Schauprozess? Politischer Kampf? Was auf dem Spiel steht bei "Vatileaks 2.0"

Ein Schweizergardist vor dem Petersdom am 10. Juni 2015
Ein Schweizergardist vor dem Petersdom am 10. Juni 2015
CNA/Petrik Bohumil
Professor Paolo G. Carozza lehrt an der Universität von Notre Dame
Professor Paolo G. Carozza lehrt an der Universität von Notre Dame
OSA

“Vatileaks 2” nennen die Medien den andauernden Fall; im Februar wird das Verfahren weitergehen, heißt es. Doch während die Gutachten der Anwälte erstellt werden, gibt es in der Öffentlichkeit einen anderen – medienwirksamen – Prozess, der von denen betrieben wird, die angeklagt sind. Man spricht oft von einem "Schauprozess", einem "politischen Prozess", einem Prozess "eines Staates dessen Gesetze auf die Zeit vor dem  König zurückgehen", einem Prozess "den es in keinem anderen Staat der Erde geben würde". Aber ist das wirklich so? CNA hat Paolo G. Carozza befragt, einen Völkerrechtsexperten und Leiter des Helen Kellogg Institute for International Studies der Universität von Notre Dame in den USA.

CNA: Ist der Prozess, der im Vatikan geführt wird, ein Schauprozess? Wie wird das vatikanische Rechtssystem von der internationalen Gesetzgebung wahrgenommen?

CAROZZA: Ich bin kein Experte, ich kenne die Details des Strafgesetzbuches des Vatikanstaates und seine Strafverfahren nicht. Aber in dem, was ich über den Prozess vom Ausland aus beobachten konnte, war nichts, was mich zur Annahme bewegt hätte, das angewandte Strafverfahren in diesem Prozess wäre irgendwie defizitär was den Schutz der Rechte jener angeht, die auf der Anklagebank sitzen. Ich kann nicht sagen, dass die Strafverfahren besonders archaisch oder nicht klar wären und weit weniger, dass es sich um einen Schauprozess handeln würde.

CNA: Es wird oft hervorgehoben, dass es sich um einen Prozess gegen die Informationsfreiheit handle. Das ist jedoch nicht exakt, weil es in Wirklichkeit um einen Prozess wegen Verbreitung vertraulicher Dokumente geht. Könnte es diesen Prozess auch an anderen Orten der Welt geben? Gibt es Grenzen für die Pressefreiheit?

CAROZZA: Sicherlich gibt es Grenzen, wie in jeder demokratischen Gesellschaft. Die Pressefreiheit ist kein Absolutum. Das Problem ist nicht, ob die Begrenzungen und Einschränkungen in abstracto erlaubt sein können, sondern vielmehr ob diese Einschränkungen und Begrenzungen im spezifischen Kontext vernünftig sind. Zum Beispiel: man kann einen Vergleich anstellen zwischen den Einschränkungen und den damit verbundenen Anklagen gegen die Journalisten in diesem Fall und der Art von Einschränkungen und Verfolgung, wie man sie in einer Diktatur findet. Die autoritären Regime versuchen normalerweise, ihr Strafgesetzbuch zu benutzen, um die Arbeit der Journalisten zum Schweigen zu bringen -  die Beschränkungen des Zugangs zu Dokumenten und die Anwendung von Strafgesetzen haben eben den Zweck, die Presse in eine Rolle der Unterwürfigkeit zu drängen. In anderen Nationen aber, in denen die Menschenrechte in großem Umfang geachtet und geschützt werden, gibt es dennoch unausweichlich Gesetze, die die Verbreitung und Veröffentlichung einiger sensibler Informationen beschränken und deshalb werden Strafen über Personen, auch Journalisten, verhängt, die auf illegale Weise Informationen erwerben oder enthüllen. Jeder Staat besitzt legitime Einschränkungen, um vertrauliche Dokumente zu schützen.

Man kann daher die Rechtmäßigkeit der Anklagen nicht in sich selbst darlegen, sie aus der Natur und dem Zweck der gesetzlichen Einschränkungen, die verletzt worden sind, herausnehmen. Die erste Frage lautet somit: sind diese Einschränkungen vernünftig oder nicht? Haben wir Grund zur Schlussfolgerung, dass die Einschränkungen, die bei diesem Fall im Spiel sind, innerhalb der Befugnisse der vatikanischen Souveränität nicht angebracht sind?

CNA: Warum also scheint die Presse die Theorie des "Prozesses gegen die Pressefreiheit" zu stützen?

CAROZZA: In der Regel hat die Presse eine Art natürliches, institutionelles persönliches Interesse daran, zu versuchen, den Gebrauch und die Veröffentlichung jedweder Information, die sie erhalten kann, zu verteidigen. Das ist normal und es handelt sich nicht zwangsläufig um etwas, das spezifisch die Informationen des Heiligen Stuhles betrifft, wie in diesem Fall. Vergleichen wir beispielsweise einen anderen Fall damit, der im Zentrum der öffentlichen Meinung steht: den Fall Edward Snowden. Als Snowden vertrauliche Informationen verbreitet hat, ergriff der Großteil der Presse die Verteidigung Snowdens. Das ist Teil der Dynamik; mit der Presse, die von selbst aggressiv wird, um die Informationen zu verteidigen, die sie verbreitet. Das ist keine hässliche Sache, es ist normal und in manchen Fällen ist es in einer offenen und demokratischen Gesellschaft gut, dass die Presse ihren Zugang zur Information aggressiv verteidige. Das bedeutet aber nicht, dass die Presse notwendigerweise immer korrekt ist in ihrer Forderung, dass jede Einschränkung des Zugangs zu vertraulicher Information unrechtmäßig sei.  

Mehr in Welt

Wie die internationalen Gesetze zu den Menschenrechten bestätigen, ist das Recht Informationen zu erhalten und zu verbreiten nicht unbegrenzt und nicht alle Prozesse wegen Verletzung dieser Begrenzungen sind zwangsläufig gegen den Schutz der Menschenrechte.

CNA: Was ist letztendlich das Problem?

CAROZZA: Das ist eine interessante Frage: wer könnte der Meinung sein, ein Recht zu haben, die Informationen, um die es hier geht, zu kennen? Der Fall Snowden kann hier erneut als guter Vergleich dienen. Was Snowden und seine Enthüllungen angeht, kann man vertreten (auch wenn dies sicher ein strittiges Thema wäre), dass er dem amerikanischen Publikum eine verbreitete und systematische Praxis der Regierung, Personen ohne ihr Wissen auszuspionieren, bewusst machte und dass es -  wenn es gemäß den amerikanischen Gesetzen auch illegal ist, Informationen zu stehlen und zu offenbaren – ein moralisches Recht für die amerikanischen Bürger gab, diese Praktiken der Regierung zu kennen, so dass sich die Regierung in einer freien und demokratischen Gesellschaft dafür verantworte. Kann man das gleiche für den sogenannten “Vatileaks 2–Prozess” vertreten? Gibt es Personen – Bürger, Angehörige von Opfern der Verletzung von Menschenrechte – die ein moralisches Recht fordern können, Informationen zu kennen, die gestohlen und verbreitet wurden? Wer sind die Träger des ausgerufenen "Rechtes auf Wissen"? Ich glaube, dass es wichtige Unterschiede gibt in Fällen, die oberflächlich ähnlich erscheinen können. In diesem Fall – im Unterschied zu anderen – bin ich nicht überzeugt, dass es Personen gibt, die hier ein moralisches Recht einfordern können, diese Informationen zu kennen, unabhängig von den formalen Verboten der positiven Gesetze des Staates.

CNA: Glauben Sie, dass es einen generellen Angriff auf die Souveränität des Heiligen Stuhles gibt?

CAROZZA: Ich kann nicht sagen, die Beweggründe hinter all dem zu kennen, aber ich glaube, dass es nicht unvernünftig ist, diese Frage zumindest zu stellen. Wie ich vorher gesagt habe: wenn man es isoliert betrachtet, als reinen Versuch, die Ziele der Informationsfreiheit zu maximieren, dann ist dabei nichts Ungewöhnliches oder notwendigerweise Negatives bezüglich des Bemühens, die Pressefreiheit zu verteidigen – auch auf aggressive Weise und in strittigen Fällen. Aber wir können diesen Fall auch als nicht alleinstehend betrachten, sondern in einem weiteren geopolitischen Kontext, in dem wir wissen, dass mit Sicherheit auch andere Akteure beteiligt sind –  einige Menschenrechtsorganisationen zum Beispiel – die dem Heiligen Stuhl sehr gerne den Status nehmen würden, den er in der internationalen Gemeinschaft innehat. Gibt es eine Verbindung zwischen den Reaktionen auf diesen Prozess und umfassenderen geopolitischen Kontroversen? Ich weiß es nicht. Aber es lohnt, sich diese Frage zu stellen und darüber nachzudenken.

Erhalten Sie Top-Nachrichten von CNA Deutsch direkt via WhatsApp und Telegram.

Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.