Barbara Stühlmeyer hat "Kaleidoskop der umarmenden Liebe" – so der Titel ihres neuen Buches – "zu Ehren des hl. Bernhard von Clairvaux" geschrieben. Sie versucht "Zugänge zur Erfahrung des Umfangenseins von Christus" aufzuzeigen. Gewissermaßen als Urbild dazu dient ihr der "Amplexus", die Umarmung des großen Heiligen aus dem 12. Jahrhundert, der als Vater der Zisterzienser wie kaum ein anderer das Mönchsleben prägte. 

Beim Amplexus "geht es vor allem um eine überwältigend schöne, tiefe und wegweisende Erfahrung des liebenden Umfangenseins, die personale Begegnung mit Jesus Christus, dem gekreuzigten Herrn", schreibt im Vorwort des Buches der frühere Erzbischof von Bamberg Karl Braun. Und die Autorin selbst meint, dass dieses Ereignis auch heute den Menschen geschenkt werden könne, weil die Arme des Gekreuzigten offen für alle seien. Stühlmeyer möchte dazu "Erlebnisräume" aufzeigen, die vielfach "in der Heiligen Schrift, in Kunst, Musik und theologischer Literatur" entfaltet würden. 

Das Vorstellungsvermögen der Menschen ist heute geprägt von millionenfachen Eindrücken, die ihnen die Medien in ihr Leben und in ihr Inneres senden. Meist sind diese nicht vorurteilsfrei und schon gar nicht auf die Beziehung des Menschen mit Gott bezogen; vielmehr haben sie die Absicht, das Individuum Mensch zu beeinflussen, ja, zu manipulieren. So fällt es auch schwer, sich unter "Amplexus" etwas vorzustellen, denn wer hat schon einmal davon gehört? Und da sich Barbara Stühlmeyer genau ein solches Bild vorstellt, ist es schade, dass dieses Bild nicht auch in ihrem Buch gezeigt wird. 

Gemeint ist die die älteste Darstellung der Umarmung Christi des hl. Bernhard, die vom Kreuz her geschah und im 14. Jahrhundert entstanden ist. Es ist eine Miniatur in einem Graduale (liturgisches Buch für die Messgesänge), das aus dem Zisterzienserinnenkloster Wonnental im Breisgau stammt. Dargestellt ist darin die Vision des wunderbaren Ereignisses, das Bernhard von Clairvaux erfahren durfte, welches uns sein Ordensbruder Konrad von Eberbach überliefert hat. 

Bernhard betete voller Inbrunst und großer Andacht vor dem Kreuz einer Kirche. Dann schien ihm, dass Jesus selbst die Arme von den Enden des Kreuzes löste, ihn selbst umfasste und an sich zog.

Zwar sehnen sich alle Menschen nach jener Liebe, in der sie von Gott selbst umfangen werden. Doch "so sehr wir uns nach Liebe sehnen, so sehr versuchen wir, uns gewissermaßen am Kreuz vorbeizuschmuggeln, um direkt in die Arme Gottes zu gelangen".

Stühlmeyer beschreibt damit treffend die Mentalität heutiger Christen. Die Menschen wehren sich gegen das Leiden; sie wollen es aus ihrem Leben verbannen. Wenn wir schon sterben müssen, dann soll es doch bitte schnell gehen. Die Vorstellung von Jesus Christus am Kreuz bedeutet doch unendliches Leid, das wir nicht erleiden möchten. Und – wer will sich schon freiwillig damit beschäftigen.

Bedenken wir die gegenwärtige Zeit, die tatsächlich, geprägt durch die Corona-Krise, jeden einzelnen Menschen beunruhigt. Die Menschen werden dabei mehr in Angst versetzt als in das Leid. Gleichzeitig führt sie die Angst immer weiter weg von jenem Umfangensein, das sie frei machen könnte. Doch um frei sein zu können, muss man Verzichten lernen und Hingabe üben. "Umfangensein von Christus" ist kein Gefühl, vielmehr: Glaube, Verinnerlichung, Erfahrung und Mitleiden.

Der Betrachter des Bildes vom umarmenden Jesus erhält einen lebhaften Eindruck von der Spiritualität jener Leidens- und Kreuzesmystik, die zwar aus der Zeit des Mittelalters kommt, aber auch uns Heutigen als das Ideal einer entzückten und inbrünstigen Verehrung vom Leiden und vom Kreuz Christi und seiner erbarmenden Liebe Heil schenken kann.

Barbara Stühlmeyer bleibt jedoch nicht beim hl. Bernhard stehen. " Amplexus" ist ein zutiefst heilendes Geschehen. Und diesem Geschehen spürt sie in ihrem Buch nach. Für sie ist der Amplexus die Begegnung mit Jesus Christus, "der berührbar geworden ist für uns, der wie wir als Mensch gelebt hat und in dessen Armen wir, als Erkannte und Geliebte, hineingenommen werden".

Diesem Geschehen nachspürend ist Stühlmeyer fündig geworden in anderen Heiligenviten, aber auch in der Heiligen Schrift sowie in der Liturgie der Kirche. Zahlreiche hilfreiche Gedanken und Zitate helfen zu verstehen; etwa jener von Pater Pio: "Wer Bücher liest, sucht Gott, wer aber betet und betrachtet, findet ihn." Auch Stühlmeyers Anmerkungen zur Kunst, zur Musik und zu "Kirchenräumen" sind erhellend und bereichernd, denn man "muss wissen, was sich dahinter verbirgt".

"Das Wunderbare und Geheimnisvolle" sei, so Stühlmeyer, "dass es viele Wege gibt, die zum Herzen Jesu und in den Amplexus führen. Denn in seinem irdischen Leben hat Jesus in einem beispiellosen Akt der Solidarität unser Leben, unsere Ängste und Dunkelheiten, unsere Verlassenheit bis zum Äußersten ertragen."


Barbara Stühlmeyer, "Kaleidoskop der umarmenden Liebe. Zugänge zur Erfahrung des Umfangenseins von Christus" ist in der Reihe Regensburger philosophisch-theologische Schriften bei Pustet erschienen und hat 216 Seiten. 

Das könnte Sie auch interessieren: 

Erhalten Sie Top-Nachrichten von CNA Deutsch direkt via WhatsApp und Telegram.

Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch.