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„Abgründe“: Erste Missbrauchsstudie für Kirche in der Schweiz veröffentlicht

Schweiz

Das Historische Seminar der Universität Zürich hat am Dienstag eine erste Missbrauchsstudie für die Kirche in der Schweiz veröffentlicht. Bischof Felix Gmür von Basel, der Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, erklärte in einer ersten Reaktion: „Die Ergebnisse zeigen Abgründe auf, die nicht nur das persönliche Fehlverhalten einzelner Täter dokumentieren, sondern gleichzeitig systemische Ursachen aufdecken, für welche die Bischöfe, ihre Vorgänger und andere Führungspersonen in der Kirche geradestehen müssen.“

In einer Zusammenfassung der 136-seitigen Studie ist von 1002 Fällen seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Rede. Es gehe um 510 Beschuldigte und 921 Betroffene, wobei es sich laut Forschungsteam „zweifellos nur um die Spitze des Eisbergs“ handle. „Zahlreiche Archive, in denen weitere Fälle von Missbrauch dokumentiert sein dürften, konnten noch nicht ausgewertet werden, etwa Archive von Ordensgemeinschaften, Dokumente diözesaner Gremien und die Archivbestände katholischer Schulen, Internate und Heime sowie staatliche Archive. Die Vernichtung von Akten kann für zwei Diözesen belegt werden. Darüber hinaus lässt sich beweisen, dass nicht alle Meldungen konsequent schriftlich festgehalten und archiviert wurden.“

„In 39 Prozent der Fälle war die betroffene Person weiblichen Geschlechts, in knapp 56 Prozent männlich“, so die Zusammenfassung der Ergebnisse. „Bei 5 Prozent liess sich das Geschlecht in den Quellen nicht eindeutig feststellen. Die Beschuldigten waren bis auf wenige Ausnahmen Männer. Von den Akten, die während des Pilotprojektes ausgewertet wurden, zeugten 74 Prozent von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen.“

Auch von systematischer Vertuschung war die Rede. „In den ausgewerteten Fällen wurde das kirchliche Strafrecht aber über weite Strecken des Untersuchungszeitraums kaum angewandt“, hieß es. „Stattdessen wurden zahlreiche Fälle verschwiegen, vertuscht oder bagatellisiert.“

„Kirchliche Verantwortungsträger versetzten beschuldigte und überführte Kleriker systematisch, mitunter auch ins Ausland, um eine weltliche Strafverfolgung zu vermeiden und einen weiteren Einsatz der Kleriker zu ermöglichen“, betonte das Forschungsteam. „Dabei wurden die Interessen der katholischen Kirche und ihrer Würdenträger über das Wohl und den Schutz von Gemeindemitgliedern gestellt.“

Für zukünftige Studien gelte es, „die Frage nach den katholischen Spezifika“ zu stellen, „die sexuellen Missbrauch im Umfeld der Kirche allenfalls begünstigt haben“. Konkret erwähnt wurden etwa „die Sexualmoral, der Zölibat, die Geschlechterbilder innerhalb der Kirche sowie ihr ambivalentes Verhältnis zur Homosexualität“.

Bischof Gmür erklärte: „Diese Schuld kann nicht einfach weggewischt werden. Sie ist aufzuarbeiten und muss dabei die Mechanismen der Macht, das Frauenbild, das Priesterbild und die Sexualmoral der Kirche angehen.“

Die Mitglieder der Bischofskonferenz wollten „Verantwortung übernehmen und handeln“, betonte Gmür. „Deshalb haben wir, zusammen mit den kantonalen Körperschaften und den Ordensgemeinschaften, erste Massnahmen beschlossen. Wir werden unabhängige Meldestellen schaffen und finanzieren. Damit sollen Missbräuche und Verdachtsfälle leichter gemeldet und die nötigen Schritte zeitnah unternommen werden können.“

„In den Archiven müssen fortan alle diesbezüglichen Dokumente ohne Zeitbegrenzung aufbewahrt werden“, so Gmür weiter. „Damit sollen dem Vergessen und Vertuschen entgegengewirkt und die weitere Aufarbeitung gesichert werden. Zudem ist das Personalwesen und die Personalauswahl zu professionalisieren. Dazu müssen zukünftig alle Kandidatinnen und Kandidaten in einer Ausbildung für die Seelsorge einheitliche psychologische Tests durchlaufen.“

„Wir wollen uns durch eine vertiefte Erfassung der spezifischen Ursachen und Mechanismen des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Umfeld der Realität stellen und die notwendigen kirchlichen Umstrukturierungen und Reformen anpacken“, erklärte der Präsident der Schweizer Bischofskonferenz. „Wir setzen uns für einen grundlegenden Kulturwandel ein, um künftigen Generationen eine menschlichere und menschenwürdigere Kirche zu hinterlassen.“

Am Sonntag hatte die Schweizer Bischofskonferenz bestätigt, dass der Churer Bischof Joseph Bonnemain in vatikanischem Auftrag eine kirchenrechtliche Voruntersuchung gegen mehrere bischöfliche Mitbrüder in der Schweiz leite. Zuvor hatte die Zeitung „Blick“ berichtet, dass es konkret um sechs Bischöfe gehe, von denen vier „bis heute im Amt“ und „zwei bereits im Ruhestand“ seien. „Sie alle sollen Fälle von sexuellem Missbrauch vertuscht, einer sich sogar selbst an einem Jugendlichen vergriffen haben.“

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