In der Katechese vom 28. Mai 1980 (veröffentlicht in L’Osservatore Romano 80/23) setzt Johannes Paul II. seine Überlegungen zur Scham des Menschen fort, die er als Scham kosmischen Ausmaßes deutet, die Erkenntnis des Nackt-Seins, die in einer anderen Form der Scham mündet: „Es ist die Scham, die im Menschsein selber gegeben ist, die also von der inneren Verwirrung dessen verursacht wurde, wodurch der Mensch im Schöpfungsgeheimnis (sowohl in seinem personalen Ich als auch in der zwischenmenschlichen Beziehung durch die ursprüngliche Personengemeinschaft, die zwischen Mann und Frau bestand) ‚Abbild Gottes‘ war. Diese Scham, deren Ursache sich im Menschsein selbst vorfindet, ist immanent und relativ zugleich: Sie äußert sich in der Innerlichkeit des Menschen und bezieht sich gleichzeitig auf den ‚anderen‘. Es ist die Scham der Frau dem Mann und die des Mannes der Frau gegenüber: eine gegenseitige Scham, die sie nötigt, die eigene Nacktheit zu bedecken und den Körper zu verhüllen, dem Blick des Mannes zu entziehen, was das sichtbare Zeichen der Fraulichkeit ausmacht, und dem Blick der Frau das zu entziehen, was das sichtbare Zeichen der Männlichkeit ist.“

Mann und Frau verbergen sich voreinander, sie zeigen sich nicht ganz und verhüllen sich. Soll, so fragt Johannes Paul II., aber die „Scham vor der eigenen Geschlechtlichkeit“ nur gegenüber Personen des anderen Geschlechtes gelten? Ist die Scham damit relativ?

Die „spezifische Schwierigkeit“ besteht zunächst auf der Ebene, die dem sexuellen Bereich zugehört – eine „Schwierigkeit, die der Mensch im Zustand der ursprünglichen Unschuld nicht hatte“. Gut und Böse sind mit dem Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis sichtbar geworden.

Ein „grundlegender Bruch“ in der Person ist aufgedeckt, ein „Riß in der ursprünglichen geistig-körperlichen Einheit des Menschen“: „Dieser wird sich zum ersten Mal bewusst, dass sein Körper aufgehört hat, aus der Kraft des Geistes zu schöpfen, der ihn auf die Ebene der Gottebenbildlichkeit erhob. Seine Ur-Scham trägt die Zeichen einer spezifischen Demütigung durch den Körper an sich. Es verbirgt sich in ihr der Keim jenes Widerspruchs, der den geschichtlichen Menschen auf seinem gesamten Erdenweg begleiten wird, wie der hl. Paulus schreibt: ‚Denn in meinem Innern freue ich mich am Gesetz Gottes, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt‘ (Röm 7,22–23).“

Die Scham erzeugt Unruhe im Menschen, und die „Unruhe des Gewissens“ wird spürbar, die mit der „bösen Begierlichkeit“ in Verbindung steht: „Der Körper, der nicht mehr wie im Zustand der Ur-Unschuld dem Geist unterworfen ist, nährt in sich einen ständigen Herd des Widerstandes gegen den Geist und bedroht gewissermaßen die Einheit vom Menschen als Person, das heißt die Einheit sittlicher Natur, die im eigentlichen Gefüge der Person fest verwurzelt ist. Die Begierlichkeit und im Besonderen die Begierde des Leibes stellt eine deutliche Bedrohung für die Struktur des Selbstbesitzes und der Selbstbestimmung dar, durch die sich die Person des Menschen formt. Sie stellt für sie zugleich eine Herausforderung besonderer Art dar. In jedem Fall beherrscht der Mensch der Begierlichkeit seinen Körper nicht in demselben Maße und mit der gleichen Einfachheit und Natürlichkeit, wie das der Mensch im Zustand der ursprünglichen Unschuld vermochte. Die Struktur der für die menschliche Person wesentlichen Selbstbestimmung wird in ihm gewissermaßen in den Grundfesten erschüttert; er identifiziert sich erneut mit ihr, insofern er ständig bereit ist, sie zurückzugewinnen.“

Im Bereich der Sexualität ist die „Störung des Gleichgewichts“ besonders spürbar, die aus der Begierde überhaupt und dem sexuellen Begehren im Besonderen hervorgeht. Der Mensch steht nach dem Sündenfall in diesem Bereich nicht mehr über der Welt der anderen Geschöpfe: „Es ist, als ob er einen bestimmten Bruch der personalen Integrität seines Körpers erlebte, besonders in dem, was seine Geschlechtlichkeit ausmacht und was in direktem Zusammenhang mit der Berufung zu jener Einheit steht, in der Mann und Frau ‚ein Fleisch sein werden‘ (Gen 2,24). Deshalb hat jene immanente und zugleich geschlechtliche Scham zumindest indirekt immer einen relativen Charakter in Bezug auf den anderen. Es ist die Scham vor der eigenen Geschlechtlichkeit gegenüber dem anderen Menschen.“ Der „Ehebruch“ gewinnt bereits durch das „begehrliche Verlangen“ Gestalt, er wird „im Herzen begangen“, weil er das „Herz des Menschen“ erobern will.

Johannes Paul II. legt dar: „Das menschliche Herz birgt in sich gleichzeitig Verlangen und Scham. Das Entstehen der Scham verweist uns auf jenen Augenblick, in dem der innere Mensch, das Herz, sich dem verschließt, was vom Vater kommt, und sich dem öffnet, was von der Welt kommt. Das Entstehen der Scham im Herzen des Menschen geht Hand in Hand mit dem Aufbrechen der Begehrlichkeit – der dreifachen Begierde in der johanneischen Theologie (vgl. 1 Joh 2,16), besonders der leiblichen Begierde. Aufgrund der Begierlichkeit schämt sich der Mensch seines Körpers. Ja, er schämt sich nicht so sehr des Körpers als vielmehr der Begierlichkeit: er schämt sich des Körpers wegen seiner Begierlichkeit.“

Zugleich äußert der Papst eine Hoffnung: „Die Tatsache, dass im menschlichen Herzen von dem Augenblick an, da die Begierde des Körpers wach wurde, auch die Scham entstand, weist darauf hin, dass man an dieses Herz appellieren kann und muss, wenn es jene Werte sicherzustellen gilt, denen die Begierde ihre ursprüngliche und volle Dimension nimmt. Wenn wir das beachten, können wir besser erfassen, warum Christus, wenn er von der Begierlichkeit spricht, an das menschliche Herz appelliert.“

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