Vatikanstadt - Freitag, 25. Dezember 2015, 8:42 Uhr.
Ein Stall in Bethlehem ist der Geburt des wahren Königtums. Doch aus der Demut, die wir muss auch unser Großmut wachsen, um die Kultur des Lebens aufzubauen, die dieses Königreich ausmacht: Daran hat Kardinal Kurt Koch in seiner Predigt an Heilig Abend erinnert. CNA dokumentiert die Homilie.
In göttlicher Weise vom Kleinsten umschlossen
Das Kind als Zeichen Gottes
„Nicht umschlossen werden vom Grössten, sich umschliessen lassen vom Kleinsten – das ist göttlich.“ Diese Worte hat der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin seinem Hyperion voran gestellt, und er hat mit ihnen sehr schön zum Ausdruck gebracht, was in seinen Augen wahrhaft göttlich ist. Die sensible Konzentration Gottes auf das Kleinste steht zweifellos quer zur modernen Lebenseinstellung, mit der wir auf das Grosse setzen und nur das Grösste für gross genug halten. In dieser menschlichen Grössenordnung suchen wir Menschen auch Gott vornehmlich im Grossen: sei dies in den Grossereignissen in der Geschichte, sei dies in den grossen Konstellationen des Weltalls oder sei dies bei den grossen Wendepunkten im menschlichen Leben. Gott gilt als so unermesslich gross, dass wir ihn auch für grenzenlos halten und es ihm nicht mehr zutrauen, dass er seiner Grösse selbst Grenzen setzt, um auf das Kleine und Kleinste zugehen zu können und um sich so klein zu machen, dass er von uns Menschen gefunden werden kann.
So zeigt sich Gott uns an Weihnachten. Er offenbart sich selbst im Kleinen und will im Kleinsten gefunden werden. Denn Gottes Zeichen ist das Kleine und damit Einfache. Gottes Zeichen seiner Gegenwart in der Welt ist das Kind, wie es die Engel den Hirten in der Heiligen Nacht ankündigen: „Das soll euch als Zeichen dienen; Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt“ (Lk 2, 12). In diesem Kind in der Krippe ist Gott selbst gegenwärtig; und in diesem Kind zeigt Gott an Weihnachten, dass er sich zu uns Menschen hernieder beugt und sich für uns Menschen klein machen kann. Gott ist so gross, dass er sogar noch das Grösste überschreiten und in das Kleinste hinein reichen will.
Weihnachten ist insofern die tiefste Bewahrheitung der Weisheit Hölderlins: „Nicht umschlossen werden vom Grössten, sich umschliessen lassen vom Kleinsten – das ist göttlich.“ An Weihnachten wird dies vor allem deutlich bei der Geburt Jesu, die alle Kleinheit unserer Welt übertrifft, was die Weihnachtsgeschichte mit drei Bildern veranschaulicht: Jesus wird unterwegs geboren. Es ist eine völlig improvisierte Geburt. Sozusagen am Strassenrand kommt Jesus zur Welt. Ja, er kommt buchstäblich zur Welt, wie sie nun einmal ist. Es ist aber auch eine ganz und gar unwillkommene Geburt. Denn in der Herberge war kein Platz für ihn da. Sozusagen ausserhalb unserer gesellschaftlich eingespielten guten Sitten kommt Jesus zur Welt. Denn er wird in einem Stall in eine Krippe gelegt.
Der Stall in Bethlehem als Beginn des wahren Königtums
Doch gerade dieser Stall hat Grundlegendes zu bedeuten. Auf nicht wenigen Weihnachtsbildern im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit wird der Stall von Bethlehem wie ein etwas heruntergekommener und abgewirtschafteter Palast dargestellt, der zum Stall verkommen ist. Er erinnert an den Thron des Königs David, dem zwar Ewigkeit zugesagt worden ist, der aber sein Königtum verloren hat, so dass nach ihm fremde Potentaten über Israel herrschten. Erst im Stall von Bethlehem und mit dem Kind, das in der Krippe in Windeln liegt, beginnt das davidische Königtum von neuem, wobei der neue Thron das Kreuz von Golgotha ist.
Wie David seine Sendung als Hirte begonnen hat, so beginnt das neue Königtum Gottes im armen Kind in der Krippe. Und wie nach David der Königspalast zur Hütte verkommen ist, so entsteht der neue Davidspalast und damit das wahre Königtum Gottes im Stall von Bethlehem und wird sich am Kreuz bewähren. Von ihm her wird sich die neue Gemeinschaft derer bilden, die sich von der Liebe Jesu Christi ansprechen lassen und mit ihm zusammen einen neuen Leib und damit eine neue Menschheit bilden.
In Jesus und seiner Geburt in Bethlehem erreicht Gottes Vorliebe für das Kleine seinen unüberbietbaren Höhepunkt. Aber auch heute geht Gott mit uns keinen anderen Weg: In der unscheinbaren Gestalt der Hostie, in einem kleinen Stücklein Brot schenkt er sich uns selbst. Denn die Eucharistie ist das neue Bethlehem, das genau übersetzt „Haus des Brotes“ heisst. Auch in der Eucharistie verbirgt und offenbart sich Gott zugleich im Kleinen.
Der unlösbare Zusammenhang zwischen dem historischen Bethlehem, wo der Gottessohn geboren worden ist, und dem eucharistischen Bethlehem, wo wir das Brot des Lebens empfangen, lag besonders dem Heiligen Franz von Assisis sehr am Herzen. Denn an beiden bethlehemitischen Orten hat er die zarte Demut Gottes wahrgenommen. Was sich historisch bei der Geburt Jesu ereignet hat, dies geschieht mystisch-sakramental in der Eucharistie: Während sich Gott im historischen Bethlehem in die Zerbrechlichkeit eines neugeborenen Kindes entäussert hat, entäussert er sich in der Eucharistie in die winzige Gestalt des Brotes. Von diesem Geheimnis der Demut Gottes war Franziskus so sehr fasziniert, dass es nur mit poetischen Saiten zum Klingen gebracht werden kann: „Der Herr des Alls / Gott und Gottes Sohn / Demütigt sich / Für unser Heil / Verbirgt er sich / In der winzigen Gestalt des Brotes.“
Im Geheimnis des verwandelten Brotes legt sich Christus selbst in unsere Hände und vor allem in unsere Herzen; und deshalb leuchtet in der Eucharistie das Weihnachtsgeheimnis auf: Dass Gott unendlich viel grösser ist, als wir ihn zu denken vermögen. Seine wahre Grösse aber besteht darin, dass er zum unendlich Kleinen, in dem wir ihn gar nicht erwarten, fähig ist. Er, der Schöpfer des Kosmos, der die ganze Welt umfasst, macht sich klein und begegnet uns eingeschränkt in der ohnmächtigen Hilflosigkeit eines Neugeborenen.
Demut als weihnachtliche Grundhaltung
Damit erschliesst sich uns der tiefste Grund, dass Gott nicht nur Mensch im Allgemeinen, sondern ganz konkret Kind werden wollte, um sich uns Menschen zu offenbaren. Wie die Geburt eines Kindes bei uns Menschen Freude auslöst und die Umarmung eines Neugeborenen Ausdruck von Rührung und Zartheit ist, so will der unendliche, erhabene und unfassbare Gott in der Armut und Ohnmacht eines Kindes für uns anrührbar sein. Grösser könnte in der Tat der Abgrund gar nicht sein, der zwischen der Ewigkeit Gottes und der Geschöpflichkeit eines Säuglings besteht. Doch diesen Abgrund hat Gott selbst einfürallemal überbrückt in der Kindwerdung seines eigenen Sohnes. Jesus Christus ist der wahre Brückenbauer zwischen Gott und uns Menschen und der wahre Pontifex zwischen Himmel und Erde. Im Stall von Bethlehem berühren sich Himmel und Erde, ja dort ist der Himmel auf die Erde gekommen, indem wahr geworden ist, was die Engel in der Heiligen Nacht verkündet haben: „Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2, 14).
So gesehen ist der Himmel nicht eine geographische Ortsangabe, sondern will unser Herz berühren. Der Himmel gehört nicht der Geographie des Raumes, sondern der „Geographie“ des Herzens zu und lädt uns ein, uns darauf zu besinnen, wie wir uns zum Weihnachtsgeschehen verhalten können. Wir können ihm nur in der Haltung ehrlicher Demut begegnen. Denn sie allein ist angebracht in der Begegnung mit der Demut Gottes, der sich selbst zum Kind macht und sich zu uns herunter beugt. Die Demut leuchtet im Weihnachtsevangelium in der Gestalt der Hirten auf, die sich auf den Weg machen zum Neugeborenen im Stall von Bethlehem und sich von seiner Demut anrühren lassen. Hier in Bethlehem begegnen wir der Demut Gottes und damit seinem Herz. Denn Gottes Demut ist der Himmel. Wenn wir auf diese Demut Gottes zugehen, dann berühren wir den Himmel und lassen wir uns mit jener Freude erfüllen, die in der Heiligen Weihnacht von den himmlischen Engeln her angesagt ist.
Grossmut im Aufbau einer Kultur des Lebens
Gott kommt als Kind zur Welt. In diesem Kerngeheimnis des christlichen Glaubens liegt es begründet, dass die menschliche Wärme des Weihnachtsfestes uns Menschen so unmittelbar berührt – wie bereits der Heilige Franz von Assisi Weihnachten mehr als jedes andere Fest geliebt und gefeiert hat, und zwar „mit einer nicht zu beschreibenden Freude“, wie Thomas von Celano, sein erster Biograph, überliefert: „Er sagte, dies sei das Fest der Feste, denn an diesem Tag ist Gott ein kleines Kind geworden und hat Milch gesaugt wie alle Menschenkinder. Franz umarmte – mit welcher Zärtlichkeit und Hingebung! – die Bilder, die das Kind Jesus darstellten, und sammelte voller Mitleid wie die Kinder Worte der Zärtlichkeit. Der Name Jesus war auf seinen Lippen wie Honig.“ Diesem Geheimnis können wir uns in der Tat nur in Demut nähern.
Solche Demut, die den Kern des christlichen Weihnachtsglaubens ausmacht, führt von selbst in den Grossmut im Einsatz für das Leben gerade der Kleinsten unter uns. Wenn uns Gott selbst im Neugeborenen im Stall von Betlehem begegnet, dann leuchtet ein Widerschein des Weihnachtslichtes Gottes in jedem Kind auf, vor allem in jenen Kindern, die in vielen Gegenden der Welt auch heute noch in grosser Armut das Licht oder doch wohl eher die Dunkelheit der Welt erblicken müssen; in jenen Neugeborenen und kranken Kindern, die im Caritas Baby Hospital in Bethlehem aufgenommen und gepflegt werden; in jenen Kindern, die Opfer von Prostitution und Pornographie sind; in jenen Neugeborenen, die nicht angenommen werden und Ablehnung finden, und in jenen noch Ungeborenen, die das Licht der Welt nie erblicken können. Wiewohl das Recht auf Leben zu den grundlegenden Menschenrechten gehört, werden wohl in keinem anderen Bereich Menschenrechte derart relativiert und verletzt wie im Bereich des menschlichen Lebens.
Für alle Menschen das Recht auf Leben zu garantieren, ist heute eine vordringliche Pflicht geworden, von deren Erfüllung die Zukunft der Menschheit abhängt. Für Christen, die Weihnachten feiern und im Neugeborenen im Stall von Bethlehem dem Angesicht Gottes begegnen, muss sich solcher Grossmut von selbst verstehen. Sie sind in besonderer Weise verpflichtet, sich für den heiligen und unantastbaren Charakter jedes Menschenlebens von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende stark zu machen und dabei vor allem für die Kleinen Partei zu ergreifen, in deren Augen das Licht der Weihnacht uns in besonderer Weise entgegen leuchtet. Dann kann auch in unserer Welt Himmel erfahrbar und das göttliche Geheimnis sichtbar werden, das der Dichter Hölderlin mit den tiefen Worten umschrieben hat: „Nicht umschlossen werden vom Grössten, sich umschliessen lassen vom Kleinsten – das ist göttlich.“ So wünsche ich Ihnen von Herzen ein göttliches Weihnachtsfest, das gerade in seiner Göttlichkeit wahrhaft menschlich und in seiner erhabenen Grösse so demütig klein ist. Amen.