28. Dezember 2021
Es ist der 24. November 2018, gegen 11 Uhr. Ich fahre im Taxi vom Hotel zum Louvre Abu Dhabi, Schmetterlinge im Bauch und in Vorfreude auf die großartige Architektur von Jean Nouvel, vor allem jedoch auf DAS BILD. Meine Vorfreude steigert sich zum Entzücken: Keine Schlange an der Kasse. Alles fährt zum Formel-1-Rennen.
Doch dann die Ernüchterung: ER ist noch nicht da! Der "Salvator Mundi" von Leonardo da Vinci, der vor einem Jahr für spektakuläre 450 Millionen US-Dollar bei Christies’ für den Louvre Abu Dhabi ersteigert wurde. Das Ministerium für Touristik, so wird mir mit Bedauern mitgeteilt, habe kurzfristig den Termin zur öffentlichen Präsentation des Bildes verschoben. Zum dritten Mal!
Vor der Buchung meiner Reise hatte ich mich vergewissert, dass das Werk ab Ende Oktober ausgestellt werden sollte. Nun liegt ja Abu Dhabi nicht direkt vor den Toren meiner bayerischen Kleinstadt Greding.
Ärger und Enttäuschung wurden zunächst verdrängt durch den Genuss des Museums. Doch dann: "There’s something rotten in the State of Denmark" (Hamlet). Da ist etwas faul. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Bild, weswegen auch das Ministerium mit seiner Präsentation immer noch zögert. Sollte eine Blamage vermieden werden? Diese Vermutung stützt sich auf die beiden folgenden Hypothesen:
Zum einen: Das Bild ist nicht von Leonardos Hand. Mit diesem Zweifel bin ich nicht allein auf weiter Flur. Die großen Leonardo-Kenner, von Matthew Landrus über Frank Zöllner bis zu Charles Hope und Michael Daley, sind sich einig über eine sehr qualitätsvolle Arbeit aus Leonardos Werkstatt. Bevorzugt wird Bernadino Loini genannt, als bester Leonardo-Schüler mit seinem übersteigertem Sfumato. Nur Vincent Delieuvin, Chef der Abteilung "16. Jahrhundert" im Pariser Louvre und Kurator der Leonardo-Jubiläumsschau 2019, verweigert jeglichen Kommentar.
Ich halte Boltraffio, den Intimus Leonardos, für den Maler. Doch bevor das Original in Augenschein genommen werden kann, muss es bei dieser Vermutung bleiben. Aufregender jedoch und vor allem schwerwiegender, ist folgende Erkenntnis: Die Figur stellt keinen "Salvator Mundi" dar, sondern den "Verführer der Welt". Viel schlimmer noch: den "Nachäffer Christi".
Blitzgescheit und sehr subtil und doch so ins Auge springend.
Der "Erlöser der Welt" von Albrecht Dürer, um 1505. (Foto: Metropolitan Museum, New York / Vatican Magazin)
Erstens: Die Halbfigur ist deutlich androgyn, mit einem weiblichen Mona Lisa-Decolleté. Zweitens: Der Segensgestus der erhobenen Rechten weicht vom klassischen Segensgestus ab. Drittens: Alle "Salvatores Mundi" von Jan van Eyck bis Albrecht Dürer halten eine christliche Sphaira in ihrer Linken, die vom Kreuz überhöhte Weltkugel: Christus Retter der Welt. Sie ist auch keine Weltkugel, sondern vielmehr ein kopernikanisches Modell des Kosmos vor Kopernikus mit der profanen Erdenwelt unten und den Fixsternenhimmel darüber.
Und nun erklärt sich die ganze Gestalt als Nachäffer des Herrn mit den provokant geschürzten Lippen und dem "bekifften Blick" (Paul Badde).
"Die Augen sind ein Spiegel der Seele", sagt Leonardo. Schauen wir in die Augen Annas und Mariens in der Zeichnung "Anna Selbdritt" im Louvre. Augen und Mund sprechen die Sprache der Liebe. Bei Mona Lisa lächelt nur der Mund mit den sanften Mundwinkeln. Die "Dame mit dem Hermelin" in Krakau spricht wieder eine andere Sprache, mit den stechenden Augen wie denen eines Tieres und den streng geschlossenen Lippen. Doch diese Augen sind erstens blau und zweitens sprechen sie Spott und Hohn. Und: Leonardo malt keine blauen Augen.
Die "Anna Selbdritt" von Leonardo da Vinci, 1510– 1513. Dieser Bildtypus stellt drei Generationen dar: die heilige Anna, die Mutter Mariens, die Gottesmutter selbst und das Jesuskind. (Foto: Louvre, Paris / Vatican Magazin)
Die Imitation ist wohlgelungen. Das wahre Antlitz Christi im Schleier von Manoppello ist bis ins Detail, bis ins genaue Maß perfekt. Das ist der Sinn der Sache. Für den erfolgreichen Verführer bedarf es des faustischen Mephisto. Auf den bocksbeinigen, gehörnten Teufel des Mittelalters als Verkörperung des Bösen fällt heute keiner mehr rein. Schön muss er sein und sanft in der Stimme. Da fällt der Widerstand schwer. So kommt uns dieser Nachäffer in perfekter Verkleidung entgegen. Als passender Antichrist unserer Zeit. In einem muslimischen Land.
Der "Salvator Mundi" ist ein Andachtsbild. Ein spätmittelalterlicher Bildtypus, eine Verdichtung des großen Pantokrators im byzantinischen Apsis-Mosaik sowie der "Majestas Domini" im westlich-römischen Apsis-Fresko, zum kleinformatigen Andachtsbild vor dem theologischen Hintergrund der dominikanischen Mystik Johannes Taulers und Heinrich Seuses. Vor allem hat Meister Eckharts "Devotio Moderna" mit der "Imitatio Christi" die meditative Versenkung vor dem Andachtsbild beflügelt. Ziel dieses privaten Gebets ist die "Unio mystica", die Vereinigung der menschlichen mit der göttlichen Seele. Und so hat das Andachtsbild seinen Platz nicht im großen Kirchenraum, sondern in der Privatkapelle oder im kleinen Gebetsraum des Wohnhauses, sei es des Patriziers, sei es des wohlhabenden Bürgers. Da gibt es das winzige Flügelaltärchen oder die kleine Skulptur, zum Beispiel die Pietà aus dem Kontext der Kreuzabnahme, die Christus-Johannes-Gruppe aus dem Zusammenhang des Abendmahls, den Christus-in-der-Rast aus dem Kreuzweg, den Erbärmde-Christus aus dem "Ecce Homo". Besonders kostbar sind die Stundenbücher mit ihren Miniaturen.
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Schwerpunkte der neuen Frömmigkeit waren im späten vierzehnten und während des gesamten fünfzehnten Jahrhunderts vor allem Konstanz und der Oberrhein, Köln, Burgund und Flandern. Den Bildtypus des "Salvator Mundi" prägte zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts Jan van Eyck. Ihm folgten Petrus Christus, Robert Campin, Rogier van der Weyden und Hans Memling. Albrecht Dürer hat diese frühen Flamen auf seiner Reise in die Niederlande kennengelernt und seinen eigenen "Salvator Mundi" geschaffen. Leonardo war vertraut mit der Mystik und hatte selbst einen Salvator entworfen während seiner Mailänder Zeit im Dienste König Ludwigs XII.
Bei aller Differenzierung der künstlerischen Handschrift ist es doch stets dieselbe Gestalt, die uns als "Salvator Mundi" entgegentritt: Christus hat als frontale Halbfigur vor dunklem Grund die Rechte zum Segen erhoben und hält in seiner Linken die vom Kreuz überhöhte Weltkugel. Zumeist trägt er die edelsteinverbrämte Ärmeltunika, mitunter auch einen liturgisch priesterlichen Ornat. Und immer (!) folgt sein Antlitz demjenigen in Manoppello.
Der Volto Santo in Manoppello. (Foto: Paul Badde / EWTN)
Die Bildfindung des Abu Dhabi-Werks ist nicht diejenige Boltraffios (ich bleibe vorläufig bei dieser Zuschreibung, auch wegen der gleichgeschlechtlichen Bindung Leonardos an seinen begabten Adlatus), sondern spiegelt Leonardos ureigenes Denken, sein faustisches Wissen-Wollen, "was die Welt im Innersten zusammenhält". Demnach ist die Physiologie des Menschen analog zu sehen zur Physiologie der Erde. Verdauungstrakt – Koitus – Kind im Mutterleib – Landkarten aus der Vogelperspektive – Ströme – Berge – Sturmfluten – Auflösung – Untergang: In der kleinformatigen Federzeichnung drückt er seine Gedanken, sein Suchen aus. Neben den anderen Codices sind es besonders zwölf kleine Blätter auf Schloss Windsor, die Zeugnis geben von Leonardos Visionen vom Untergang der Welt, von tsunamihafter Überflutung und Ende. Überflutung und Auflösung kennzeichnen auch die großen Werke: vor Anna Selbdritt geht’s mit bröselndem Gestein den Abgrund hinab, hinter Mona Lisa ist die unwirtliche Landschaft zur Hälfte durch Wasser zerstört. Sein Fazit: Wie der Mensch alt wird, dem Verfall preisgegeben, so auch die Erde. Dem menschlichen Ende im Tod entspricht der Untergang der Welt. Gewaltige Wassermassen werden die Erde überfluten, zerstören, vernichten. Wie das legendäre Atlantis.
Leonardo war kein Verkünder des göttlichen Wortes. Im Gegenteil: Im Mailänder Abendmahl interessiert ihn nicht das "Hic est" der eucharistischen Einsetzungsworte, sondern vielmehr die perfekte illusionistische Wiedergabe des Raumes: Der linearperspektivische Fluchtpunkt liegt nicht in der Gestalt Jesu, sondern weit dahinter im Garten. Und mehr noch und das ist besonders bedeutsam: Er zeigt überhaupt nicht den Moment der Einsetzung, sondern die Ankündigung des Verrats, wo alle fragen: "Bin ich es, Herr?"
Denken wir kurz an das Entstehungsdatum: "um 1500": Weltuntergangsangst wie um 1000. Die Offenbarung des Johannes ist wieder aktuell. Wie in Dürers Holzschnitt-Apokalypse. Unsicherheit und Euphorie zugleich. Christoph Columbus – Martin Luther – Sebastian Brants "Narrenschiff " – Sacco di Roma – Nikolaus Kopernikus.
In diese Zeit hinein stellt Leonardo seinen perfekt getarnten "Salvator". Ich glaube schon, dass er das Werk seinem Boltraffio in den Pinsel diktiert und er auch selbst daran gearbeitet hat. Dafür sprechen die Pentimenti der "Segenshand", die womöglich ganz anders gedacht war, und die vorzügliche Qualität der Sphaira als Bergkristall. Swarowski!
Wir heute? "Der Teufel trägt Prada". "You look like an angel, you walk like an angel… you’re the Devil in disguise", sang Elvis Presley vor etlichen Jahren. Und da kommt uns heute der als "Salvator Mundi" verkleidete Antichrist daher und erklärt uns von Abu Dhabi aus, wo es langgeht. Die langjährige, mühselige Restaurierung des Bildes erscheint mir wie eine schichtweise Enttarnung einer Gestalt aus dem Abfall mit kontinuierlicher materieller Wertsteigerung im durchgeknallten Kunstmarkt.
Es sei erlaubt, eine fiktive "Ansprache des Antichristen aus Abu Dhabi" einzufügen. Mit einem spukig ähnlichen, doch leicht verzerrten Manoppello-Gesicht spricht er:
"Ihr werdet untergehen durch große Fluten. Ihr, die ihr dieser Welt so anhängt und sie doch mutwillig zerstört. Ihr, die Ihr Eure ungeborenen Kinder tötet und künstliche Homunculi züchtet. Ihr, die Ihr Eure Familien zerstört durch schamlose Gesetzgebungen. Euch und Eure Welt kann kein Christus mehr retten, dem Ihr sowie abgeschworen habt. Aber jetzt bin ich ja da, Euer weltlicher Retter!"
Hier mögen zwei hypothetische Fragestellungen erlaubt sein:
Erstens: Ist der "Salvator" von Abu Dhabi in priesterlich liturgischem Ornat mit der Sphaira der perfekt getarnte gefallene Erzengel Luzifer? Die charakteristischen Hauptattribute der Erzengel – nunmehr noch Gabriel, Raphael und Michael – sind neben liturgischer Gewandung Botenstab, Schwert (Michael) und Sphaira.
Zweitens: Nikolaus Kopernikus hat sein Hauptwerk, "De revolutionibus orbium coelestium" mit dem heliozentrischen Weltbild, erst kurz vor seinem Tode 1543 veröffentlicht. Die Sphaira in der Linken des Abu Dhabi-"Salvators" ist ein Modell des Kosmos mit den Fixsternen an einem riesigen Himmel und einer kleinen kreissegmentförmigen Scheibe unten: die Erde, kahl, unbewohnt, tot.
Ist das nicht zu verstehen als eine visionäre Vorwegnahme kopernikanischer Erkenntnis, verbunden mit Leonardos eigener Prophezeiung vom Untergang unseres Planeten? Hier, in der kostbaren Kugel aus Bergkristall, liegt der Schlüssel zum Verständnis dieses rätselhaften Bildes. Es kommt mir vor wie Leonardos Vermächtnis, nicht lange vor 1519 in die Hände seines Vertrauten gelegt.
Doch geradezu atemberaubend und nur als göttliche Fügung zu begreifen, tritt just in dieser Zeit – wahrlich Kairos! – Sein Antlitz im Schleier von Manoppello wieder in die Öffentlichkeit. Genau im selben Zeitrahmen! Und während die Restauratoren mit technischer und chemischer Finesse die Gestalt freilegten, wurde Sein Angesicht, wurde Sein Da-Sein peu a peu begriffen: Durch die berührende Erkenntnis von Pater Domenico da Cese, die kunsthistorische Feinarbeit von Professor Heinrich Pfeiffer SJ, durch die akribische Arbeit Schwester Blandinas, das Buch von Paul Badde und nicht zuletzt durch den Besuch Papst Benedikts XVI. im September 2006, sein bewegendes Gebet vor dem heiligen Antlitz, sein Sehen, Schauen und Begreifen, bekrönt durch die Ernennung der kleinen Kirche von Manoppello zur Päpstlichen Basilika drei Wochen später.
Zurück zu "um 1500": Da versucht der junge, begabte Humanist Pico della Mirandola im Jahre 1486, einen Kongress zu organisieren mit dem Ziel, die auseinanderdriftenden Kirchen von Ost und West wieder zu vereinen. Ist nicht gelungen. Aber für uns hat er mit seiner Schrift "De dignitate hominis" etwas ins Stammbuch geschrieben. Er lässt Gottvater sprechen: "Ich habe euch in die Welt gesetzt. Den Ort eures Lebens könnt ihr euch frei aussuchen. Ihr habt alle Freiheit, in dieser Welt zu leben. Ich habe euch auch mit einer Seele begabt. Ihr könnt sie zu einer höheren Seele erheben, der anima celestis, ihr könnt euch in himmlische Regionen begeben, mit eurem Geist und Intellekt. Aber Ihr könnt euch auch mit der anderen, der anima animalis, ins niedere, ins Tierische hinabbegeben und der Wollust frönen. Das alles ist euer freier Wille."
Papst Benedikt XVI. in Manoppello am 1. September 2019
(Foto: Paul Badde / EWTN)
Die Autorin, Frau Professor Melanie Luck von Claparéde, ist Kunsthistorikerin und weltweit tätig. Bekannt wurde sie auch durch ihre "Kunstpredigten" und viele Ausstellungen. 2003 konvertierte sie zum katholischen Glauben. Eine frühere Fassung erschien am 24.12.2020. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des VATICAN Magazin.
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— CNA Deutsch Podcast (@CNAde_PODCAST) November 29, 2019
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