, die nach dem Palästinakrieg von 1948, der zur Gründung des Staates Israel führte und die meisten Palästinenser ins Westjordanland und in den Gazastreifen zwang, vertrieben wurden. Durch den Krieg wurden Hunderttausende von Palästinensern vertrieben. Beide Gebiete sind derzeit von Israel besetzt, das deren unabhängige Staatlichkeit nicht anerkennt.
Patriarch Pizzaballa sagte in einem Interview mit Vatican News, er befürchte weitere Angriffe in der Region und argumentierte, dass die Gewalt der israelischen Streitkräfte und militanter Palästinenser wahrscheinlich so lange anhalten werde, wie palästinensisches Land von Israel besetzt sei.
"Wir wissen, dass diese [Angriffe] vorübergehende Lösungen sind", sagte Pizzabala. "Zellen [des bewaffneten palästinensischen Widerstands] werden immer wieder auftauchen, und solange die strukturellen Probleme nicht gelöst sind, vor allem was die Würde, die Freiheit und die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes mit seinem eigenen Staat betrifft, werden diese vorübergehenden, schmerzhaften Situationen mit vielen Opfern auf beiden Seiten weitergehen."
Papst Franziskus hat in den letzten Jahren mehrfach beide Seiten aufgefordert, sich auf eine Zwei-Staaten-Lösung zu einigen. Der Vatikan unterzeichnete 2015 einen Vertrag mit Palästina und erkannte damit Palästina erstmals als unabhängigen Staat an.
Übersetzt und redigiert aus dem Original von Catholic News Agency (CNA), der englischsprachigen Partneragentur von CNA Deutsch.