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Um eine Philosophie des Guten: 11. Von Hildebrands Wertethik

Dietrich von Hildebrand: Ausschnitt eines Portraits des Philosophen

Ich halte es für tragisch, dass die Wertethik Dietrich von Hildebrands in der Philosophie fast nicht rezipiert wurde. Das hat vermutlich zwei Gründe: Als Hildebrand 1953 seine Ethik, "eine großangelegte Phänomenologie des sittlichen Lebens" (Richard Egenter), veröffentlichte, geschah es in englischer Sprache in Amerika, also fernab vom Geburtsort der Wertethik, und zu einem Zeitpunkt, da die große Zeit der Wertethik schon vorüber war. Im Gedächtnis vieler Philosophen bleibt die Wertethik verknüpft mit den Namen Max Scheler (1913: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik) und Nicolai Hartmann (1926: Ethik), und das war es dann schon im Wesentlichen. Spätere Wertethiker wie Johannes Hessen, Hans Reiner oder eben Dietrich von Hildebrand verblieben im toten Winkel der Philosophiegeschichte. Zudem gab Hildebrand seiner Ethik unglücklicherweise den Titel Christian Ethics, wodurch sie bei vielen schon von vorne herein aus dem philosophischen Diskurs herausfiel. Dabei bedient er sich streng der phänomenologischen Methode ohne theologische Voraussetzungen. Nur gegen Ende seines Buches wagt er einen Ausblick auf das Christentum, weil es seiner Meinung nach neue Werte sichtbar werden lässt, die dem phänomenologischen Blick im Prinzip ebenso zugänglich seien wie die Werte des common sense.

Hinzu kommt der Vorwurf mangelnder spekulativer Tiefe. Ich möchte Hildebrands Art des Philosophierens mit einer Bildbeschreibung im Gegensatz zu einer Bildinterpretation vergleichen. Natürlich ist eine Interpretation interessanter als eine Beschreibung. Aber sie setzt, will sie zutreffend sein, eine möglichst präzise Beschreibung voraus. Je unschärfer die Wahrnehmung, um so größer der Spielraum, viel Interessantes und Geheimnisvolles in das Bild hineininterpretieren. Wenn wir in diesem Zusammenhang das Wort Lessings anwenden: "Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt", dann erscheint Dietrich von Hildebrand als ein Spielverderber. Er schränkt durch den genauen Blick auf die Phänomene das freie Spiel der Einbildungskraft ein. Wir müssen uns entscheiden, welches Interesse wir vorziehen. Das Interesse an einer möglichst genauen Erfassung des phänomenologisch Gegebenen gerät schnell in Konkurrenz zum Interesse, in der Philosophie durch Spekulation zu glänzen. Dafür aber erhöht die Beschreibungspräzision die Wahrscheinlichkeit, bei der Interpretation nicht uferlos ins Irrige abzudriften. Wem also die Wahrheit mehr am Herzen liegt als Originalität, der wird für die überaus präzise Anwendung der phänomenologischen Methode durch Hildebrand nur dankbar sein und sie seinerseits gerne als solide Ausgangsbasis einer seriösen Spekulation mit Bodenhaftung nutzen.

Dietrich von Hildebrand lässt die Phänomene sprechen und widersteht jeder Versuchung zu einem Entlarvungsgestus, der sie als etwas Anderes interpretieren will als das, als was sie sich selber präsentieren. Des Phänomen des Wertes, der sich uns gegenüber als etwas präsentiert, das mit Autorität einen Anspruch auf uns geltend macht, wird von ihm ernstgenommen und mit Akribie in allen Aspekten beschrieben. Er verwendet seinen philosophischen Ehrgeiz nicht darauf, diese Autorität zu untergraben, wie es etwa ein Friedrich Nietzsche tut, sondern sie zu verstehen. Der erste Schritt zum Verständnis aber ist die Anerkennung. Am Beispiel des Philosophen Norbert Hoerster können wir sehen, was die Verweigerung dieser Anerkennung bedeutet (Was ist Moral? VII: Warum soll man nicht "trittbrettfahren"?). Er leugnet die Existenz vorgegebener Moralnormen. Folglich gibt es für ihn auch keine Pflicht zur Fairness.

Faires Verhalten für vernünftig zu halten ist für ihn gerechtfertigt aufgrund des individuellen Interesses an der Geltung sozialer Normen: Es lebt sich angenehmer in einer Gesellschaft, in der Fairness geachtet und gelebt wird. Und es zahlt sich aus, bei diesem Spiel mitzumachen. Denn der Faire genießt in einer solchen Gesellschaft größere Achtung. Und der sicherste Weg, um als fair zu gelten, ist derjenige, fair zu handeln und zu diesem Zweck das Fairnessgebot so zu verinnerlichen, dass man auf unfaires Trittbrettfahren auch im Fall einer günstigen Gelegenheit verzichtet. Man soll also fair sein um der größeren Vorteile willen, die man davon hat. Der Wert der Gerechtigkeit wird in einer solchen Konzeption all seiner Werthaftigkeit und normativen Kraft beraubt und dem Kosten-Nutzen-Kalkül eines aufgeklärten Eigeninteresses unterworfen. Die Gerechtigkeit wird zu einem bloß instrumentellen Wert im Dienst des Egoismus. Wie sehr hier die Dinge auf den Kopf gestellt werden, erkennen wir, sobald wir das Wort Immanuel Kants dagegenhalten: "wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben" (MSR). Der Wert der Gerechtigkeit verdankt sich nicht ihrem Nutzen für den Egoismus der Einzelnen, sondern schenkt diesen überhaupt erst den Rechtfertigungsgrund ihrer Existenz. Moral ist nicht dazu da, uns das Leben zu erleichtern, sondern wir leben, um höchste Moralität, Gerechtigkeit und Heiligkeit, zu verwirklichen. Dass sie dazu beiträgt, eine Gesellschaft mit größerer Lebensqualität zu etablieren, von der wir wiederum profitieren, ist ein Kollateralnutzen, den wir gerne in Anspruch nehmen dürfen, von dessen Eintreffen wir aber unsere Entscheidung zur Moralität nicht abhängig machen dürfen. Unrechtssysteme, in denen Moralität und persönlicher Nutzen auseinander fallen, weil sie auf unbequemen Widerstand und profitablem Mitläufertum verteilt sind, bilden den Lackmustest für die moralische Gesinnung. Wer wie Hoerster die Anerkennung absoluter Werte verweigert zugunsten einer interessenbasierten Ethik, hat dann keine Gründe mehr, sich gegen feiges Mitläufertum zu entscheiden.

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