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Unsere römisch-katholische Lebenswirklichkeit: Außersynodale Betrachtungen

Die DNA der Kirche im Blick? Wissenschaftler am Mikroskop

Sehr viele Katholiken in Deutschland erinnern sich noch an das vieldiskutierte Interview, das der Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer am 14. Dezember 2018 dem "Kölner Stadt-Anzeiger" gab – ein adventlicher Moment höchst eigener Art. Dass der institutionelle Machtmissbrauch in der "DNA der Kirche" stecke – so Wilmer seinerzeit –, sorgte für verständlichen Trubel. Molekulargenetische Metaphern, welchen Einsichten oder Ansichten auch immer geschuldet, vermehren eher die Ratlosigkeit als den Glauben in der Welt von heute. Der Mainzer Bischof Dr. Peter Kohlgraf stand nun ebenfalls der bekannten rheinischen Tageszeitung Rede und Antwort.

Zu Beginn bemerkt er: "Ich stelle ein Auseinanderbrechen der christlichen Botschaft und der Lebenswirklichkeit der Menschen fest, und zwar auch der Menschen in der Kirche. Das reicht hinein bis in die Sprache unserer Verkündigung und die Glaubensvermittlung in der Katechese. Umso wichtiger ist, dass wir in der Kirche diese Kluft zur Realität wahrnehmen und sie zu schließen versuchen." Auch das Problem der "Außenwirkung" der Kirche wird angesprochen, der Wunsch nach einer "geschlechtergerechten Kirche" artikuliert. Der Begriff "Lebenswirklichkeit" wirkt vordergründig konkret, zeitnah und plastisch - und ist doch so beliebig, eine bloße Leerformel. Einen Gegenbegriff hierzu – etwa "Lebensunwirklichkeit" – können wir zwar bilden, aber dessen Anschauungslosigkeit ist offensichtlich. Gemeint ist mit "Lebenswirklichkeit" wohl: Viele Menschen leben nicht entsprechend der Lehre der Kirche, das ist nicht neu – und einige von uns werden sich noch an den Begriff Sünde erinnern. Sünde bezeichnet in diesem Sinne noch immer eine Vielfalt an "Lebenswirklichkeit" oder "Lebenswirklichkeiten", ungeachtet dessen, ob der Begriff verwendet wird oder nicht.

Zudem spricht Bischof Dr. Kohlgraf auch von einer "Kluft zur Realität" in der "Sprache unserer Verkündigung". Darüber ließe sich nachdenken. Der Verzicht auf den Begriff Sünde ist sicher ein gravierender Mangel. Was verkündet die katholische Kirche in Deutschland gegenwärtig? Ist etwa von Gott die Rede? Einige Bischöfe sprechen fortwährend vom Aufbruch. Werben sie für den Glauben der Kirche oder setzen sie ihre Hoffnungen auf den – ein weiteres Kunstwort – "verbindlichen Synodalen Weg"? Wahrnehmungsschwächen seien allen Menschen, synodal wie außersynodal, grundsätzlich zugestanden. Der Mainzer Bischof erklärt, dass Evangelisierung ein wesentliches Thema sei – stimmt. Zugleich aber bemerkt er: "Wenn aber gemeint ist, dass die Kirche schon vorher weiß, was sie den Menschen antworten wird und deren Fragen dann eigentlich gar nicht interessieren, dann wird Evangelisierung ein Kampfbegriff." Wenn die Kirche allerdings nicht mehr wissen sollte, was im Evangelium steht und wie die Antwort des Glaubens aussieht, warum sollten Suchende auskunftsbereite Kleriker und Weltchristen mit ihren Fragen überhaupt behelligen? Erwartet etwa ein glaubensoffener Mensch eine kulturchristliche Antwort wie: "Ich bin auch immer so ratlos – das ist meine Lebenswirklichkeit, das liegt auch in meiner DNA –, aber lass uns trotzdem einfach darüber reden. Wir werden uns bestimmt gut verstehen."

Ich übertreibe, ja. Dennoch: So oder so ähnlich stelle jedenfalls ich mir den geschmeidigen Kulturchristen von morgen vor. Vielleicht hören wir eines Tages tatsächlich noch solche nebelhaften Worte. Natürlich – und da hat der Bischof Kohlgraf völlig recht – ist Ernsthaftigkeit unverzichtbar, ja eine Voraussetzung für einen gelingenden Dialog. Seelsorge ist auch kein unverbindliches Beratungsgespräch, Theologie keine gegenstandslose Wissenschaft, aber auch keine bloße subjektive Religionsphilosophie. Es gibt auch noch immer Antworten der Kirche, die nicht verschwiegen werden dürfen. Auf die Frage "Wer ist Jesus Christus?" gibt es viele falsche und eine richtige Antwort – welche das ist, darüber belehrt uns das Credo. Das gehört noch immer zu unserer römisch-katholischen Lebenswirklichkeit. Auch der Katechismus ist ein kluges Buch. Wir bekennen uns zu Gott und Seiner Kirche, warum können wir dann nicht werbend und verständlich auf diese Weise antworten?

Unser Glaube ist eingeschrieben in die Realität, und der Glaube der Kirche ist unsere Lebenswirklichkeit. So möchte ich sagen – ich bin römisch-katholisch, also stehe ich im Glauben der Kirche aller Zeiten und Orte; und ich bin überzeugt davon, dass das genügt. Dieser Glaube ist ein Geschenk und Geheimnis, nicht eine Option unter vielen. Der Glaube der Kirche ist zugleich die einzig tragfähige Perspektive, der Anspruch, der uns fordert, und die Hoffnung, die uns hält, im Leben und im Sterben. Warum wird dieser Glaube heute nicht weltoffen, wortmächtig und glaubwürdig verkündigt?

Bischof Kohlgraf deutet in dem Interview weiter den Begriff Lebenswirklichkeit aus und sagt, dass die einen die Lehre der Kirche bewahren wollten, andere aber meinten: "Die Wirklichkeit des Lebens – einschließlich dessen, was die Humanwissenschaften sagen – muss die Lehre verändern."

Auch diese summarische Beschreibung bleibt luftig: Was genau erklären denn "die Humanwissenschaften"? Eine auch geisteswissenschaftlich versierte Humanwissenschaftlerin – wie Alexandra Stoschus – äußerte bereits 2005 begründete Vorbehalte in ihrer Dissertation gegenüber einer unreflektierten Verwendung von genetischen Metaphern, die gegenwärtig in der Politik, in der Kirchenpolitik und auch im Fußballsport virulent sind.

(Ein Lesetipp für Kleriker und Weltchristen: Alexandra Nicola Stoschus: Molekulargenetische Metaphern. Eine Auseinandersetzung mit der Metapher in der Wissenschaftssprache, Freiburg 2005.)

Wenn sich die deutschen Bischöfe vielleicht auch bei Genetikern, Biologen und anderen Humanwissenschaftlern über den wissenschaftlichen Stand der Dinge informieren wollten, dann könnten sie sich etwa über das Phänomen Homosexualität und die bestehenden Formen in der Lebenspraxis fachwissenschaftlich breit kundig machen. Das wäre sehr wünschenswert. Sozialwissenschaftliche Theorien sind gewiss hilfreich, genügen aber nicht. Natürlich sind heute gerade auch in höchst schwierigen Angelegenheiten im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen differenzierte, substanzielle wissenschaftliche Kenntnisse, theologische wie pastoraltheologische Klärungen und seelsorgliche Sensibilität dringend erforderlich. Wer wollte das ernsthaft bestreiten?

Abschließend äußert sich Bischof Kohlgraf in dem Interview, implizit offenbar auf die Vorbehalte von Kardinal Woelki und besonders von Bischof Voderholzer gegenüber dem Synodalen Weg bezugnehmend:

"Ich gehe davon aus, dass auch die Laien sich einen Ausstieg vorbehalten, wenn sie den Eindruck gewännen, das läuft grundfalsch. Ich werbe allerdings sehr dafür, den Weg nicht von vornherein schlecht zu reden, sondern ihn als Chance zu begreifen, dass die Themen auf den Tisch kommen, die jetzt dran sind. Sie zu ignorieren oder zu tabuisieren, wird uns nicht weiterführen."

Es gibt ja nicht "die Laien" in Deutschland. Der Begriff Weltchrist ist so viel passender: Die "Laien" bilden keine Fraktion in der Kirchenpolitik und erstreben auch sehr wahrscheinlich keine Koalition mit der Mehrheit der Bischöfe an. Wir wissen alle, dass sich sehr viele Katholiken von etablierten katholischen Laienorganisationen nur sehr bedingt oder gar nicht vertreten fühlen. Wir wissen auch, dass mündige römisch-katholische Christen noch nie das Zentralkomitee der deutschen Katholiken wählen durften. Nebenbei bemerkt: Warum eigentlich? Ließe sich darüber auf dem Synodalen Weg vielleicht auch einmal diskutieren?

Die Zweifel an der Sinnhaftigkeit des "verbindlichen Synodalen Wegs" sind begründet und dürfen auch geäußert werden. Chancen für die Glaubenserneuerung und -vertiefung kann der Weg gleichwohl bieten – aber die Voraussetzung dafür ist, dass dort zuerst und zuletzt von unserer römisch-katholischen Lebenswirklichkeit, nämlich von Gott, von der Verkündigung des Evangeliums, vom Glauben und von der verbindlich gültigen Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte die Rede ist.

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