Mitten in der Corona-Pandemie nimmt sich der weltoffene, sympathische Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer die Zeit, um ein Buch zu schreiben, für Gläubige, Suchende und vielleicht auch für unbestimmt Interessierte, die sich der Gottesfrage noch nicht verschlossen haben. Auch Bischof Wilmer – so möchte ich sein neues Buch gern verstehen – vertraut darauf, dass Gott uns gesucht hat und nach uns sucht, ehe wir zu ihm aufbrechen. Der barmherzige Vater gibt niemanden verloren.

Es geht Wilmer um "existenzielle Fragen", die insbesondere im Jahr 2020 neu ins Bewusstsein getreten zu sein scheinen. Ebenso möchte er auf "theologische Spitzfindigkeiten" verzichten und ernsthaft eine oft verdrängte Frage stellen: "Was bringt’s?", etwa: "Dieses oder jenes Buch lesen, was bringt’s?" Wenn wir ehrlich sind, haben wir uns diese Frage auch schon bei der einen oder anderen Predigt gestellt, die wir im Lauf unseres Lebens angehört haben. Ich bin mir sicher, Bischof Wilmer hat recht. Die Frage "Was bringt’s?" dürfen wir stellen – uns selbst und anderen, möglichst unvoreingenommen. Ich bin mancher Litaneien so müde, denke ich mir, von Liberalen, Progressiven, Konservativen und Modernisten. Dann möchte ich mich lieber noch weiter zurückziehen, verborgen vor der Welt leben, eine Tasse Tee trinken und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Auch ich frage mich wirklich: Was bringt’s? Wozu das alles?

Vielleicht verfügt dieser schmale Band tatsächlich über eine Lebensnähe, die uns Christen manchmal fehlt – obwohl wir unbestreitbar lebendig sind. So berichtet Wilmer recht flott, wozu wir uns bekennen und woraus wir, Sie und ich, Kraft schöpfen können. Oder könnten? "Die Auferstehung Christi hat alles verändert. Wenn sie nicht geschehen ist …, dann haben Christen ein echtes Problem. Dann ist Jesus tot geblieben und nicht als Christus auferweckt worden. Dann ist das ganze Gerede leer und nichtig. … War die Auferweckung nur eine nette Geschichte, ein Marketing-Gag oder politische Provokation, fehlt dem Christentum seine pulsierende Mitte. Das Zentrum ist Gott und seine Beziehung zu den Menschen und die Auferweckung ist wesentlicher Teil davon. Sie sorgt dafür, dass jeder und jede von uns hoffen kann." Ich würde Wilmers Gedanken noch erweitern: Ja, es gibt eine Ökologie des Menschen, so wie Gott uns gedacht und gemeint hat. Unser Glaube erzählt von dieser Beziehungsgeschichte, von der Liebesgeschichte Gottes mit uns Menschen, von der Liebe Gottes zu seiner ganzen Schöpfung, die uns anvertraut ist. Nicht zuletzt darum denke ich, ist Christen heute die Bewahrung von Gottes guter Schöpfung ein Herzensanliegen.

Der Hildesheimer Bischof macht auch Mut, "religiöse Traditionen" und ihre Sinnlichkeit neu zu entdecken, statt diese als "Gefrömmel" abzutun. Der christliche Glaube schenkt die Gewissheit der Hoffnung: "Gott vertrauen und Gottvertrauen sind das Gegenteil einer Vollkasko-Mentalität. Gott vertrauen bedeutet, zu wissen, dass Risiken das Leben prägen und man keine existenzielle Daseins-Versicherung abschließen kann. Gottvertrauen ist geprägt von einer tiefen Hoffnung und nicht von einem notorischen Optimismus … Gottvertrauen heißt für mich, zu wissen, dass das Leben einen Sinn hat, dass ich im Leben einen Sinn habe, dass selbst durch das Scheitern nicht alles sinnlos wird." Die Hoffnung, so Wilmer, sei der "Picknickkorb des Lebens". Der "Picknickkorb" des Hildesheimer Bischofs scheint auch mit einem köstlichen Getränk und einem ostfriesischen Süßungsmittel angefüllt zu sein: Ich habe mir nicht vorstellen können, in einem philosophisch-theologischen Buch, das auf gewisse Weise auch eine Art Ratgeber für Lebenskunst sein möchte, so viel über Tee und Kluntjes zu lesen. Immer wieder kommt Heiner Wilmer darauf zurück, erinnert sich an seine Kindheit und Jugend – und an die Liebe zum Tee, die den gebürtigen Emsländer mit durchs Leben getragen hat. Die "Ewigkeit" rieche nach Heu und schmecke nach "Tee und Kluntjes", und die "Kluntjesmomente" zeigen ihm, "weshalb Hoffnung mehr ist als Nostalgie oder Vertröstung": "Hoffnung aber richtet sich auf die Ewigkeit aus und ist gerade dadurch konkret, ganz in der Gegenwart. Auf dem Tee schwimmen Wölkchen, und er schmeckt zunächst himmlisch-sahnig, der zweite Schluck aber bitter und kräftig. Er macht wacht. Hoffnung trägt, weil sie beiträgt zur Gegenwart. … Wer Ewigkeit liebt, schätzt die Gegenwart." Hoffnung habe mit Sinnlichkeit zu tun, mit dem Sinn, der hoffen lasse, "dass ich einmal mit Gott Tee trinke und er Kluntjes für mich hat". Aber Wilmer erinnert auch an die schweren Stunden, etwa wenn er von der Totenwache für eine junge Frau spricht, die nicht mehr auf Erden hatte bleiben wollen, von der Rat- und Sprachlosigkeit der Angehörigen und von dem buchstäblich gestammelten Gebet, das er mit der Familie spricht.

Wilmer erzählt auch von der "Weite von Bonhoeffers Glauben", der 1944 – also während der Haft in Tegel – ein provozierend anmutendes Gedicht schreibt, dass Gott für Christen und Heiden am Kreuz sterbe und beiden vergeben würde. Wilmer meint, wir würden mit dem Begriff "Heiden" heute "vorsichtiger" umgehen. Eine mich bis heute nachdenklich machende Dimension lässt er unberücksichtigt: Bonhoeffer wusste sehr wohl, dass ihn bekennende Anhänger der neuheidnischen Ideologie des Nationalsozialismus inhaftiert hatten und dass er auf den Tod zugehen würde. Vergibt Gott auch den Heiden? Bonhoeffer scheint von diesem Gedanken erfüllt gewesen zu sein. Ob es ein "Universalitätsgedanke" ist, wie Bischof Wilmer schreibt, das weiß ich nicht: Bonhoeffer schreibt darüber ja nicht im Studierzimmer der Theologen und Philosophen. Aber ich empfinde dieses Gedicht als verstörend, als Provokation, ja als Zumutung – und weil ich mit dem Gedicht nicht fertig werde, weiß ich Dietrich Bonhoeffer sehr zu schätzen. Ich bin mir unsicher, ob wir auf eine himmlische Teestunde mit Gott zugehen werden, wie Bischof Wilmer in diesem unkonventionellen Buch schreibt, doch wer weiß? Aber ich werde bis zum Ende meines Lebens darauf vertrauen, dass der Horizont, vor dem wir uns bewegen, sehr viel weiter reicht, als die Frömmsten unter uns zu denken wagen – und dass wir alle noch staunen werden über das, was uns bevorsteht. Ich dachte, als ich das Buch las, an Christoph Schlingensiefs Wort: "So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein …" – und erwog: Vielleicht ist es droben doch ganz anders und viel schöner?

 

Heiner Wilmer und Simon Biallowons: "Trägt. Die Kunst, Hoffnung und Liebe zu glauben" hat 160 Seiten und ist bei Herder erschienen.

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