Aachen - Donnerstag, 2. April 2020, 7:34 Uhr.
Sie ist aktueller denn je - und zeigt gleichzeitig, wie sich Europa in den letzten Jahren bereits vor der Coronavirus-Krise verändert hat: Die Ansprache des heiligen Papst Johannes Paul II. an die Mitglieder des Karlspreisdirektoriums vom Mittwoch 24. März 2004. CNA Deutsch dokumentiert den Wortlaut in voller Länge.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
verehrte Mitglieder des Karlspreis-Direktoriums,
hochwürdigste Herren Kardinäle,
Exzellenzen, sehr verehrte Gäste,
meine sehr geehrten Damen und Herren!1.Ein herzliches Willkommen entbiete ich Ihnen allen hier im Vatikan. Mein besonderer Gruß gilt den Vertretern der Stadt Aachen mit Herrn Oberbürgermeister Linden sowie den Gästen aus der Bundesrepublik Deutschland. Im Bewußtsein, daß die Einigung Europas der Katholischen Kirche seit langem ein Herzensanliegen ist, sind Sie hierher gekommen, um dem Nachfolger Petri die Ehre der Auszeichnung mit dem außerordentlichen Internationalen Karlspreis zu erweisen. Wenn ich diesen in einmaliger Weise verliehenen Preis heute entgegennehmen darf, so tue ich das in Dankbarkeit gegenüber dem Allmächtigen Gott, der die Völker Europas mit dem Geist der Versöhnung, des Friedens und der Einheit erfüllt.
2. Der Preis, mit dem die Stadt Aachen Verdienste um Europa zu würdigen pflegt, ist mit gutem Grund nach Kaiser Karl dem Großen benannt. In der Tat hat der Frankenherrscher, der Aachen zu seiner Hauptstadt machte, zu den politischen und kulturellen Grundlagen Europas nicht unwesentlich beigetragen und sich daher schon von seinen Zeitgenossen den Namen eines Pater Europaeverdient. Die glückliche Verbindung von klassischer Kultur und christlichem Glauben mit den Traditionen der verschiedenen Völker gewann in Karls Reich Gestalt und hat sich als geistig-kulturelles Erbe Europas durch die Jahrhunderte hindurch unter verschiedenen Formen entfaltet. Wenn auch das moderne Europa in vielerlei Hinsicht eine andere Wirklichkeit darstellt, so kann deshalb der historischen Figur Karls des Großen doch ein hoher symbolischer Wert zuerkannt werden.
3. Heute hat die wachsende Einheit Europas auch andere Väter. Sie verdankt sich zu einem nicht zu unterschätzenden Teil jenen Denkern und politischen Gestaltern, die der Versöhnung und dem Zusammenwachsen ihrer Völker den klaren Vorrang vor dem Beharren auf eigenen Rechten und vor Abgrenzungen gegeben haben und geben. In diesem Zusammenhang möchte ich an die bisherigen Preisträger erinnern, von denen wir einige hier begrüßen können. Der Apostolische Stuhl anerkennt und ermutigt ihr Wirken und das Engagement vieler anderer Persönlichkeiten zugunsten des Friedens und der Einheit der europäischen Völker. Besonders danke ich allen, die ihre Kraft in den Dienst des Aufbaus des gemeinsamen Hauses Europa auf der Grundlage der durch den christlichen Glauben vermittelten Werte sowie der abendländischen Kultur stellen.
4. Auf Grund der Beheimatung des Heiligen Stuhls auf europäischem Boden steht die Kirche zu den Völkern dieses Kontinents in einer besonderen Beziehung. Von Anfang an hat daher der Heilige Stuhl auch am Prozeß der europäischen Integration regen Anteil genommen. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs hat mein Vorgänger seligen Angedenkens Pius XII. das lebendige Interesse der Kirche an der Einigung Europas deutlich gemacht, indem er der Idee der Schaffung einer „europäischen Union“ nachdrücklich seine Unterstützung gab. Dabei hat er keinen Zweifel daran gelassen, daß ein dauerhaftes Gelingen einer solchen Union an das Christentum als ihren identitäts- und einheitsstiftenden Faktor gebunden sein müsse (vgl. Ansprache vom 11. November 1948 an die Union der europäischen Föderalisten in Rom).
5. Sehr geehrte Damen und Herren, was ist das Europa, welches man sich heute erträumen müßte? Lassen Sie mich Ihnen an dieser Stelle meine Vorstellung von einem geeinten Europa skizzieren.
Ich denke an ein Europa ohne selbstsüchtige Nationalismen, in dem die Nationen als lebendige Zentren kulturellen Reichtums wahrgenommen werden, der es verdient, zum Vorteil aller geschützt und gefördert zu werden.
Ich denke an ein Europa, in dem die großen Errungenschaften der Wissenschaft, der Wirtschaft und des sozialen Wohlergehens sich nicht auf einen sinnentleerten Konsumismus richten, sondern im Dienst eines jeden Menschen in Not sowie der solidarischen Hilfe für jene Länder stehen, die ebenfalls das Ziel der sozialen Sicherheit verfolgen. Möge Europa, das in seiner Geschichte so viele blutige Kriege hat erleiden müssen, ein tätiger Faktor des Friedens in der Welt sein.
Ich denke an ein Europa, dessen Einheit in einer wahren Freiheit gründet. Die Religionsfreiheit und die gesellschaftlichen Freiheiten sind als edle Früchte auf dem Humus des Christentums gereift. Ohne Freiheit gibt es keine Verantwortung: Weder vor Gott noch gegenüber den Menschen. Die Kirche will gerade nach dem Zweiten Vatikanum der Freiheit weiten Raum zumessen. Der moderne Staat weiß darum, kein Rechtsstaat sein zu können, wenn er nicht die Freiheit aller Bürger, sowohl in ihren individuellen wie auch in ihren gemeinschaftlichen Ausdrucksmöglichkeiten, schützt und fördert.
Ich denke an ein geeintes Europa dank des Engagements der jungen Menschen. Mit welcher Leichtigkeit verstehen sich die Jugendlichen untereinander, ungeachtet bestehender geographischer Trennlinien! Aber wie kann eine junge Generation erstehen, die empfänglich ist für das Wahre, das Schöne, das Edle, für das, wofür es sich lohnt, Opfer zu bringen, wenn in Europa die Familienicht mehr eine gefestigte Einrichtung darstellt, die offen ist für das Leben und für selbstlose Liebe? Eine Familie, in der auch die älteren Menschen im Blick auf das Allerwichtigste ganz selbstverständlich dazugehören: die aktive Vermittlung der Werte und des Lebenssinnes.
Das Europa, das mir vorschwebt, ist eine politische, ja mehr noch eine geistige Einheit, in der christliche Politiker aller Länder im Bewußtsein der menschlichen Reichtümer, die der Glaube mit sich bringt, handeln: engagierte Männer und Frauen, die solche Werte fruchtbar werden lassen, indem sie sie in den Dienst aller stellen für ein Europa des Menschen, über dem das Angesicht Gottes leuchtet.
Dies ist der Traum, den ich im Herzen trage und den ich bei dieser Gelegenheit Ihnen und den kommenden Generationen anvertrauen möchte.
6. Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, nochmals möchte ich Ihnen und dem Karlspreis-Direktorium danken. Von Herzen erbitte ich der Stadt und dem Bistum Aachen sowie allen, die sich für das wahre Wohl der Menschen und Völker Europas engagieren, den reichen Segen Gottes