Israels Annexionspläne im Westjordanland: "Letzter Sargnagel“ für die Zweistaatenlösung?

Jerusalem
EWTN.TV / Paul Badde

Christliche Kirchenführer im Heiligen Land zeigen sich besorgt über die Ankündigung von Premierminister Benjamin Netanjahu, Teile des Westjordanlandes offiziell in das israelische Staatsgebiet einzugliedern.

In einer gemeinsamen Erklärung fordern die katholischen, orthodoxen und evangelischen Bischöfe und Geistlichen den Staat Israel auf, "solche einseitigen Schritte zu unterlassen". An die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO richteten sie den Appell, "interne Streitigkeiten und Konflikte" beizulegen und am "Frieden und Aufbau eines lebensfähigen Staates" mitzuwirken.

Christophe Lafontaine von "Kirche in Not" International sprach mit dem Generalvikar des Lateinischen Patriarchats von Jerusalem, Weihbischof Giacinto-Boulos Marcuzzo, über Hintergründe und Auswirkungen der Annexionspläne auf die christliche Minderheit im Heiligen Land. 

Christophe Lafontaine: Die neue israelische Einheitsregierung wurde als Antwort auf die Herausforderungen der Corona-Krise gebildet. Nutzt sie den Notstand aus, um ihre Annexionspläne für Teile des Westjordanlandes zu beschleunigen?

Weihbischof Giacinto-Boulos Marcuzzo: Die Bildung und der Amtsantritt der "Einheits- und Notstandsregierung" wurden durch die vielen Nöte im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie beschleunigt. Das ist klar. Allerdings ist der Zusammenhang "Pandemie ist gleich Beschleunigung der Annexions-Pläne für Teile des Westjordanlandes" überhaupt nicht klar. Wir wissen jedoch aus Erfahrung, das jede gute oder schlechte Gelegenheit häufig ausgenutzt wird, um Partikularinteressen zu erreichen und die Weltaufmerksamkeit von anderen wichtigen Fragen abzulenken.

Die Erklärung der Kirchenführer spricht davon, dass die Annexionspläne "ernste Fragen nach der Machbarkeit eines jeglichen Friedensprozesses" aufwerfen. Warum?

Die Annexionspläne sind nicht lediglich ein Problem unter vielen anderen. Sie sind der letzte Sargnagel für jedwede Möglichkeit, einen eigenständigen palästinensischen Staat zu schaffen, der mit Israel koexistiert – innerhalb anerkannter Grenzen und mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Diese sogenannte Zweistaatenlösung schien bisher die einzig vernünftige, friedliche und mögliche, um den "ewigen" Konflikt zu beenden und Frieden für das Heilige Land zu erreichen. Die Reaktion auf die Annexionspläne sind von Verzweiflung geprägt. Im Heiligen Land wissen wir leider aus Erfahrung, wohin Verzweiflung führen kann. Was diese Verzweiflung noch schmerzlicher macht, ist die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, die Schwäche Europas und auch die Gleichgültigkeit bestimmter arabischer Länder diesen eklatanten Ungerechtigkeiten gegenüber.

Was wären die konkreten Auswirkungen für die palästinensischen Christen?

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Es ist bereits bekannt, dass einige Gebiete des Lateinischen Patriarchats von Jerusalem und weitere christliche Gemeinschaften direkt von der Annexion betroffen sein werden. Die in der Presse veröffentlichten Landkarten zeigen darüber hinaus eine erschreckende Zersplitterung des Landes. Man muss sich das vor Augen führen: Das gesamte Jordantal plus hunderte von Siedlungen, die über palästinensische Gebiete verteilt sind, könnten von Israel annektiert werden – zusammen mit dem gesamten Straßennetz, das diese Gebiete verbindet. Dann kann man sich leicht vorstellen, dass sich daraus keine oder nur erschwerte territoriale Kontinuität der palästinensischen Gebiete ergeben wird. 

Was bedeutet das für das alltägliche Leben?

Einzelne Gebiete würden an den Staat Israel übergehen. Die Eigentümer der Grundstücke sind jedoch in der Regel Palästinenser, darunter auch Christen, die nächsten Dorf oder in der nächsten palästinensischen Stadt leben. Daraus ergeben sich viele rechtliche und vor allem praktische Probleme: etwa die Frage möglicher Enteignungen, die Trennmauer, die Unmöglichkeit, ohne Genehmigung das eigene Lande zu bearbeiten und natürlich die Schwierigkeiten, im Alltag zu einem Krankenhaus, zur Kirche, auf den Markt oder zu Familienmitglieder zu fahren.

Wie sehen die Gläubigen die Zukunft? 

Wie bereits während und nach jeder Intifada, stimmen unsere Gläubigen in den unglückseligen "Refrain" der Auswanderung ein. Das beunruhigt uns zutiefst. Wie können wir den Menschen aber angesichts der politischen Entscheidungen wirklich helfen? Darüber hinaus fallen die Annexionspläne in eine sehr schwierige Zeit. Die Corona-Krise hat dazu geführt, dass Pilgerfahrten ausbleiben. Die Wirtschaft im Heiligen Land leidet schwer darunter. Die christliche Gemeinschaft im In- und Ausland hat in dieser Zeit eine beeindruckende Solidarität gezeigt – aber das war nur für kurze Zeit und in diesem speziellen Fall. Aber was können wir jetzt den territorialen Umwälzungen mit ihren sozialen, wirtschaftlichen und familiären Auswirkungen entgegensetzen?

Befürchten Sie, dass die Annexionspläne in der Region wieder zu Gewalt führen werden?

Das ist im Moment unsere größte Befürchtung. Die Annexion wird zu einem Ausbruch von Reaktionen, Protesten und Gewalt führen – nicht nur in der Region. Es wird wahrscheinlich auch Nachbarländer betreffen. In unserer gemeinsamen Erklärung rufen wir die Bürger auf, ihre Rechte standhaft einzufordern, aber auf jede Provokation zu verzichten, die zu blutigen oder tödlichen Zusammenstöße führen könnte. Die Arbeit der Kirche im Heiligen Land hat im Laufe der Geschichte zwei Ziele verfolgt und tut es noch immer: Gerechtigkeit als Basis, Frieden und Versöhnung als Ziel.

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