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Schriftsteller Giuseppe Gracia: „Aus liberaler Sicht gibt es keine Pflicht zu leben“

Giuseppe Gracia

Im Gespräch mit CNA Deutsch spricht Giuseppe Gracia über die zunehmende Akzeptanz des assistierten Suizids in der modernen Gesellschaft und die Technologisierung der Selbsttötung durch die Sarco-Suizidkapsel.

Gracia ist ein vielseitiger Schweizer Schriftsteller, Journalist und Kommunikationsberater. Er wurde 1967 in St. Gallen als Sohn eines Sizilianers und einer Spanierin geboren. Als Publizist schreibt er unter anderem für Medien wie die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Focus Online und Die Welt. Daneben ist er ein gefragter Mediencoach und PR-Berater für Kunden aus Wirtschaft, Politik, Kirche und anderen Organisationen.

Wie beurteilen Sie den Einfluss der liberalen Sicht auf das Recht auf Selbsttötung im Kontext der modernen Gesellschaft?

Aus liberaler Sicht gibt es keine Pflicht zu leben. Ich darf leben, muss aber nicht. Also darf ich mich auch umbringen. Die Debatte um Sterbehilfe krankt an dieser Engführung auf die Frage, ob ich das Recht habe, mir das Leben zu nehmen. Besser wäre es danach zu fragen, warum ich nicht mehr leben will. Angst vor Schmerzen? Einsamkeit? Der Mensch lebt in einem Netzwerk von Bindungen und sozialen Realitäten, innerhalb derer Entscheidungen fallen.

Sie betrachten das Sterben als Beziehungsereignis. Wie könnte unsere Gesellschaft diese Sichtweise stärker integrieren, um der zunehmenden Akzeptanz des assistierten Suizids entgegenzuwirken?

Indem wir die Erfahrung vieler Hospize, Palliativ-Care-Teams und Familien bekannter machen. Wir müssen Menschen dafür sensibilisieren, dass der Sterbeprozess von Beziehungen beeinflusst wird. Oft müssen Konflikte gelöst werden, bevor der Sterbende loslassen kann. Eine wach erlebte, letzte Wegstrecke, auf der Begegnungen und Aussprachen erfolgen, löst in vielen Fällen Dankbarkeit aus. Eine humane Gesellschaft weiss das und trägt dafür Sorge, dass die Menschen für diese Prozesse weiterhin genug Zeit haben.

Die Sarco-Suizidkapsel symbolisiert die Technologisierung des Sterbens. Inwiefern ist diese Entwicklung ein Symptom einer Gesellschaft, die den Tod entmenschlicht, und welche langfristigen Folgen könnte dies für unser Verständnis von Würde haben?

Ein technisch dominiertes Leben führt offenbar zum Wunsch nach einem technisch dominierten Sterben. Gemäss einer unausgesprochenen Doktrin unserer Zeit: ‚Ich verwirkliche mich selbst, indem ich mich ausbeute und optimiere. Wenn das nicht mehr geht, ist es mein Recht, Sterbehilfe zu bekommen.‘ In einer solchen Stimmung ist es verständlich, wenn Alte und Kranke sich wie eine defekte Daseinsmaschine fühlen, die man lieber abstellt.

Sie betonen die Gefahr, dass der assistierte Suizid zur „willkommenen Entlastung“ einer überlasteten Gesellschaft wird. Wie könnte einer solchen Entwicklung Ihrer Meinung nach entgegengewirkt werden?

Wir müssen den technisch getriebenen Lebensstil unserer Tage hinterfragen. Schon Mutter Teresa sprach von den ‚seelischen Slums‘ Europas. Diese Slums wachsen heute. Jugendliche verbringen bis zu neun Stunden am Tag am Smartphone. In den Städten leben immer mehr Singles. Dank der Automatisierung des Alltags ist es möglich, online einzukaufen, Fahrkarten zu lösen, im Shoppingcenter zu bezahlen und sich tagelang durchzuschlagen ohne Kontakt zu einem einzigen Menschen. Das führt zu Einsamkeit, und dies führt zu einer Zunahme suizidaler Stimmungen. Die Gesellschaft wird unpersönlicher, kälter.

Byung-Chul Han spricht von einem „System der Totalverwertung“, in dem der Mensch sich selbst optimiert. Wie könnte ein christlicher Ansatz diese Sichtweise verändern und das Leben auch in Schwäche und Krankheit wieder wertvoller machen?

Gerade Christen könnten vorleben: der Mensch ist mehr als der Jahrmarkt von Wirtschaft, Politik und Freizeitkonsum. Der Mensch macht sich nicht selbst, sondern braucht den Nächsten, braucht die Verbindung zu Familie und Gesellschaft, zu Natur und Gott. Die Erfahrungen der Palliativmedizin und Alterspflege zeigen, dass Suizid erst dann ein Thema wird, wenn die Angst vor unerträglichem Schmerz überwiegt, zusammen mit dem Gefühl, nur noch eine Last zu sein.

Hier können Christen ansetzen. Wir müssen alles dafür tun, dass der Schmerz nicht unerträglich wird und dass niemand durch die stille Hölle einer Einsamkeit gehen muss. Mehr Zeit, Geld und Schmerzforschung. Mehr zwischenmenschliche Hingabe, auch wenn nie alle Schmerzen besiegt werden können.

Der finanzielle Aspekt spielt in der Diskussion um Sterbehilfe eine immer größere Rolle. Wie können moralische Standards in einer Gesellschaft aufrechterhalten werden, in der wirtschaftlicher Druck solche Entscheidungen beeinflussen kann?

Zuerst braucht es ein klareres Bewusstein darüber, dass eine humane Gesellschaft sich nicht von allein erhält, und dass das Kosten-Nutzen-Denken längst im Innersten unseres Alltags angekommen ist. In Westeuropa altert die Bevölkerung jedes Jahr mehr, während die Gesundheitskosten steigen und die Sicherung der Altersvorsorge schwieriger wird. Internationale Studien zeigen, dass die letzten zwei Jahre im Leben eines Menschen aufgrund der gesundheitlichen Versorgung in der Regel die teuersten sind.

Zieht man das in Betracht, so ist es für den Staat oder die betroffenen Versicherungen eine grosse Verlockung, die letzten Jahre ‚günstiger‘ zu machen, durch die allgemeine Akzeptanz des Suizids im Namen der Selbstbestimmung. Diesen Zusammenhang müssen wir aufzeigen und für eine Kultur kämpfen, in der das Menschsein mehr wert ist als eine Kosten-Nutzen-Rechnung.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Arthur Schopenhauer wird mit der Aussage zitiert, dass der Selbstmörder das Leben will, aber mit den Bedingungen unzufrieden ist. Wie könnte eine Gesellschaft diese Bedingungen so gestalten, dass eine Kultur des Lebens entsteht?

Wir stehen vor der Wahl, das Thema Sterbehilfe weiter auf ‚Selbstbestimmung‘ zu reduzieren oder es zu öffnen für zivilisatorische Überlegungen. Eine Kultur des Lebens kann es nicht geben ohne Dienst am Leben, ohne höchste Wertschätzung der personalen Begegnung und Beziehung. Wirtschaft, Politik, Technik, Medizin: sie alle sind wichtig und wunderbare Errungenschaften. Aber sie müssen den Menschen dienen, nicht umgekehrt.

Wie sollte die katholische Kirche auf diese Entwicklungen im Bereich der Selbsttötung reagieren?

In der Verkündigung sollte sie die Engführung auf das Thema ‚Selbstbestimmung‘ ansprechen und überwinden. Sie sollte über die Angst vor Schmerzen sprechen, über die zunehmende Einsamkeit, über die Erkaltung des technisierten Alltags. In der Seelsorge sollte die Kirche darauf hinwirken, dass auch für Alleinstehende oder Verzweifelte ein würdevolles Sterben möglich ist.

Das bedeutet Mitarbeit an einem Klima der selbstverständlichen Zuwendung, damit sich kein Mensch mehr als Last empfinden muss. Geistliche Unterstützung für Familien, Gemeinschaften, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, damit jeden Tag erlebbar wird, dass Geborenwerden und Sterben ein Beziehungsereignis sind. Dass niemand durch den Knopfdruck in einer Erstickungsmaschine sterben möchte, oder durch die Hand eines professionellen Assistenten, sondern an der Hand eines geliebten Menschen.

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