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Denken als Meditation. Versuch eines Dankes an Robert Spaemann

'Wer sich von ihm auf den Weg des Denkens führen lässt, tut jene "Schritte über uns hinaus", die den Raum wirklicher Freiheit eröffnen'

"Gott ist tot. Nietzsche – Nietzsche ist tot. Gott" – dieses bekannte Graffiti findet sich auf der Rückseite von Robert Spaemanns Büchlein "Das unsterbliche Gerücht" und es sagt mehr über den nun Verstorbenen aus als man zunächst vermuten mag. Da ist zunächst der lakonische Ton, den Spaemann beherrschte wie wenige und der ihm den Titel eines "Meisters des philosophischen Essays" eingebracht hat. Darüber hinaus ist mit Friedrich Nietzsche, dem "Seismographen" des mörderischen 20. Jahrhunderts, ein lebenslanger Gesprächspartner des Stuttgarter Philosophen genannt. Vor allem aber ist das Graffiti die humoristische Kurzform eines Gottesbeweises – und Gottesbeweise sind eines der Lebensthemen Robert Spaemanns. 

Einen dieser Gottesbeweise entwickelt Spaemann als originelle Bestätigung eines Satzes aus Nietzsches Götzendämmerung ("Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben") aus dem Futur II. Die Behauptung, dass etwas gewesen sein wird, setzt voraus, dass es jetzt ist und umgekehrt. Da das Ganze menschlicher Erinnerung mit dem Kosmos endlich ist, stehen wir vor folgender Wahl: "Wenn wir auf die Annahme eines definitiven Aufgehobenseins aller Ereignisse der Welt in einem göttlichen Innen verzichten, müssen wir die Wirklichkeit entwirklichen. Wir müßten den absurden Gedanken akzeptieren, daß das, was jetzt ist, einmal nicht mehr gewesen sein wird. Das aber heißt, daß es überhaupt nicht wirklich ist".

Ein weiterer Gottesbeweis findet sich am Ende von Spaemanns philosophischem Hauptwerk "Glück und Wohlwollen" und er ist nicht nur originell, sondern zeugt auch von der tiefen Humanität, die sein Denken trägt. Im letzten Kapitel des Werkes legt Spaemann dar, dass Verzeihen immer ein Geschehen zwischen Subjekten ist: niemanden wird verziehen, wenn ihm nicht jemand verzeiht. Wie aber steht es dann, so fragt Spaemann, mit der Verzeihung sich selbst gegenüber? Dass der Mensch Verantwortung gegen sich selbst trägt und gegenüber dieser schuldig werden kann, mag man (wider jede Erfahrung der psychologischen Praxis) bezweifeln. Wenn man an dem Gedanken der Verantwortung gegen sich selbst aber festhalten will, so ist er "nur durchzuhalten, wo eine mögliche Verzeihung, also auch ein Subjekt dieser Verzeihung gedacht wird". Spaemanns Gottesbeweise sind argumenta ad hominem, nicht nur weil er andere "nach Nietzsche" nicht für sinnvoll hält, sondern auch weil der Möglichkeit des umfassenden Gelingens menschlichen Lebens seine ganze denkerische Aufmerksamkeit gilt.

Im Hinblick auf das Gelingen unseres Lebens, also das, was wir gemeinhin Glück nennen, lädt Spaemann an einer Stelle zu einem Gedankenexperiment ein. Man stelle sich vor, ein Mensch sei auf ein Bett gefesselt und werde durch entsprechende Medikamentengabe in einem dauerhaften Zustand maximalen Glücksgefühls gehalten. Müsste das nicht sozusagen der Himmel auf Erden sein? Die meisten Menschen werden diese Vorstellung weit von sich weisen und den ganzen Versuchsaufbau eher für das Gegenteil halten. Das Gedankenexperiment dient nun nicht dazu, vor den Gefahren des Drogenmißbrauchs zu warnen, sondern es zeigt eine Grundstruktur der Wirklichkeit des Menschen auf: sie ist dialektisch in dem Sinne, dass Ziele nicht auf der via directa erreicht werden. Wir werden nicht glücklich, indem wir unser Glück (oder das, was wir gerade dafür halten) mit aller Macht anstreben, sondern indem wir uns – z.B. durch das Erlernen und Einüben von Tugenden – zu jemandem machen, der des (eigenen und gemeinschaftlichen!) Glücks fähig und würdig ist. Die via directa ist in Wirklichkeit nicht der kürzeste Weg zum Ziel, sondern ein Kurzschluss, der die Pole der menschlichen Existenz nur um den Preis der Zerstörung miteinander verbindet.

Diese Beobachtung gilt nun keineswegs nur für das Gelingen des individuellen Lebens, sondern auch für das Gemeinwohl. Der Staat darf das Glück seiner Bürger nicht erzwingen wollen, sondern muss im Sinne der via indirecta über eine Rechtsordnung jenen Raum der Freiheit eröffnen, in dem die Einzelnen ihr Glück suchen können. Auch die Menschenrechte sind in dieser Perspektive eher die äußeren Grenzpfosten einer solchen freiheitlichen Rechtsordnung und nicht das innere Wertefundament der Gesellschaft. Gerade angesichts der in den letzten Jahrzehnten wachsenden Tendenz einer moralischen Aufladung des politischen Diskurses hat Robert Spaemann immer wieder darauf hingewiesen, dass ein freiheitlich-demokratisch verfasstes Staatswesen eben keine Wertegemeinschaft sein kann, in die sich der Einzelne dann zu integrieren hätte, sondern Raum schaffen muss für unterschiedliche Wertegemeinschaften, die das Gemeinwesen immer wieder auf das Gemeinwohl hin orientieren. Ein Staat, der als Wertegemeinschaft nach moralischen Zielen strebt, zerfällt zwangsläufig in die Guten, die diese Ziele teilen und die Bösen, die sie ablehnen. Er ist nicht sittlich, sondern (prä-)totalitär – ganz unabhängig davon, ob die "Guten" nun braune, rote oder gar keine Gamaschen tragen.

Der Katholik Robert Spaemann konnte es auch seiner Kirche nicht ersparen, vor den Kurzschlüssen der via directa zu warnen. In den Wirrungen der nachkonziliaren Liturgiereform wurde ihm immer deutlicher, dass die eindimensionale Versteifung auf die Kategorie der Verständlichkeit dazu angetan ist, die – nun wahrlich dialektische – Grundstruktur des Gottesdienstes zu zerstören: die Geheimnisse des christlichen Glaubens werden dem sie feiernden Beter nicht dadurch verständlicher, dass man sie in einer möglichst alltäglichen Sprache möglichst laut deklamiert. Spaemann hat sich daher entsprechend der Devise, dass es das Richtige nicht im Falschen gibt, entschieden auf die Seite der Bewahrer des überlieferten römischen Gottesdienstes gestellt – auch um den Preis eines weitgehenden Verlustes seines Ansehens im deutschen Episkopat und organisierten Laientum.

Am Ende seines Lebens hat Robert Spaemann noch Meditationen über den Psalter, das Gebetbuch der Kirche im Allgemeinen und der Mönche im Besonderen, veröffentlicht. Sie sind das Zeugnis nicht nur seiner Gelehrsamkeit, sondern eines lebenslangen Mitbetens mit der Kirche und den Mönchen, denen er sich in jungen Jahren beinahe selbst angeschlossen hätte: "Ich bin kein Mönch. Aber mein Leben ist eine vorübergehende Episode im Universum. Wichtig ist, was immer ist. Die Mönche bezeugen durch ihren Gesang und durch die Form ihres Alltags das, was immer ist. Sie bezeugen es als den, der immer ist. Ohne das, was sie bezeugen, wäre das, was jetzt ist, also auch die Bedeutung dieses Lebens, ebenso wie die des Lebens aller anderen, ohne Bedeutung".

Aber auch ohne den Psalmen-Kommentar hat das Werk Robert Spaemanns immer auch eine geistliche Dimension. Wer sich von ihm auf den Weg des Denkens führen lässt, tut jene "Schritte über uns hinaus", die den Raum wirklicher Freiheit eröffnen, weil sie über die Selbstentfremdung der Alltagsexistenz aufklären in einem genuin philosophischen Akt, der zugleich aber auch den Zugang zu den tieferen Regionen der menschlichen Seele freilegen kann. Für diese "doppelte Aufklärung" schulden die Gesellschaft, in deren Diskurs er sich immer wieder eingemischt hat, die Kirche, deren Gebet er sich zu eigen machte, die sicher auch zukünftig zahlreichen Leser seiner Werke und auch der Verfasser dieser Zeilen dem Verstorbenen großen Dank.

Dr. Michael Schäfer (m_schaefer@icloud.com) arbeitet als Unternehmensberater in Berlin und Leipzig.

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