Thomas von Aquin sagt mit Aristoteles, dass das Gute dasjenige sei, wonach alle streben ("Et inde est quod philosophus dicit, in I Ethic., quod bonum est quod omnia appetunt", S. th., II I, 8, 1, c.). Wenn wir handeln, dann immer um eines Guten (bonum) willen. Das gilt sowohl für moralisch gute wie auch für moralisch schlechte Handlungen.

Hier wird ein Begriff des Guten etabliert, der so weit ist, dass er für alle Handlungen passt und somit nicht als Kriterium zur Unterscheidung von guten und schlechten Handlungen in Frage kommt. Dass Thomas zu den Vertretern eines Zielmonismus gehört, ist unumstritten. Es gibt nach ihm genau "ein Ziel, um dessen willen alle menschliche Tätigkeiten geschehen", schreibt z.B. Hanns-Gregor Nissing in einer neueren Abhandlung (Christlicher Eudaimonismus: Thomas von Aquin, in: Nissing/Müller Hg., Grundpositionen philosophischer Ethik, Darmstadt 2009, 53-82, hier: 57).

Natürlich hat Thomas recht. Auch der Bösewicht erstrebt irgendein Gut. Dem Raubmörder geht es um das bonum des Geldes, das er erbeutet. Aber dieses bonum hat nichts mit dem moralisch Guten zu tun, sondern mit dem großen Glück, das er sich davon erhofft. Der Begriff des Guten, der hier im Spiel ist, hängt vom Glücksbegriff ab.

Wir haben es hier mit dem Grundansatz des Eudämonismus zu tun, dem gemäß die Menschen in allen ihren Handlungen nach dem eigenen Glück streben. Der Begriff des bonum ist in diesem Zusammenhang ein relationaler: "gut" bedeutet "gut für mich", nämlich insofern es zu meinem Glück beiträgt oder mich ihm näherbringt. Der Unterschied zwischen gutem und bösem Handeln reduziert sich dann auf den Unterschied zwischen wahrer und falscher Auffassung dessen, worin mein wahres Glück besteht und was mir zu ihm verhilft.

In diesen Motivationsmonismus, der nur ein einziges Handlungsziel kennt, geschieht genau das, was Immanuel Kant den Eudämonisten vorwirft, nämlich dass "sie die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Klasse stellen und nur den Kalkül besser ziehen lehren, den spezifischen Unterschied beider aber ganz und gar auslöschen" (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten).

Dieser Vorwurf ist zutreffend. Kant gibt nur mit anderen Worten wieder, was der Eudämonist selber zugibt, wenn er alle Handlungsmotive unter den Sammelbegriff des Glücks zusammenfasst. Es gibt für ihn keine andere Motivation. Der eine sucht das Glück in Reichtum, Erfolg oder Wollust, der andere im Einsatz für Menschen in Not, ein dritter in intellektueller Befriedigung. Der Unterschied zwischen guten und bösen Handlungen wird diesem Ansatz zufolge auf den Unterschied zwischen verschiedenen Glücksauffassungen reduziert. Scholastisch gesprochen reduziert er sich auf die Verschiedenheit des Materialobjekts des menschlichen Handelns, während das Formalobjekt, also die Hinsicht, unter der der jeweilige Handlungsgegenstand erstrebt wird, stets dasselbe ist, nämlich sein Charakter als bonum im Sinne des Glücksförderlichen. Alles wird erstrebt, wie Thomas sagt, "ratione boni" (l.c.). Und im Sed contra desselben Artikels zitiert er zustimmend Dionysius, der meint, dass das Übel nicht Gegenstand des Willens sei und alle das Gute erstreben (quod malum est praeter voluntatem, et quod omnia bonum appetunt, IV cap. de Div. Nom.).

Wie sehr dieser Zielmonismus den wahren Sachverhalt verkennt, können wir uns wiederum an unserem Beispiel klarmachen. Nehmen wir an, unser Lebensretter ist unterwegs zu einem Konzert, auf das er sich freut und von dem er sich einen schönen Abend verspricht. Vielleicht handelt es sich auch um einen Philosophen, der sich auf die theoria, die beseligende Meditation der Wahrheit freut. Unterwegs entdeckt er das ertrinkende Kind. Er springt ins Wasser und rettet

es. Sein Anzug ist dahin, der Abend gelaufen, vielleicht holt er sich sogar eine Erkältung. Hier erscheint der moralische Anspruch, dem er gehorcht, gerade als Glücksverhinderer. Der Retter verzichtet auf das geplante Glück, um der Pflicht zu gehorchen. Er denkt nicht an sich, sondern an das Kind. Er rettet es auch nicht, um sich später an seinem guten Gewissen zu erfreuen. Vielleicht ist ein solcher Fall auch denkbar. Es gibt tatsächlich Eudämonisten, die nach diesem Schema die Möglichkeit einer solch selbstlosen Tat erklären: Weil der Lebensretter weiß, dass er nach der Rettung des Kindes aufgrund des guten Gewissens glücklicher sein wird als nach unterlassener Hilfeleistung, entscheidet er sich für die Rettung. Solcher Eudämonismus macht aus jeder moralisch guten Tat eine Tat verkappter Eigenliebe. In einem solchen Fall ist das Kind nur Mittel zum Zweck. Die Triebfeder ist Glücksstreben, nicht Pflichtbewusstsein oder Liebe zum Kind. Der Eudämonismus macht den Begriff einer Liebe, der es aufrichtig um das Wohl des Anderen geht und die daraus ihre Handlungsmotivation bezieht, unmöglich.

Sobald man die Möglichkeit anerkennt, dass jemand das Gute um des Guten willen tun kann, dass jemand einem anderen hilft ohne Hintergedanken an das eigene Glück, ist der Motivationsmonismus des Eudämonismus gesprengt.

Ein weiteres Phänomen, anhand dessen wir uns von der Wahrheit des Motivationsdualismus überzeugen können, ist das Gewissen. Die Rettung des Kindes ist eine Gewissenshandlung, der Konzertbesuch oder die philosophische Stunde nicht. Wenn ich ein Konzert besuche, weil es mir Freude bereitet, dann ist das völlig legitim. Aber man kann nicht sagen, dass ich dabei einem Befehl meines Gewissens folge. Wenn ich in einem Restaurant die Speisekarte studiere und mich für jenes Gericht entscheide, das mir am besten schmeckt, ist das keine Gewissensfrage. Ich bin frei in der Wahl des Gerichts, ohne dass mir das Gewissen dazwischenfunkt. Ich kann auch ein Gericht wählen, das mir weniger schmeckt, ohne dass ich deshalb ein schlechtes Gewissen zu haben brauche. Dagegen ist es eine Gewissensfrage, ob ich dem Kind helfe oder nicht. Wenn ich eine mögliche Hilfe unterlasse, habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe Schuldgefühle gegenüber dem Kind und nicht bloß Gefühle des Bedauerns über einen Fehler in der Kunst, mir Glück zu verschaffen.

Das Gewissen hat es mit dem moralisch Guten zu tun, das Glück mit dem Guten-für-mich. Das sind zwei verschiedene Begriffe des Guten, die nicht aufeinander zurückführbar sind. Der konsequente Eudämonismus kennt außer dem Begriff des Guten, der im Begriff des Glücks als des Guten-für-mich aufgeht, nur noch einen instrumentellen Begriff des Guten: gut ist das, was meinem Glück dient. In dem Moment, in dem ich einen Begriff des Guten anerkenne, der diesen relationalen und instrumentellen Charakter sprengt und auf einen Wert hinweist, der um seiner selbst willen meine Achtung verdient, anerkenne ich ein Handlungsmotiv, das nicht im Glücksmotiv aufgeht. Ich helfe dem Kind nicht aus irgendeinem Glückskalkül, sondern aus Nächstenliebe, aus dem Bewusstsein, dass es sich um ein Wesen handelt, das meiner Hilfe bedarf, meines Einsatzes wert ist und ein Recht darauf hat.

Das Glück verlockt mich zum Handeln, das moralisch Gute stellt mich unter einen Anspruch. Die Art der Motivation zum Handeln ist völlig verschieden. Dem Gewissen zu folgen ist geradezu der Gegenbegriff zum Glücksstreben. Das erleben wir immer dann, wenn das Gewissen von uns ein Opfer erfordert. Wenn wir unter Opfern dem Befehl des Gewissens gehorchen, haben wir den Eindruck, dass wir um des moralisch Guten willen ein Stück unseres Glücks preisgeben. Ob aufs Ganze gesehen das Gewissen unser Glücksstreben tatsächlich vereitelt, ob die Moral unserem Glück im Wege steht, können wir auf dem gegenwärtigen Stand unserer Überlegungen nicht entscheiden. Diese Frage ist offen, weil sie von unserem Weltbild oder unserer Metaphysik abhängt. Fest steht im Moment nur, dass die Frage nach dem moralisch Guten eine andere ist als die nach unserem Glück. Glück ist das, was wir von selber sowieso immer schon wollen, das moralisch Gute ist das, für das zu entscheiden das Gewissen uns befiehlt.

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle 14 Tage am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch. 

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