Am 8. Mai jährt sich der Beschluss des (Bonner) Grundgesetz zum 75. Mal. Es ist heute in der Bevölkerung beliebt wie kaum etwas anderes: 88 Prozent beurteilen es als „gut“. Darin geregelt ist auch das Staat-Kirche-Verhältnis. Beide sind grundsätzlich voneinander getrennt, bleiben gleichzeitig aber Kooperationspartner. Nach jahrzehntelangem Einvernehmen „knirscht“ es inzwischen aber zunehmend. Dabei ist das Grundgesetz aus dem christlichen Erbe hervorgegangen. Deshalb lohnt sich ein Blick zurück und nach vorne.

Um das besondere Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Deutschland zu ergründen, müssen wir in die Geschichte zurückblicken – bis in die Jahre 1803, 800 und 498. Weihnachten 498 lässt sich der Merowingerkönig Chlodwig taufen, Weihnachten 800 lässt sich Karl der Große von Papst Leo III. in Rom zum Kaiser zum Kaiser krönen, und 1803 verabschiedet der Reichstag den Reichsdeputationshauptschluss mit der Enteignung der katholischen Kirche in Deutschland.

Die Missionierung der Germanen war eigentlich eine Unmöglichkeit. Sie gelang nur aufgrund besonderer Umstände. Deutschland war jahrhundertelang zweigeteilt: in einen Teil westlich des Rheins und südlich des Limes, der erheblich von der römischen Kultur und Lebensweise mitgeprägt wurde, und in den größeren, unzugänglichen Teil Germaniens mit dessen uneingeschränkter Clan- und Stammeskultur.

Heute besteht die gängige Vorstellung, zwischen Völkern sei Friede der Normalzustand und Krieg nur eine Störung. Bei den Germanen war es umgekehrt. Wer nicht zur eigenen Gemeinschaft gehörte, war ein Feind. Die Götter agierten genauso kriegerisch wie der Kriegeradel auf Erden. Selbst noch das Jenseits, Walhall, war ein Kampfplatz, wo die Helden weiterfochten. Die kriegerischen Grabbeigaben hatten diesen Hintergrund.

Menschenopfer dienten dazu, die Götter zu beschwichtigen. Dies praktizierten nicht nur die Germanen, sondern auch Kelten und Slawen. Zu den Merkmalen der Stammesreligionen gehörte, dass die Obrigkeit vom gemeinsamen Kult abweichendes Verhalten bis zum Äußersten bestrafte, um den Zorn der Götter abzuwenden. Für Begriffe wie „Innerlichkeit“ oder „Herzlichkeit“, für „Mitleid“ oder „Gewissen“ fehlten den Germanen nicht nur die Worte, sondern bereits eine Vorstellung davon, was damit gemeint war. Nach der Missionierung brauchte es viele Generationen, bis zum Beispiel das Wort „Barmherzigkeit“ in die germanische Sprache Eingang fand.

Der Gegensatz zum Christentum konnte nicht größer sein. Jesus wurde hingegen in eine Kultur hineingeboren, die von der griechischen und römischen Hochkultur mitgeprägt und vom jüdischen Monotheismus bestimmt worden war. Er kam zur Welt, als „die Zeit erfüllt“ war.

Im Land der germanischen Stämme wurden christliche Missionare wie die angelsächsischen Priestermönche, die das Evangelium verkündeten und germanische Führer „von ihren Göttern abbringen und zur neuen Religion des christlichen Glaubens bekehren wollten“, einfach umgebracht. Das war nur logisch. Um so wichtiger war die geschichtsträchtige Entscheidung des merowingischen Königs Chlodwig, der sich im Jahr 498 taufen ließ. Wie zuvor der römische Kaiser Konstantin, legte auch Chlodwig das Gelübde ab, sich taufen zu lassen, als es in einer Schlacht bei Zülpich brenzlich für ihn wurde. Würde er in der Schlacht trotzdem den Sieg davontragen, war er dazu bereit. Nach seiner Taufe durch Bischof Remigius von Reims folgten seinem Beispiel seine Schwestern und ebenso dreitausend Gefolgsleute aus seinem Heer.

Jetzt bestand kein interner religiöser Gegensatz mehr: Der König selbst war ein Gesalbter Gottes und damit der Anführer der Staatsreligion. Was bisher aussichtslos erschien, nämlich die Christianisierung des Landes, erhielt zumindest bei Merowingern und Franken eine gute Perspektive. Karl der Große intensivierte dies durch die Krönung zum Kaiser durch Papst Leo III. in Rom.

Das Christentum hatte inzwischen das Stammesdenken der Germanen überwunden. Paulus hatte bereits die Einheit in Christus beschrieben, die Herkunft und Stände überwunden hatte („nicht Juden und nicht Griechen“, „nicht Sklaven und nicht Fremde“). Nun gab es „nicht mehr Aquitanier und Langobarden, Burgunder oder Alemannen“. Die Kirche wurde zum Bindeinstrument, von dem der Fuldaer Abt und Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus (gestorben 856) schreiben konnte, es dürfe keinen Unterschied unter den verschiedenen Nationen geben, denn die katholische Kirche existiere als Einheit mit Verbreitung über den ganzen Erdkreis.

Staat und Kirche hatten sich verbündet: Der katholische Glaube vermittelte stammesverbindende Einheit – mit dem Papst als Garanten – und der fränkische Kaiser vermittelte der Kirche Schutz und Sicherheit. Karl der Große hatte erkannt: Der christliche Glaube zivilisiert die Menschen und vereint sie zu einem gemeinsamen Volk (Gottes). Das Bündnis von Staat und Kirche sollte 1.000 Jahre funktionieren und 700 Jahre lang Frieden im christlichen Kontinentaleuropa – bis zur Kirchenspaltung in der Neuzeit – hervorbringen. Eine epochale Leistung, die eigentlich erst Europa geschaffen hat.

Die besondere Art der Missionierung Germaniens hatte allerdings auch ihre Kehrseite: Die Taufe stand meist nicht am Ende und Höhepunkt eines persönlichen Umkehrprozesses, sondern – umgekehrt – am Anfang. Nach der grundsätzlichen Entscheidung für den Glauben an Jesus Christus musste vor der Taufe eigentlich die Glaubensunterweisung folgen, wofür in der frühen Kirche eine beachtliche Zeitspanne vorgesehen war. Da in der Regel zunächst nur ein Minimum an christlicher Unterweisung vermittelt wurde, hing die Verankerung des neuen Glaubens entscheidend von der folgenden Nacharbeit ab. Zwar wurde im Bewusstsein der Täuflinge ein „Herrschaftswechsel“ vollzogen. Aber die gläubig Gewordenen waren zumeist kaum selbstbewusste und persönlich überzeugte Träger einer eigenen Glaubensentscheidung, sondern eher in einer Rolle noch unmündiger und von außen betreuter Gläubiger.

Wie kommt es nun zur völligen Kehrtwende und Enteignung der Kirche? Das revolutionäre Frankreich erobert ab 1792 große deutsche Gebiete und schiebt seine Grenze bis an den Rhein vor. In mehreren Friedensverträgen verzichtet der deutsche Kaiser Franz II. auf das linksrheinische Gebiet. Zahlreiche deutsche Fürsten, die dort Herrschaften besitzen, verlieren damit ihr Eigentum. Weil Napoleon sie jedoch als Verbündete in seinem Russlandfeldzug braucht, verspricht er ihnen als Ersatz den Besitz der Kirche. Im Reichstag beschließen (ausgerechnet) die Vorteilnehmer dieser Abmachung das entsprechende Gesetz, den sogenannten Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Sie dürfen sich Land, Vermögen und Rechte der katholischen Kirche aneignen. Diese Enteignung des Kirchenbesitzes wird als Säkularisation („Verweltlichung“) bezeichnet.

Das Kurfürstentum Bayern wird zum Beispiel ein großer Gewinner der Säkularisation. Durch die Annexion von Hochstiften und Klöstern in Altbayern, Franken und Schwaben kann es seine linksrheinischen Verluste mehr als ausgleichen. Noch besser trifft es zum Beispiel Brandenburg-Preußen: Das Land erhält zum Ausgleich für die an Napoleon verlorenen Gebiete fünf mal so viele rechtsrheinische Flächen – Gebiete, die der Kirche ersatzlos weggenommen werden.

Der gesamte Besitz aller kirchlichen Stifte, Klöster und Abteien wird eingezogen. 23 Fürstbistümer, also selbstständige Staaten, und 44 Fürstabteien mit einer Fläche von zusammen etwa zehntausend Quadratkilometern werden aufgelöst. 1817 sind nur noch drei Bischofsstühle besetzt. Bei der Beschlagnahme des kirchlichen Besitzes wird kein Unterschied gemacht: Alles wird der Kirche genommen – ganz gleich, ob der Besitz durch klösterliche Urbarmachung zuvor unbewohnbaren Landes, durch fromme Schenkungen zum Unterhalt von Klerus und Gotteshäusern oder zur treuhänderischen Verwaltung durch den König übertragen worden war.

Die Säkularisation betrifft das gesamte gesellschaftliche Leben. Das Bildungssystem bricht zusammen. Die katholische Kirche hatte zuvor flächendeckend Schulen unterhalten und Bildungschancen bis in den entferntesten Winkel garantiert. Weite Teile der Bevölkerung werden in die Armut gestürzt, weil sie zuvor für soziale Aufgaben im Dienst der Kirche tätig waren. Besonders in strukturschwachen Gegenden war die Kirche gleichzeitig Arbeit- und Brotgeber sowie Betreiber von Wohlfahrtseinrichtungen. Nun ist sie selbst arm.

Zur Bezahlung der Pfarrer erhalten die Kirchen als Ausgleich Geldzahlungen – bis heute. Denn auf Null kann man die Kirche nicht setzen, nachdem man ihr über tausend Jahre erworbenes Vermögen unter den Fürsten aufgeteilt hat. So erhalten sie als Schadensbegrenzung Zuwendungen zur Finanzierung ihrer Verwaltungen und Amtsträger. Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) und das Grundgesetz (GG) regeln diese Zahlungen, „Staatsleistungen“ genannt.

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Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.

Die gegenwärtige Regierung hat im Koalitionsvertrag vereinbart, diese Staatsleistungen abzulösen. Mehr darüber in den weiteren Folgen unserer Serie.

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