"Braucht die Kirche ein neues Konzil?"

Dokumentiert: Die Rede von Professor Tomáš Halík bei der Konferenz über "Aggiornamento" und das Zweite Vatikanische Konzil – "Die christlichen Wurzeln wieder entdecken"

Prälat und Professor: Tomáš Halík bei einer Demonstration in Prag im Jahr 2007.
Petr Novak via Wikimedia (CC BY-SA 2.0)

Er ist Priester, Soziologe, Religionsphilosoph: Tomáš Halík erregte weltweite Aufmerksamkeit, als er den diesjährigen Templeton-Preis erhielt. Doch der tschechische Prälat und Professor ist seit Jahren einer der interessantesten katholischen Intellektuellen. 

Bei der Konferenz der deutschen Botschaft am Heiligen Stuhl über das "Aggionarmento" hat er auf den Punkt gebracht, was sich einige wünschen, und andere für ein gefährliches Risiko halten: "Brauchen wir ein neues Konzil?".

Von der neuen Völkerwanderung über den Aufstieg des Islamismus und seines Terrors bis hin zur Rolle der Kirche und ihrer Gestalt in der Zukunft schlägt der tschechische Templeton-Preisträger einen weiten Bogen. Und landet letzten Endes bei einem Bild der Kirche, das aussehen soll wie die ersten Universitäten. Hat er recht?

Wir dokumentieren seine Rede an der Jesuiten-Universität Gregoriana in Rom in verkürzter Form:

Braucht die Kirche ein neues Konzil?

 Gestatten Sie mir bitte, meine Betrachtung über ernste Sachen mit einem Witz einzuleiten: 

Gottvater und der heilige Petrus sehen sich die Fernsehnachrichten an. Als Erstes kommt der Bericht über die Arbeiter auf den Reisfeldern in Vietnam. "Das ist furchtbar, wie sich die Leute abplagen müssen", kommentiert der Herr die  Bilder. "Du hast es doch so gewollt, dein Wort war: Im Schweiße deines Angesichts sollst du von deinem Ackerboden essen", wendet Petrus ein. "Das habe ich nicht so wörtlich gemeint", murmelt Gottvater. Es folgen Aufnahmen aus der Geburtsklinik, man sieht eine sehr schmerzliche Entbindung von Vierlingen. "Das ist entsetzlich, wie die Frau leidet!" seufzt der Herr. "Aber du hast es so gewollt, dein Wort war: Unter Schmerzen wirst du Kinder gebären", erinnert ihn der Apostel. "So buchstäblich habe ich es doch nicht gemeint", sagt Gottvater. Die letzten Aufnahmen sind aus dem Vatikan: mit großer Mühe arbeiten sich aus eleganten, fahnenverzierten Limousinen fette Kardinäle heraus, in Purpur, mit Hüten und goldenen Ringen und Pektoralien. "Was soll das hier wieder? Um Gottes Willen," entsetzt sich Gottvater, "Was für Leute sind das?" "Eben jene, die begriffen haben, dass du es mit deinen Worten nicht so ganz ernst gemeint hast", klärt ihn der heilige Petrus auf.

 

Mehr in Vatikan

Das Reformkonzil und der Reformpapst

Auf dem Stuhl des heiligen Petrus sitzt jetzt ein Papst, der das Evangelium sehr ernst nimmt. Und das bezeugt er nicht nur in seinen Reden, sondern durch seinen ganzen Lebensstil, sein Denken, sein Auftreten, sein Verhalten gegenüber den Menschen sowie durch die  Art und Weise, wie er an die brennenden Gegenwartsprobleme herantritt. Er nimmt ernst die Botschaft Christi mit Mut, Radikalität und Freiheit, was an die Reformergestalt des heiligen Franziskus erinnert, dessen Namen er sich programmmäßig zugelegt hat. Darin liegt das Geheimnis seiner moralischen Autorität, die weit über die Grenzen der katholischen Kirche hinausreicht und mit der er auch seine höchst ehrwürdigen Vorgänger überboten hat; dies reizt jedoch einige Katholiken stark auf. In seiner Legende vom Großinquisitor hat Dostojewski die größte Versuchung des institutionalisierten Christentums genial dargestellt: nämlich dass man den Menschen Sicherheiten gewährt als Tausch für die Freiheit, die Christus ihnen geboten hat. Papst Franziskus versucht das zu vollenden, was das reformatorische Zweite Vatikansiche Konzil anstrebte: die Kirche aus dem Schatten des Großinquisitors herauszuführen. Der Streit zwischen der Herausforderung Christi und dem Angebot des Großinquisitors zieht sich durch die ganze Geschichte des Christentums und findet seinen Ausdruck im jeweiligen Verhältnis zu dem letzten Konzil sowie zum Reformpapst.

Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Kirche die Richtung der unumgänglichen Reform gezeigt, nämlich mit den Freuden und Hoffnungen, Ängsten und Leiden der Menschen unserer Zeit solidarisch zu sein.  Das Konzil machte ein Ende der langen unglücklichen Periode einer Kontrakultur zur Modernität; das bedeutete ein "Ende der Gegenreformation", "Ende des antimodernistischen Kampfes", der eine intelektuelle Selbstkastration des Katholizismus des 19. Jahrhunderts bewirkt hat, ein Ende von "Heiligen Allianzen" mit restauratorischen Regimen, ein Ende fruchtloser Imitationen der Vergangenheit in der Theologie ("Neoscholastik") sowie in der kirchlichen Kunst ("Neogotik"). In der Zeit, als die katholische Kirche in Europa (glücklicherweise nicht in der angelsächsischen Welt) durch die Erlebnisse des jakobinischen Terrors, der Revolutionen von 1848 sowie der blutigen Revolutionen in Mexiko und Spanien traumatisiert war, "schüttete sie mit dem Bade das Kind  aus": sie war nicht imstande, die positive und die negative Seite der Aufklärung voneinander zu unterscheiden, noch  einen neuen und klugen Weg zu finden zwischen unkritischer und oberflächlicher Konformität mit der modernen Zeit und verängstigter Dämonisierung von allem, was neu war. Aus Katholizität – einer großzügigen Universalität, fähig kritisch und schöpferisch alles Wertvolle aus Umwelt und aus neuer Kultur zu resorbieren – wurde "Katholizismus", ein in sich geschlossenes System unter anderen. Ein System, das der Fähigkeit schöpferischer Kommunikation mit seiner Umwelt verlustig wird, degeneriert.

Zum Unterschied von früheren Konzilen hat das Vatikanum Zwei kein neues Dogma proklamiert und auch keine Häresion verurteilt. Einer schweren Häresion hat die Kirche auf dem Konzil doch entsagt  – der des Triumphalismus.

Die traditionelle Theologie unterscheidet drei Gestalten der Kirche: die kämpfende (ecclesia militans) auf Erden, die leidende (ecclesia patiens) im Fegefeuer und die siegreiche (ecclesia triumphans) in der himmlischen Herrlichkeit. Eine vollkommene und reine Kirche findet man gemäß dieser Lehre nicht innerhalb der Geschichte, sie ist Gegenstand unserer letzten (eschatologischen) Hoffnung. Der Triumphalismus lag in der Verwechslung von zwei verschiednen Gestalten der Kirche sowie in der Unfähigkeit einer "eschatologischen Unterscheidung", wie ich das nenne.  Gibt sich die irdische Kirche für eine vollkommene, schon jetzt die ganze Wahrheit besitzende Gesellchaft aus, dann verfällt sie der Häresion des Triumphalismus. Die "kämpfende" Kirche (die auch gegen die Versuchung des Triumphalismus kämpfen soll)  wird dann zur Institution militanter Religion, welche gegen Andere und Unbequeme in ihren eigenen Reihen kämpft. (Hierin zeigt sich eine Analogie mit der islamistischen Auffassung des Dschihad; dieser sollte vor allem ein Kampf gegen eigene Sünden sein, wurde jedoch in der Auffassung des militanten Islamismus zu einem Eroberungsprogramm, das schließlich auch den Terror gegen Unschludige mit einbezieht).  Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Pilgern, die unterwegs sind (communio viatorum), und die Erkenntnis der ganzen Wahrheit ist jenem Augenblick vorbehalten, in dem wir Gott Auge in Auge begegnen hinter dem Horizont der Geschichte.

Eines der Schlüsselworte in der vom Zweiten Vatikanischen Konzil formulierten Lehre von der Kirche  war der schwierig zu übersetzende Ausdruck "subsistit in": die Kirche Christi existiert (besteht, geschieht) in der katholischen Kirche. Der demutsvolle Ausdruck "subsisit in" ersetzte das früher vorgeschlagene "est", das die Identität der Kirche Christi (in deren eschatologischer Fülle) mit der konkreten institutionellen Gestalt der durch die Geschichte schreitenden katholischen Kirche bedeutete. Nach der Meinung Kardinal Kaspers wurde damit ein Raum frei für eine ökumenische Auffassung von Kirche, in der katholischen Auffassung der Kirche Christi also ein Raum für die anderen Kirchen und Kirchengemeinschaften neben der institutionellen katholischen Kirche. Auf jene Kirchen und Kirchengemeinschaften bezieht sich der Audsruck "subsistit in" nach späterer Präzisierung zwar nicht, anerkannt werden seitens der Kirche jedoch deren authentische Charismata und deren Anteil an der Vermittlung des Heils, welches Christus durch seine Kirche für alle Menschen bringt.

Ich glaube, man könnte den Ausdruck "subsistit in" analogisch vielleicht auch für die Theologie und die religiöse Erkenntnis anwenden.  Die Fülle der göttlichen Wahrheit, Gott selbst als Fülle der Wahrheit, verweilt (subsistit in) im Glauben der Kirche. Der in den Glaubensartikeln zum Ausdruck gebrachte Glaube der Kirche füllt jedoch nicht den ganzen Raum der Wahrheit aus, es ist noch ein Raum da für offen stehende Fragen und für ein ruhiges Verweilen in der Wolke des Geheimnisses. Und der Glaube der Kirche ist (subsistit in) im Glaubensakt des einzelnen Gläubigen oder der geistig Suchenden enthalten; neben den Sicherheiten ist im Glauben  noch ein Raum da für ein Suchen, für kritische Fragen, für ehrliche Zweifel, für ein demutsvolles "Vielleicht" der Hoffnung. Gegenstand dieser Zweifel ist nicht Gott, sondern unsere menschliche Kapazität jenes Geheimnis zu begreifen, das wir Gott nennen, unsere Fähigkeit seine Selbstoffenbarung zu erfassen und genau zu verstehen. Wenn wir uns den Ausdruck "subsistit in" für unseren Glauben zu eigen machen, dann entsagen wir dem Hochmut der "Wahrheitsbesitzer"; ein neuer Raum öffnet sich  für unser Suchen und für den Dialog mit den Suchenden. Hier auf Erden, so lehrte der heilige Paulus, sehen wir nur teilweise, schauen wie in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse.  Die Wahrheit ist ein Buch, das noch niemand von uns ganz bis zum Ende ausgelesen hat.

Konzil und Katakombenpakt: Begehrenswerte Gestalt eienr zukünftigen Kirche 

Das Zweite Vatikanische Konzil – und sehr konkret und ausdrücklich der Katakombenpakt – haben die begehrenswerte Gestalt der zukünftigen Kirche gezeigt: einer Kirche, die dient, ökumenisch offen ist, empfänglich für positive Werte sowie für das Leiden der Gegenwart, solidarisch mit allen, denen Unrecht geschieht. Sie soll die Stimme der Armen sowie der mundtot Gemachten sein und – was Papst Franziskus in seiner bedeutenden Enzyklika Laudato sì besonders hervorhebt – empfänglich für den Schrei der Natur, die vergewaltigt wird durch Raffgier und Rücksichstlosigkeit der moralisch verantwortungslosen Wachstumszivilisation.

In diesem Zusammenhang ruft der Papst heute zu Solidarität mit den Menschen auf, die ihr Zuhause infolge der Kriegs- oder Naturkatastrophen  verloren hatten, und zwar ungeachtet  deren Nationalität, Rasse oder Religion. Einige hat er direkt im Vatikan untergebracht und für Zehntausende andere sorgten kirchliche Institutionen. Menchen, die behaupten, man solle in der jetzigen Flüchtlingskrise nur den Christen helfen, erinnern mich an jene, die in Bethlehem vor den Zugewanderten aus dem "Galiläa der Heiden" die Türen zugeschlagen und der Heiligen Familie Platz in einer Höhle für das Vieh zugewiesen hatten; notabene waren Jesus, Maria und Josef keine Christen, wenigstens nicht in der Zeit der Geburt Jesu. 

Das Zweite Vatikanische Konzil fand in der ersten Häfte der Sechzigerjahre statt; die zweite Hälfte hat eine radikale antiautoritäre Kulturrevolution der "Zweiten Aufklärung" mit sich gebracht. Auch diese stellte eine ambivalente gesellschaftliche Erscheinung dar und als Reaktion darauf zeigte sich ein Teil der Gesellschaft (auch die Kirche) zu einem neuen Konservatismus geneigt. Die Reaktion der Kirche (insbesondere auf die Sexualrevolution) bewirkte eine Abnahme praktizierender Katholiken im Westen. Der nachkonziliare Enthusiasmus und die Erwartungen ließen nach, die Katholiken trennten sich in zwei Gruppen; die einen meinten, die Kirche erfülle nicht die in der Einleitung zur Konstitution "Freude und Hoffnung" enthaltene Verpflichtung zur Solidarität mit den gegenwärtigen Menschen (der entprechende Satz lautet wie ein Ehegelöbnis), die anderen beteuerten wieder, das Konzil sei zu weit gegangen und habe den Verlust der katholischen Identität bewirkt. Die wachsende Zahl getaufter, früher praktizierender und zur Kirchenleitung sowie  -lehre loyaler Christen ("dwellers") wechselte zum Lager der "Christen mit Vorbehalt" über, zu den "geistig Suchenden" ("seekers") und zu den "spirituellen, jedoch nicht religiösen Menschen". Die Religion schien ihr Feld langsam und gänzlich der Säkularzivilisation zu räumen – zunächst in Europa, dann weltweit. Heute wird diese Vision praktisch von keinem der bedeutenden Soziologen geteilt.

Der Kulturrevolution der Sechzigerjahre und der aus ihr hervorgegangenen Säkulargesellschaft verging bald der Atem; ein moralischer und geistiger Kater blieb nicht aus. Protest- und Nonkonformitätssymbole wurden bald zu Konsumware. Die westliche Kultur begann als dekadent zu gelten, nicht nur aus der Sicht anderer Kulturen, sondern auch recht vieler Menschen im Westen.

Als Antwort auf die Krise des Säkularliberalismus begann sich während der Siebzigerjahre eine neue Zivilisationswende  durchzusetzen, die meist "Wiederkehr der Religion" genannt wird. Es scheint, dass die postmoderne Zivilisation des neuen Jahrtausends eine "postsäkulare" sein wird. Eine "Wiederkehr der Religion" ist besonders in folgenden drei Bereichen zu beobachten: in Politik, Philosophie und Spiritualität. In keinem dieser Gebiete handelt es sich um einfache Rückkehr zu früheren Religionsformen, über die sich die traditionellen Religionsinstitutionen naiv freuen würden. Verwandlungen und Dynamik neuer Äußerungen der Religion machen die traditionellen Religionsinstitutionen bestürzt,  genauso die Bekenner der Säkularkultur. Die "Wiederkehr des Verdrängten" – wie aus der Psychoanalyse bekannt ist – ist keine "ewige Wiederkehr Desselben", sondern eine Umwandlung dessen, was unterbunden war.

Ist die Kirche auf Veränderungen vorbereitet?

Inwieweit sind angesichts der podstmodernen, postsäkularen Zivilisation die christlichen Kirchen auf unentbehrliche Veränderungen vorbereitet? Die ganze Geschichte des Christentums ist ein Strom ständiger Umwandlungen, "Rekontextualisierungen" in neues Kulturmilieu oder in neue historische Epochen. Einige "Inkulturationen" waren erfolgreich, andere nicht. Die erste und bisher wohl die radikalste Umwandlung wartete auf das Christentum bereits an der Schwelle seiner Geschichte, als der Apostel Paulus eine der vielen jüdischen Sekten zu einem universalen Angebot umgewandelt hat, das die bisherigen unüberschreitbaren Grenzen von Kulturen, Geschlecht, gesellschaftlicher Stellung  überschritt ("es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau"). Nach der Meinung Karl Rahners habe das letzte Konzil einen Schritt getan, der analogisch ist jenem Aufbruch der jungen Kirche aus dem Rahmen des Judentums zur griechisch-römischen Kultur hin; das Konzil habe den europäischen Horizont überschritten und die tatsächlich weltweite Dimension der Kirche gezeigt.

Das Zweite Vatikansiche Konzil hat die Kirche auf dialogisches Zusammenleben in der aus dem Aufklärungshumanismus hervorgegangenen säkularen Gesellschaft eingestellt. Es bleibt allerdings die Frage, ob diese Reform nicht zu spät gekommen sei und ob sie die Kirche auch auf die unerwartete "Wiederkehr der Religion" und auf das Leben in der globalen postsäkularen Gesellschaft vorbereitet habe. Wird nicht ein drittes Vatikanisches Konzil bald erforderlich sein? Oder oder das erste ökumenisches lateinamerikanisches, afrikanisches oder wieder ein asiatisches Konzil?

Das Zweite Vatikanum besaß allerdings ein sehr gründliches intellektuelles Fundament. Nach der Abschwächung der Theologie im 19. Jahrhundert und noch in der Zeit der Hetzjagd auf die "Modernisten" erwies sich dann das 20. Jahrhundert als das theologisch produktivste in der ganzen Geschichte des Christentums. Große Theologen – insbesondere in Deutschland und Frankreich – hoben den von der modernen Philosophie und Wissenschaft geworfenen Handschuh auf und reagierten auf die dramatischen Erfahrungen, welche die Menschheit in den Weltkriegen gemacht hat.

Aus alledem erwuchs das Zweite Vatikanische Konzil und seine Reformen. (Wo infolge aufgezwungener Isolierung die Ortskirche den theologischen Kontext des Konzils nicht erkannt und aufgenommen hat, dort waren die Reformen oberflächlich, nur formal, und blieben auf halbem Wege stecken. Interessant ist allerdings, dass sie sofort von jenen begriffen wurden, die im "spontanen Ökumenismus" stalinistischer Konzentrationslager und Gefängnisse von einer zukünftigen offenen, des österreichisch-ungarischen Triumphalismus enthobenen Kirche träumten .)

Welche Theologie wird man für das nächste Reformkonzil brauchen, zu dem das in vielem umwälzende Pontifikat von Papst Franziskus die ersten Schritte tut?

Dies sind die Fragen, mit denen ich mich gegenwärtig intensiv beschäftige – dabei nutze ich die reichen Möglichkeiten des internationalen (natürlich auch des ökumenischen und interreligiösen) Dialogs mit Denkern nicht nur aus dem Bereich der Theologie, sondern auch dem der Philosophie und der Gesellschaftswissenschaften aus.

Meiner Ansicht nach besteht die erste Aufgabe im Aufbau einer "Kairologie" – einer Disziplin, die sich der Interpretation gegenwärtiger tiefer globaler Veränderungen widmen würde. Weiter sind alle drei Erscheinungsformen der "Wiederkehr der Religion" einer Analyse zu unterziehen:

– Politisierung der großen Religionen (Versuch die Religion in Politik umzuwandeln)

– "die religiöse Wende" in der postmodernen Philosophie (Versuch die Theologie in Hermeneutik umzuwandeln)

 – das wachsende Interesse an Spiritualität (Versuch die Religion in Spiritualität umzuwandeln)

Ich bin überzeugt, dass es in allen diesen drei Bereichen für das Christentum der Zukunft  sowohl Herausforderungen und Gelegenheiten als auch Gefährdungen gibt

Man muss sich jedoch fragen, ob wir uns wirklich schon in dem "postsäkularen Alter" befinden, ob das Chistentum bereits alles herausgeholt hat, was es durch Konfrontation mit der Säkularisation gewinnen konnte und sollte, ob die Säkularisation zur "Fegefeuerglut" und zum Tor zu einer reiferen Gestalt wurde. Keiner andere Religion war es gegönnt durch eine solche Reifeprüfung zu gehen, duch die Glut einer intensiven rationalen Kritik, wie dem Christentum im Zeitalter der europäischen Modernität. Hat diese  Erfahrung zu einer Glaubensvertiefung verholfen?

Die Kulturgeschichte ist keine einbahnmäßige und eindimensionale Evolution, noch eine Fortschrittsschau. Die neuzeitliche Rationalität war bereits in der scholastischen Theologie des Mittelalters präsent, die Säkularität  im mittelalterlichen Streit zwischen Kaisertum und Papsttum. ähnlich trägt die Postmoderne manche Züge der Modernität in sich und die Postsäkularität Werte des säkularen Zeitalters.

 

Krieg gegen Terrorismus der islamischen Welt muss auch ein Dialog und ein "Krieg der Ideen" sein 

Die auffallendste Form der Wiederkehr der Religion ist deren Präsenz auf der politischen Bühne; am stärksten ist die Politisierung in der islamischen Welt zu beobachten. Die arabische Welt lehnte eine gewaltsame Säkularisation der durch den Westen sowie durch den sowjetischen Block unterstützten diktatorischen Regime ab. Nach dem Sturz der Diktatoren  kam es in den genannten Gebieten zu einem Chaos, in dem ein immer stärkerer Einfluss islamischer Extremisten vorherrschend ist. Die terroristischen Offensiven riefen einen "Krieg gegen den Terrorismus" hervor, in dem jetzt am meisten seine militärische Form aufmerksam verfolgt wird. Der Krieg gegen den Terrorismus muss aber einen "Krieg der Ideen" einbeziehen; Voraussetzung dazu sind ein gründliches Studium der gegenwärtigen islamischen politischen Theologie sowie ein Dialog mit den islamischen religiösen Autoritäten.

 Es geht jetzt darum, ob der überwiegende Teil einer Milliarde und sechshundert Millionen Muslime dem islamischen Extremismus entgegentritt oder der durch die islamische Extremnisten und genauso durch die Islamophoben im Westen suggerierten Idee unterliegt, es handele sich um den Krieg zwischen der islamischen Welt und dem Westen. Wer nicht imstande ist zu unterscheiden zwischen Islam und Islamismus und den Konflikt mit den Islamisten als Konflikt mit dem Islam interpretiert, erfüllt den Islamisten ihren größten Wunsch und betreibt ein Spiel mit gefährlichem Feuer.

 Ein ähnlicher Feind des Westens ist neben dem islamischen der russische orthodoxe politische Fundamentalismus, Ideengeber für den Nationalismus Putins und dessen Streben nach einer Rekonstruktion des sowjetischen Reiches auf neuen Grundlagen. Ideologen der russischen orthodoxen Kirche verbreiten die Idee, der Westen habe das Christentum verworfen, sei einem moralischen Verfall unterlegen, und der frühere KGB-Agent Putin werde zum "neuen Kaiser Konstantin", zu weltweitem Beschützer des Christentums und zum Schöpfer des im Entstehen begriffenen neuen christlichen Reiches. Vsevolod Chaplin, Apostel dieser neuen Gestalt der von im Dienst des kommunistischen Regimes stehenden "Friedenspriestern propagierten""Pax sovietica", ist das Haupt der Synodalsektion für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft und wie einst Khomeini im Iran ist er jetzt bemüht, eine Zensur der Kultur sowie Verbote moderner Kleidung einzuführen. Einer der führenden Repräsentanten der russischen orthodoxen Kirche, Erzbischof Hilarion, hatte vor einigen Jahren sogar zu Schaffung einer neuen Koalition der Orthodoxie, des Islam und der katholischen Kirche aufgerufen, einer Art neuer Heiligen Allianz gegen den Protestantismus und säkularen Humanismus ("Fundamentalisten aller Religionen, vereinigt euch!"). Faschisierende Strömungen im utrakonservativen Katholicismus (Le Pen in Frankreich sowie einige Politiker und Publizisten in Polen, in der Tschechischen Republik, in der Slowakei und in Ungarn) unterstützen Russland hierin, bedienen sich einer nationalistischen Note  und sind besonders auf eine Destruktion der Europäischen Union erpicht. Ein Teíl konservativer Christen (evangelikale Protestanten und neokonservative rechtsorientierte Katholiken) bemühten sich lange Zeit das Christentum in ein politisches Instrument des "Kulturkrieges" gegen die säkulare  Linke umzuwandeln, wobei insbesondere der Akzent auf Sexualethik, auf Kampf gegen Abtreibungen, Antikonzeption und homosexuelle Partnerschaften ihnen die wesentlicheren Werte des Christentums überschattete, auf die Papst Franziskus hinweist – Barmherzigkeit und Teilnahme, friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen, Solidarität mit den Marginalisierten, soziale Gerechtigkeit und Schutz der Natur, der gesellschaftlichen und geistigen Lebensbedingungen.

Die gegenwärtige Flüchtlingskrise ist wohl nur der Anfang durchgreifender demographischer und kultureller Umwandlungen des Westens. Bald zu erwarten ist ein weiterer Zustrom von Migranten infolge ökologischer Katastrophen, insbesondere des Wassermangels, in die demographisch schwachen Länder Europas. Wie die Politik der Aufnahme von Flüchtlingen auch immer sein möge, ist es offensichtlich, dass sich die ethnische und demographische Zusammensetzung der Einwohner Europas gegenüber der nicht weit zurück liegenden Vergangenheit ändern wird. Augenblicklich konzentrieren wir uns hauptsächlich auf sicherheitsgebundene, soziale und ökonomische Aspekte dieser Krise. In Zukunft erwarten uns jedoch weit wesentlichere Probleme des kulturellen Zusammenlebens.

In einer Zeit, die der jetzigen in vielem ähnlich ist, nämlich der nach dem Fall des Römischen Reiches, der Massenmigration und den Streifzügen germanischer Stämme durch das alte Europa, hat es die katholische Kirche geschafft, an die "Barbaren" nicht nur den Glauben weiterzugeben (manchmal waren es arianische Christen), sondern auch das Erbe antiker Kultur und Zivilisation. Der französische Philosoph Jean Guitton, naher Freund Papst Pauls des Sechsten, hat in seinem bemerkenswert prophetischen Buch, geschrieben im hohen Alter kurz vor dem Tod, folgende Frage gestellt: Wenn die Kirche an der Schwelle des Mittelalters imstande war, die wertvollen Früchte der antiken heidnischen Gesellschaft, die die Christen gern ausrottete, an die "Barbaren" weiterzuleiten, nämlich dasrömische Recht und die griechische Metaphysik, wird es auch die künftige Kirche schaffen, die positiven Werte der säkularen Kultur der Aufklärung weiterzuleiten, obwohl sich die Aufklärer gegenüber der Kirche feindlich verhielten? Wird sie imstande sein, den Zuwanderern Werte der Demokratie zu zeigen, wie die Gleichstellung der Geschlechter, die Religionsfreiheit und –toleranz, denen sie sich einst selbst widersetzte? Ich denke, auf die katholische Kirche wartet eine ähnliche geschichtsbildende Aufgabe wie damals an der Schwelle des Mittelalters, falls sie sich der enorm wichtigen Rolle eines Dolmetschers zwischen dem Islam und dem säkularen Westen annimmt; sie kann doch in vielem besser als die Atheisten den Islam verstehen sowie auch besser als die Muslime den Säkularhumanismus, der ein "ungewolltes Kind" des westlichen Christentums ist.

Die Rolle der Religion in der Politik muss nicht bloß Destruktion sein, die eintritt, wenn die radikalen Stellungnahmen keinen passenden Ausdruck in der säkularen Sprache finden und spontan zur Sprache der Religion greifen: der Gegner wird dann zum "Großen Satan" und die politischen Streitigkeiten zum apokalyptischen Krieg zwischen Gut und Böse. Die Politik kann auch das immense positive Kapital der Religion für ein Werk der Versöhnung ausnutzen, für die Heilung von "Vergangenheitsnarben" und für das Zusammenleben in Frieden.

Ist die gegenwärtige christliche politische Theologie und Soziallehre genügend vorbereitet, um komplizierte Probleme der Politik, Kultur und Moral der kommenden Zeit zu reflektieren, zu interpretieren  und Hilfe zu leisten für deren Lösung? Der Dialog zwischen Ratzinger und Habermas im Jahre 2004 zum gegenseitigen Einvernehmen gelangt war, nämlich dass selbstkritisches Christentum und selbstkritischer Säkularhumanismus einander brauchen, um gemeinsam ihre Einseitigkeiten zu korrigieren. Entsteht eine neue politische Theologie, die die liberale Demokratie um einen moralisch-spirituellen Ansporn bereichern wird anstatt um eine Koalition von Fundamentalisten?

Gott kehrt in die akademische Welt zurück

Eine unterschiedliche Form der "Wiederkehr der Religion" ist der sogenannte "religious turn" in der postmodernen Philosophie. Angefangen bei Kierkegaard und Heidegger und insbesondere seit Lévinas und Ricoeur bis zu den zeitgenössischen postmodernen Philosophen wie Jean-Luc Marion, Richard Kearney, John Caputo oder Gianni Vattimo kehrt das lange verdrängte Thema "Gott" auch hier wieder zurück – diesmal in die akademische Welt.

Auch da ist es allerdings "ein anderer Gott" als der erste Beweger, den sich die mittelalterliche Theologie aus der antiken Metaphysik geliehen und damit den Gott biblischer Geschichten ein wenig in den Schatten gestellt hat. Die postmoderne Philosophie sowie die von ihr inspirierte Theologie gibt zu, dass dieser Gott der klassischen Metaphysik wirklich gestorben ist, wie es der "Verrückte" in Nietzsches Werk Fröhliche Wissenschaft verkündet hat. Wir kehren – behauptet Kearney – zurück in die Situation  der Wette Pascals: Glaube und Unglaube stehen vor uns wie zwei offene Möglichkeiten freier Wahl. Gott sei ein "Gott, der sein kann", er komme zu uns als Möglichkeit, als Herausforderung und Angebot. Er wohne nicht hinter den Kulissen der Welt, sondern in den Geschichten, die von ihm erzählen. Glauben heiße "in Geschichte einzutreten", Geschichten der heiligen Schriften sowie die des eigenen Lebens als Bestandteil des hermeneutischen Kreises aufzufassen, als Geschichten, die aufeinander deuten. Lévinas gemäß offenbare sich Gott in bedingungslosem Appell, den das Antlitz des anderen darstellt.

Von einigen Gedanken der postmodernen Theologie könnte sich vielleicht auch die zeitgenössische politische Theologie inspirieren lassen: in ihrer postmarxistischen Phase übernahm die Befreiungstheologie von Lévinas seine Idee des Respektes zur Verschiedenheit des anderen, zur Verteidigung der Rechte von Minoritäten.

Der dritte Bereich der "Wiederkehr der Religion" ist das ständig wachsende Interesse an Spiritualität als Gegengewicht zur technisierten Welt. Die Verbreitung von "religiösem Kitsch" in Form einer ansprechenden Mischung aus Psychotherapie, Esoterik und Mystik unter dem Namen "New Age" scheint vielmehr ein Zeichen geistigen Dürstens zu sein als eine aus der Tiefe sprudelnde Quelle, die fähig wäre, den Durst zu stillen.

Mutter Teresa als Symbol für unsere Zeit

Nachdem ich das geistige Tagebuch Mutter Teresas von Kalkutta gelesen hatte, dieses Zeugnis von ihrem dauernden schmerzlichen Kampf gegen religiöse Zweifel und inneres Dunkel, begriff ich diese Frau als ein lebendiges Symbol für unserer Zeit: in ihren Tagen war sie solidarisch mit dem körperlichen Leiden Armer und Kranker, in ihren Nächten trug sie das innere Dunkel und die Vereinsamung vieler Menschen unserer Zeit mit. Die authentische Spiritualität ist nicht die Flucht in einen Opiumwinkel der Glückseligkeit, sondern ein Weg der Verwandlung unserer Schwäche und unseres Schmerzes in die Fähigkeit unseren Egoismus zu überschreiten zu den anderen hin, in die Verwandlung der "anderen" in unsere Nächsten.

Ich denke, die Kirche der Zukunft sollte das sein, was die Universität in ihren Anfängen zu sein beabsichtigte – eine Gemeinschaft von Meistern und Schülern, eine Gemeinschaft des Lebens, des Gebets und der Lehre. Sie sollte meiner Ansicht nach die eigentlichen Wurzeln des Christentums wieder entdecken, durchdenken, durchbeten und der Welt anbieten: den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Unsere Zeit hat einen Papst, der dies sehr ernst nimmt.