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Wohin die Revolution geführt hat: Ein Interview mit Mary Eberstadt

Mary Eberstadt

Die katholische Autorin Mary Eberstadt ist Senior-Fellow des "Faith & Reason Institute" und schrieb mehrere Bestseller, darunter "Adam und Eva nach der Pille" und "Wie der Westen wirklich Gott verlor: Eine neue Theorie der Säkularisierung".

In der Ausgabe vom 6. November von "The Weekly Standard" veröffentlichte Eberstadt "Der Urschrei der Identitätspolitik" – einen Aufsatz, der die Konturen der gegenwärtigen Gesellschaftspolitik, die Suche nach Identität und die Bedeutung der Familie untersucht.

In einem Interview mit JD Flynn, Chefredakteur der englischen Ausgabe von CNA, erklärt die Intellektuelle den Begriff der Identitätspolitik – im Englischen Identity Politics – und wie er nicht nur alle Christen betrifft, sondern auch die Gesellschaft, in der sie leben.

Was ist Identitätspolitik?

Die Stanford Encyclopedia of Philosophy definiert Identitätspolitik als eine Form von "politischen Aktivismus und eine Theorie, die in der gemeinsamen Erfahrung von Ungerechtigkeit von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen begründet ist". Das ist nicht die normale Politik. Es ist stattdessen eine Behauptung von Identität durch Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe, der zugeschrieben wird,  unterdrückt zu werden. Zu glauben, Opfer zu sein, gehört zum "Identifizieren" auf diese Weise.

Identitätspolitik, wie Gelehrte bemerken, ist erst in den letzten dreißig Jahren entstanden, was bedeutet, dass es hauptsächlich jüngere Leute sind, die glauben, dass damit "Politik" gemeint sei. Das Ergebnis sind theatralische Auswirkungen, die wir alle persönlich gesehen haben, oder in den Nachrichten verfolgen – gewalttätige Proteste, zunehmende Absagen von Vorträgen auf dem Campus vieler Hochschulen, andere Störungen im akademischen Bereich und anderswo – deren gemeinsame Nenner Emotionalität und Unvernunft sind.

Ich habe den Aufsatz nicht geschrieben, um das ursprüngliche Wesen der Identitätspolitik zu verleugnen, sondern um zu verstehen versuchen, woher all dieser ganze tief empfundene Irrationalismus herkommt. 

Was verlieren wir aufgrund der zunehmenden Identitätspolitik?
 
Zunächst verlieren wir ein elementares Stück katholischer und anderer Theologie: die Idee des freien Willens. Identitätspolitik besagt, dass deine Biographie auch dein Schicksal ist – so wie du geboren wirst, sind deine politischen und moralischen Interessen im Leben determiniert. Nichts könnte weiter von der Vorstellung entfernt sein, dass wir nach Gottes Ebenbild geschaffen sind und die einzigartige Macht haben, uns in Freiheit für das Gute zu entscheiden – oder, je nachdem, für das Böse.

Die Anthropologie hinter der Identitätspolitik ist eine verkrampfte, gelähmte, unfreie Sicht der menschlichen Person. Sie teilt die Welt in Opfer und Unterdrücker ein, und lässt keinen Raum für freie Entscheidungsfreiheit oder Erlösung. Schon deshalb sollten Christen vor allem vorsichtig sein und diese neue Sichtweise auf die Welt ablehnen.

Jenseits der Christen ist die Identitätspolitik jedoch in der gesamten Gesellschaft giftig. Das Dezibel-Niveau der Unvernunft macht es schwer, einen zivilen, rationalen Fall über irgendetwas voranzubringen. Und die manichäische Teilung der Welt in Opfer und Unterdrücker lässt wenig Raum für Nuancen oder irgendetwas anderes. Jede Identitätspolitik sorgt immer für ein geistig niveauloses, trostloses Gespräch da draußen – und ein Grund mehr, warum es sich lohnt herauszufinden, was die Attraktivität einer solchen Politik überhaupt erst einmal ausmacht.

Sie sagen, dass unser "generationenweiter Absturz in psychiatrische Probleme" nicht durch Helikopter-Erziehung, soziale Medien oder weißen Rassismus verursacht wird – alles gängige Theorien. Warum werden diese Theorien so gern als spekulative "Ursachen" für unsere gegenwärtige politische Situation herangezogen? Was haben Sie gemeinsam?

Unsere Zeit ist davon geprägt, dass die weitreichenden Folgen der Sexuellen Revolution moralisch wie gesellschaftlich geleugnet werden. Die Verrenkungen der Identitätspolitik sind mit derselben Verleugnung verbunden.

Natürlich gibt es echte Ungerechtigkeit in der Welt, wie Amerikas Rassengeschichte zeigt; wie der Fall Harvey Weinstein und dergleichen weiter zeigen; und man könnte viele weitere Beispiele anführen, um das zu belegen. Aber keine einzige Ungerechtigkeit erklärt, was am dringendsten geklärt werden muss, nämlich die in allen Bereichen rasende Natur der heutigen Identitätspolitik.

Die gleiche Unvernunft zeigt sich immer wieder, egal worüber Klage geführt wird: in der Manie über "kulturelle Aneignung", die zur Zensur von Halloween-Kostümen und vielem mehr führt; in den sozialen Medien der Identitaristen aller Art, die vor Unhöflichkeit und oft Wut überfließen; in den Protesten gegen anerkannte, vernünftige Redner, die welche die progressive Sicht der menschlichen Person herausfordern, vor allem an Universitäten.

Das ist auch keineswegs nur der "übliche Protest". In meinem Essay verweise ich auf die Tatsache, dass psychiatrische Probleme unter den Jugendlichen seit Jahren ansteigen, und dass Experten denken, dass dies nicht nur eine Frage der besseren Diagnostik ist; sie glauben auch, dass etwas Neues im Gange sein muss.

Ist nicht der offensichtlichste Schuldige hier die Implosion der Familie, das Abtrennen vieler junger Leute von einem zuverlässigen Kreis liebevoller Menschen daheim, statt nur einer oder zwei Personen? Der Familienbegriff ist vielen Menschen durch verschiedene, allseits bekannte Faktoren zerstört worden, darunter die Scheidung; der anhaltende Anstieg der Alleinerziehenden; und die gleichzeitig schrumpfende Anzahl von Geschwistern, Cousins ​​und anderen Verwandten durch Verhütung und Abtreibung.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Das menschliche Ökosystem ist ein Fiasko. Da ist es kein Wunder, dass die Folgen der Revolution ausgeblendet werden. Aber zur gleichen Zeit, aus Gründen, die im Essay dargelegt werden, sind diese Folgen die offensichtlich wahrscheinlichste Ursache der Hysterie, die wir da draußen erleben, buchstäblich wie im übertragenen Sinne.

Für die Generation der "Millennials", und ich spreche als einer von ihnen, fühlt sich die intentionale Selbstdefinition wie die natürliche Art des Seins an. Es ist das, was wir in den sozialen Medien tun, ohne es auch nur zu realisieren. War das nicht schon immer so? Sind existenzielle Krisen im vergangenen Jahrhundert der Moderne kein Dauerbrenner? Haben sie sich geändert oder erhöht?

Was sich verändert hat, ist nicht die menschliche Natur – alle stellen die gleichen Fragen nach der Identität. Aber die familiären Verhältnisse, in denen sich viele zeitgenössische Seelen jetzt befinden, die haben sich radikal verändert, und lassen diese fundamentale menschliche Frage schwerer beantworten.

Im Lauf der Geschichte wurde die Frage "Wer bin ich?" die meiste Zeit erst einmal im Kontext der Familie beantwortet: Ich bin eine Tochter, ich bin eine Cousine, eine Großmutter, eine Nichte und so weiter. Die offensichtlichste und unbestreitbarste Art von Identität war die des Individuums in seiner Familie, in die der Mensch hineingeboren war. Selbst wenn du sonst nichts anderes wusstest, wusstest du zumindest das.

Mit der Pille und ihrem Versprechen auf Sex ohne Konsequenzen haben sich die familiären Beziehungen grundlegend verändert – und mit ihnen die familiäre Identität. Moderne Verhütungsmittel verstärkten die Versuchung, sich Menschen wie Kaufware auszusuchen, weil so viele Menschen sexuell verfügbar waren. Bindungen wie die Ehe, die einst von den meisten Menschen als unveränderlich angesehen wurden, waren (und sind) außerordentlich belastet durch diesen massiven sexuellen Konsum.

Infolgedessen betrachten viele Leute "Familie" jetzt als eine freiwillige Vereinigung und nicht als ein Urgeflecht von Bindungen und Beziehungen. Deshalb haben wir so hohe Scheidungsraten und so viele Alleinerziehende – wie nie zuvor in der Geschichte: Weil sich viele Menschen seit der sexuellen Revolution so verhalten haben, als wäre die Familie verhandelbar und nicht gegeben.

In dem Aufsatz gebe ich Beispiele für einige der daraus resultierenden Verwirrungen. Bist du eine Stiefschwester? Das hängt davon ab. Was wäre, wenn deine Mutter und der Vater deiner "Stiefschwester" einmal verheiratet waren – und es nun nicht mehr sind? Bist du dann noch mit dieser Person verwandt? Was, wenn sie überhaupt nicht verheiratet waren und du nur mit der Tochter des Freundes deiner Mutters lebst? Hättest du sie überhaupt jemals als "Stiefschwester" betrachtet?

Ähnlich ist es mit der Frage: Ist das mein Großvater? Nun, wenn er der Vater deiner Mutter ist, wahrscheinlich ja. Aber was ist, wenn er jemand ist, der deine Großmutter geheiratet hat, nachdem sie sich von deinem ursprünglichen Großvater scheiden hat lassen – was dann? Und so weiter.

Fügt man all diesen neuartigen existenziellen Dilemmata die damit verbundene Tatsache hinzu, dass die Familie geschrumpft ist, dann ist leicht zu erkennen, was uns von unseren Vorfahren unterscheidet: Wir haben weniger Bindungen an die Familie als sie hatten, und die Bindungen, die wir haben, sind für viele von uns in einem ständigen Fluss.

Wie soll ein Gemeinschaftstier – der Mensch – in einer solchen Zeit seine Identität von seiner ersten Gemeinschaft, der Familie, ableiten? Hier ist der wirkliche Ursprung der kaum unterdrückten Hysterie hinter der heutigen Identitätspolitik, denke ich: Verwirrung und Einsamkeit und familiäre Entbehrung.

Sie befassen sich seit Jahren mit Fragen rund um die Sexuelle Revolution. Sie sagen schon seit langem, dass die Sexuelle Revolution das "moralische Fundament" so vieler Amerikaner ist, dass ihre Ansichten im öffentlichen Gespräch nicht in Frage gestellt werden können. In der Vergangenheit nannten Sie es die "neue Orthodoxie". Aber gerade erleben wir, wie Hollywood komplett zusammenbricht, weil die Maske der Sexuellen Revolution heruntergerissen wird. Ist es möglich, dass dies zu einem Wiederaufleben von Tugend und Tugendkultur führt? Was müsste passieren, um das zu erreichen?

Gegenreaktionen gibt es ja an mehreren Fronten, aus dem einfachen Grund: Wir Menschen sind nicht dazu geschaffen, so zu leben, wie viele es heute tun, fettleibig überfressen an Sex und Fake Sex, und gleichzeitig so voneinander und vom Familienleben isoliert wie nie zuvor.

So sind wir Menschen nicht. Wir sind soziale Tiere. Anders können und werden wir nicht gedeihen. Das haben wir mit vielen anderen Spezies, besonders Säugetieren, gemeinsam, die innerhalb von Verwandtschaftsstrukturen leben. Wir können das verstehen, wenn wir zum Beispiel Elefanten untersuchen. Wir denken nur nicht daran, unser Wissen über die Natur auf uns selbst zu beziehen. So zu tun, als könnten wir als soziale Isolate und Porno-Potatoes leben, und so zu tun, als könnten wir ohne robustes Familienleben glücklich werden, macht viele Menschen da draußen zutiefst unglücklich.

Die Konsequenz ist eine Reaktion auf all das; Und es überrascht nicht, dass es neue Anzeichen dafür gibt, dass sich zumindest einige Gedanken darüber machen, wohin die Revolution geführt hat.

Die fortgesetzte Reaktion auf die systemischen Belästigungs- und Ausbeutungsskandale in Hollywood, wie Sie darauf hinweisen, ist ein Beispiel. Das Wachstum von Campusgruppen, die sich der traditionellen katholischen Lehre widmen, ist eine andere. FOCUS, das "Love and Fidelity Network" und gleichgesinnte Organisationen gab es vor einigen Jahrzehnten noch nicht einmal. Ebenso ist die Verbreitung neuer Ressourcen, um die Menschen vor Pornografie zu schützen, eine andere Art der Wieder-Normierung, die Teil des aufkeimenden Rückstoßes zur Revolution ist.

Vor allem, während gleichzeitig viele Menschen sich von der organisierten Religion abgewandt haben, strömen Konvertiten in die Kirche. Diese werden zu einem großen Teil angetrieben von der Sehnsucht nach einem Ausweg aus einer Welt nach der Pille, hin zu einem erhabenem und würdigeren Menschenbuld dem minderwertigen, dass  der sexualisierte, säkulare Mainstream im Angebot hat.

Es wird noch viel mehr davon geben, würde ich wetten. Und wenn es ein anderes religiöses Erwachen gibt, groß oder klein, können wir sicher sein, dass genau das der Ort ist, an dem es verwurzelt sein wird.

Sie sagen, dass Identitätspolitik der "Urschrei" unserer Zeit ist – ein "kollektives menschliches Heulen ... von unvermeidbar gemeinschaftlichen Geschöpfen, die nicht mehr ihre eigenen Geschöpfe identifizieren können." Wie reagieren Gläubige auf dieses Heulen? Was muss die Kirche jetzt tun, um auf diese Krise zu reagieren?

Die Kirche muss eines tun: die Kirche sein. Die Versuchung, sich der Zeit zu beugen, ist gewaltig – und zwar seit dem technologischen Schock der Antibabypille.

Für Geistliche und Laien gleichermaßen ist die Versuchung, die katholische Lehre über die Sexualmoral zu lockern wahrscheinlich größer als je zuvor, denn die säkularistische Kultur hat sich vom Verspotten der traditionellen Lehre darauf verlegt, diese mit einer bis dato unbekannten Heftigkeit anzugreifen. Kein Wunder, dass viele Menschen sogar in der Kirche selbst Angst zu haben scheinen.

Sich aber dem Zeitgeist zu unterwerfen, und stillschweigend oder offen den moralischen Kodex abzuschaffen, der ein Lebensretter für die Familie ist, wird keine Erleichterung von der Identitätspolitik bedeuten – oder von den sozialen Veränderungen, die eine solche Kultur des Leidens geschaffen haben. Und die Lehre der Kirche zu verwässern würde auch bedeuten, den Menschen außerhalb der Herde sehr viel Unrecht anzutun. Wer [dem säkularistischen Zeitgeist] zustimmt, sagt letztlich, dass die säkularistische Alternative [zum Glauben] in der Tat die richtige ist; dass die Kirche lieber anerkannt sein möchte als recht zu haben; dass wir wirklich nur Gefangene unserer Hautfarbe sind, unserer erotischen Wünsche, unseres nationalen Hintergrunds und so weiter – die ganze trostlose Liste von Determinismen, die jetzt in der Identitätspolitik vorliegen.

Zweitausend Jahre Glaubenslehre besagen, dass die Menschheit besser als das ist. Das größte Problem beim Herunterspielen des christlichen Regelwerks ist, dass es genau die falsche Nachricht an die Konvertiten und Möchtegern-Konversionen sendet: So als könnten sie überall Entgegenkommen finden – auf der weltlichen Umlaufbahn, in ihren Informationssilos, in ihren Schulen und Arbeitsplätzen, in dem, was auf ihrem Telefon oder Laptop ist, und letztlich auch in anderen Kirchen.

Aber die Außenseiter, die gerade jetzt in die Kirche hineinblicken, suchen kein Entgegenkommen. Sie suchen nach der echten Wahrheit. Um es mit Papst Franziskus zu sagen, wäre falsch, sie nicht genau dort zu treffen, wo sie sind.

Wenn wir verstehen, dass es etwas Authentisches an dem Urschrei gibt, den wir immer wieder hören, und dass die Wurzel der Identitätspolitik das Pathos der familiären Zerstörung ist, können wir vielleicht mit einem Teil des Schadens da draußen arbeiten. Wir könnten in der Lage sein, einige echte Opfer – Opfer der Revolution – zu einer höheren Vision und einer besseren Heimat zu bringen.

Übersetzt aus dem Englischen von AC Wimmer.

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