Melbourne, 29 August, 2019 / 12:34 AM
Nicht nur die Nachricht, dass Kardinal George Pell vor dem High Court in Berufung gehen will, hat gewaltigen Wirbel verursacht. Auch die öffentlichen Reaktionen auf die Reaktionen zu diesem neuen Kapitel in der Affäre Pell sind geprägt von der rhetorischen Härte und polemischen Heftigkeit, die Kulturkämpfe auszeichnet.
Aber worum geht es eigentlich?
Die Positionen scheinen auf den ersten Blick klar: Auf der einen Seite stehen alle, die Zweifel am Verfahren und Schuldspruch gegen den ehemaligen Finanzchef des Vatikans wegen des sexuellen Missbrauchs zweier Chorknaben in den 1990er Jahren haben. Auf der anderen stehen jene, die Pell für schuldig halten.
Doch dieser Eindruck ist zu oberflächlich. Das zeigt einmal die Vehemenz, mit der öffentlich eingefordert wird, die Verurteilung müsse nun doch anerkannt werden. So zeigte sich die prominente Politikerin Kristina Kenneally mit großer Wortgewalt im Fernsehen "sprachlos" darüber, dass der Melbourner Erzbischof Peter Comensoli glaubt, dass Pell unschuldig sei – und dies auch öffentlich sagte. Obwohl Comensoli im gleichen Atemzug dem mutmaßlichen Opfer Hilfe und Beistand angeboten hatte, bezeichnete die katholische Labor-Senatorin Keneally im Interview mit dem Sender "Sky News" dies als "gleich auf mehreren Ebenen erschütternd".
Selbst wer hier noch keine ideologischen Töne zu hören vermochte, wurde durch Zeitungen wie der australischen Ausgabe des "Guardian" informiert, dass es eben Kulturkampf ist – zum Beispiel mit einem Cartoon, der kommentierte:"Pell ist im Gefängnis, wo er hingehört, und die Kulturkämpfer sind zornig, weil einer der Ihren gestürzt ist".
Dass hier mehr verhandelt wird, zeigt auch, dass in der Affäre Pell nun über das Beichtgeheimnis gestritten wird. Dessen Aufkündigung fordert etwa Louise Milligan, die mit ihrem Buch "The Rise and Fall of Cardinal Pell" das öffentliche Bild des Kardinals als Pädophilen prägte. Das Buch räumte zahlreiche öffentliche Preise ab und steht für die Wahrnehmung einer Kirche als "Männerbund", der sich seiner Privilegien – zu der das Beichtgeheimnis gehört – entledigen müsse.
Für Aktivisten wie Leonie Sheedy ist der Fall klar. Gegenüber der "BBC" sagte die Australierin: "Die kleinen Leute haben gewonnen". Die katholische Kirche sollte nun den Opfern Geld geben, statt sich teure Anwälte für Berufungsverfahren zu leisten.
Aber haben die "kleinen Leute" gewonnen, oder wurde ein Unschuldiger durch ein juristisches Verfahren schuldig gesprochen, dass so nie hätte stattfinden dürfen angesichts massiver Hetze und ideologisch aufgeheizter Stimmung, wie nun Kommentatoren wie der Kolumnist Andrew Bolt der Zeitung "Herald Sun" warnte?
Einen Vergleich mit der Dreyfus-Affäre hat bereits George Weigel gezogen. Im Magazin "First Things", unter dem Titel "die australische Schande", schrieb der Autor und katholische Intellektuelle am 21. August: "Vernünftige Menschen werden sich fragen, ob es sicher ist, in einem sozialen und politischen Klima zu reisen oder Geschäfte zu machen, in dem eine Mob-Hysterie, ähnlich derjenigen, die Alfred Dreyfus auf die Teufelsinsel geschickt hat, offensichtlich Geschworene beeinflussen kann."
Der berühmte Justizirrtum um den Artillerie-Offizier Alfred Dreyfus brachte das Frankreich der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Aufruhr und eine schwere Krise, erregte weltweit Aufsehen und verhandelte nicht nur den Vorwurf des Landesverrats gegen einen jüdischen, aus dem Elsass stammenden Hauptmann, sondern brennende gesellschaftliche Themen und Ideologien: Antisemitismus, Klerikalismus, Monarchismus.
Dass es sich bei der Affäre Pell zumindest um eine öffentlich ausgetragene ideologische Auseinandersetzung handelt, die kulturkämpferische Zügen trägt und manche Kollegen, Familien und Freundeskreise so spaltet, wie damals der Fall Dreyfus in Frankreich: Das zeigt die Debatte mittlerweile auch für andere Beobachter sehr deutlich.
Katholische Anwälte sagten gegenüber CNA Deutsch, dass der in der Dreyfus-Affäre erhobene Vorwurf des Verrats zumindest in der Hinsicht mitverhandelt wird, dass viele hoffen, die robust katholischen Positionen Pells delegitimiert zu sehen durch eine Schuld der Person. So gesehen sei Pell dann nicht nur ein "Sündenbock" im Sinne René Girards, sondern auch eine Art Alfred Dreyfus. Zumal es in den Sozialen Medien durchaus zu antikatholischer Hetze gekommen ist.
Über all diesen Tumulten soll nun der High Court entscheiden. Mit einer Anhörung, falls es dazu kommt, rechnen Juristen in drei bis sechs Monaten.
Richtig ermöglicht haben den Antrag auf Berufung vor dem High Court in Canberra alle drei Richter des Court of Appeals Mehr noch: Der einzelne Richter, der für einen Freispruch Pells plädierte, legte in seiner Begründung eine Blaupause für die Berufung vor.
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In seiner 200 Seiten langen Argumentation stellte Richter Mark Weinberg fest, dass Pell aufgrund einer einzigen Aussage schuldig gesprochen wurde, der mehr als 20 Zeugen vor Gericht widersprochen haben. Allein die Möglichkeit, dass diese Zeugen die Wahrheit gesagt haben können, hätte "zwangsläufig zu einem Freispruch führen müssen".
Tatsächlich sei Pell praktisch dazu gezwungen worden, die "Unmöglichkeit seiner Schuld" zu beweisen – statt begründete Zweifel anzumelden, die seinen Freispruch garantiert hätten, so Richter Weinberg, der als ehemaliger Generalstaatsanwalt und renommierter Strafrechtler höchstes Ansehen genießt.
Beobachter gehen davon aus, dass es genau dieses Argument ist, dass Pells Anwalts-Team um Bret Walker in Canberra anführen wird.
Unterdessen sitzt Pell weiter hinter Gittern: Seit über 180 Tagen befindet sich der Kardinal in Einzelhaft im Melbourne Assessment Prison. Er darf dort nicht einmal die heilige Messe feiern.
(Eine gekürzte Fassung dieses Artikels erschien vorab bei der katholischen Zeitung "Die Tagespost".)
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