Kardinal Reinhard Marx hat sich kürzlich in einem thematischen Artikel zur Qualität des Wortes Gottes geäußert und dessen Rang lehrmäßig bestimmt. Er behauptet, daß Gottes geoffenbarte Botschaft nicht unsere menschliche Zustimmung beabsichtige oder daß Evangelisierung meine, „einen gemeinsamen Weg in den Spuren des Mannes von Nazareth“ zu gehen. Solche Auszehrung christlicher Heilsbotschaft durch den Erzbischof von München kann nicht unangefochten bleiben; sie fordert Widerspruch.

Ein kirchlich bestellter Lehrer

Erinnert sich der Erzbischof von München nicht, daß ihm bei seiner Bischofsweihe die Fragen gestellt wurden: „Bist du bereit, das Evangelium Christi treu und unermüdlich zu verkünden? Bist du bereit, das Glaubensgut rein und unverkürzt zu hüten …?“ … und daß er diese Fragen, die zur Mitte seines ORDO gehören, mit „Ja“ beantwortet hat?

Pfeift er auf konziliare Festlegungen – etwa der Offenbarungskonstitution: „Damit aber das Evangelium in der Kirche stets unversehrt und lebendig bewahrt werde, haben die Apostel als ihre Nachfolger Bischöfe zurückgelassen, denen sie ihr eigenes Lehramt übergaben“ (Nr. 7)?

Hat der wirre Nebel des deutschen „Synodalen Weges“ dem geweihten Hirten seine Klarsicht für katholische Heilswahrheiten völlig genommen?

Es sind wohl akademische Spitzfindigkeiten einiger ungläubiger Universitätslehrer, auch hypertrophes Sendungsbewusstsein der „Germania docens“ oder der Druck des medialen Zeitgeists, die bewährte Katechismuswahrheiten als verstaubt beiseite wischen. Obwohl die Marxschen Thesen – wie sich dann zeigt – sogar noch mehr wollen als theologischen Bildersturm. Sie sollen eine Kernaussage stützen: in der Kirche sei „weniger von Gott“ zu reden. Seine simple Logik: Weil die Kirche in der Gesellschaft so oft auf Gott verweise und seinen Willen anmahne, krisele sie.

Gottesfinsternis

„Die Kirche redet zu viel von Gott!“. Hat sich der so schimpfende Hirte total in das glaubenslose Loch seiner MHG-Studie zur Pädophilie von 2018 verkrochen, das ja ohne Gott auskommt? Ist ihm in diesem ekklesiomanen Bunker der Schrei weiser Seher entgangen, die für die Selbstvergewisserung des Menschen nichts lauter beklagen als den heute manifesten Ausfall der Rede von Gott? So scheint dann die Rüge des Bischofs lediglich originell, weil sie die angesehenen Glaubenszeugen unserer Zeit gegen sich hat. Diese Gottesmänner leiden bekanntlich seit langem unter dem, was Kardinal Marx jetzt paradoxerweise zum kirchlichen Pastoralprogramm erhebt.

Für die Moderne war wohl einer der ersten der Jude Martin Buber, der unsere „Gottesfinsternis“ beklagte. Er schrieb 1962:

„Wir können das Wort ‚Gott‘ nicht reinwaschen, und wir können es nicht ganzmachen; aber wir können es, befleckt und zerfetzt wie es ist, vom Boden erheben über einer Stunde großer Sorge.“

1966 berichtete ein anderer großer Weiser, Henri de Lubac, von einem Streitgespräch eines Atheisten mit einem Priester. In die Enge gedrängt hätte letzterer sich gewehrt: „Was mich interessiert ist nicht Gott, sondern die Kirche“. Und der spätere Kardinal gibt zu bedenken:

„Wenn es also wirklich wahr ist, daß das zwanzigste Jahrhundert für uns zum Jahrhundert der Kirche geworden ist … müßte man sich dann nicht über die Gefahr beunruhigen, die eine solch dogmatische Entwicklung mit sich bringt?“

Schließlich ist als unerlässlicher Kronzeuge auch Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. zu nennen; seine theologische Kraft und seine atmosphärische Sensibilität lassen ihn vielen Zeitgenossen ein Seismograph für den Glaubensweg sein. Immer wieder nannte er „Gott-Vergessenheit“ eine der bedrückendsten Nöte unseres Christsein. Kompakt und schnörkellos tritt das in seinen „Letzten Gesprächen“ wieder zutage. Peter Seewald fragt ihn nach seinem Vorsatz, was er vor allem in seinem Pontifikat hätte vermeiden wollen. Der emeritierte Papst bleibt nicht in der Negation:

„Es gab vor allem den positiven Vorsatz, dass ich das Thema Gott und Glaube ins Zentrum stellen wollte.“

SEIN Antlitz suchen

„Gott“ – ein entbehrliches, nachteiliges Füllsel? Wer sich zeitgemäßen Trends anbiedert, mag Christsein auf die „Spuren des Mannes von Nazareth“ reduzieren. Wer jedoch die Bibel befragt, dem reichen vage Allgemeinplätze nicht. Mehr noch: Gottes Wort kehrt sogar die Warnung des Münchener Kardinals in ihr Gegenteil um. Weit davon entfernt, die Nähe Gottes zu ignorieren, fordert seine Offenbarung immer neu auf, sich ihm persönlich zuzuwenden. Nur einige Verse sollen den häufigen alt- und neutestamentlichen Ruf nach Gottes Antlitz festhalten:

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„Dein Angesicht, Herr, will ich suchen. Verbirg nicht dein Gesicht vor mir“ (Ps 27,8f.).

„Fragt nach dem Herrn und seiner Macht. Sucht sein Antlitz allezeit. Denkt an die Wunder, die er getan hat“ (1 Chr 16,11)

„Du zeigst mir die Wege zum Leben, du erfüllst mich mit Freude vor deinem Angesicht“ (Apg 2, 28).

Ein sensibler Hörer dieser Sätze mag mindestens in sich gehen, vielleicht sogar staunen. Der allmächtige Schöpfer Himmels und der Erde hebt uns Menschen durch solche Direktive in die Höhe dialogischer Ich-Du-Beziehung. Wir dürfen uns seinem Angesicht nähern. Von ihm angeschaut, entsteht Glaubensgemeinschaft mit den Jüngern Jesu, erhellen sich die ethischen Verpflichtungen des Christseins und gelingt das Leben nach den Geboten.

IHN lieben

Doch unsere derartige Erhebung auf „Augenhöhe“ scheint dem ewigen Gott immer noch nicht zu genügen. Auf noch Unglaublicheres zielt er ab: Er möchte von uns geliebt werden. Schon in ältesten biblischen Schriften läßt Gott keinen Zweifel:

„Darum sollst du den Herrn deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,5).

Und dann war es der ewige Sohn des himmlischen Vaters, der dieses Gebot bestätigt (Mk 10,30). Ja, mehr als nur das: Er erschließt uns das spektakuläre Geheimnis von Gottes dreifaltiger Liebe. „Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“ (Joh 1,18). Eine bewegende Faszination ergreift seine Jünger und die frühe Kirche. Das Neue Testament und die Apostolischen Väter versuchen in Worte zu fassen, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist“ (1 Kor 2,9). Denker der frühen Christenheit wollten nicht nur die Wahrheit des rechten Glaubens verteidigen, sondern auch zur Intimität des trinitarischen Lebens vordringen, weil das Wunder und Geheimnis geliebter Personen erwärmt und anzieht. Entzücken für diesen Gott nimmt sie gefangen. Wie im Rausch lassen sie nicht nach, das Rätsel dieses Gottes aufzudecken.

Wenn etwa Athenagoras von Athen (+ 190) schreibt:

„Hier auf Erden sind wir nur von dem Wunsch beseelt, den einzig wahren Gott und sein Wort zu erkennen; zu wissen, welches die Einheit des Sohnes mit dem Vater, welches die Gemeinschaft des Sohnes mit dem Vater ist, wer der Geist ist und wie diese untereinander verbunden und in Verbundenheit unterschieden sind: der Geist, der Sohn, der Vater.“

Oder der hochgelehrte Clemens von Alexandrien (+ vor 215), der seinen Enthusiasmus des frühchristlichen Anfangs formulierte:

„‚Kostet und sehr, wie gut der Herr ist!‘ Der Glaube wird euch herführen, die Erfahrung euch lehren, die Schrift euch erziehen. ‚Kommt, ihr Kinder‘, sagt sie, ‚hört mir zu! Ich will euch in der Furcht des Herrn unterweisen.‘ Dann fragt sie, da sie zu solchen spricht, die schon zum Glauben gekommen sind, an: ‚Wer ist der Mensch, der sich nach Leben sehnt und gute Tage zu sehen wünscht?‘ – Das sind wir, ist unsere Antwort, wir verehren das Gut, wir eifern um die Güter … Eilen wir also, eilen wir, uns zu vereinen im Heil, in der neuen Geburt; in der einen Liebe – wir, die wir viele sind – nach dem Vorbild jener Einigkeit, die im einzigen Wesen Gottes herrscht. Weil er uns das Gute gewährt, wollen wir unsererseits Einheit stiften und uns an der guten Ureinheit festmachen.“

Später bekennt Gregor von Nazianz (+ 390), was ihn innerlich geistlich überwältigt, sobald er sich anbetend in das trinitarische Geheimnis versenkt:

„Noch habe ich nicht begonnen, die Einheit zu bedenken, und schon überflutet mich die Dreieinigkeit mit ihrem Glanz. Noch habe ich nicht begonnen, die Dreieinigkeit zu bedenken, und schon hat mich wieder die Einheit hinweggerissen. Wenn Einer der Drei sich mir vorstellt, denke ich, es sei das Ganze, so sehr ist mein Auge erfüllt, so sehr entgleitet mir die Überfülle; denn in meinem Geist, der allzu begrenzt ist, um einen Einzigen der Drei zu begreifen, bleibt kein Raum mehr für die beiden Andern. Und wenn ich die Drei in einem einzigen Gedanken fasse, sehe ich eine einzige Flamme, bin unfähig, das geeinte Licht zu trennen oder zu erforschen.“

Für diese Männer blieb Gott keineswegs nur eine Instanz des Respekts und des Gehorsams. Schon gar nicht verkürzte sich seine dreifaltige Gottheit auf einen Oberaufseher für soziale Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung. Hatte er nicht gesagt, er wolle von uns Menschen geliebt werden „mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit allen Gedanken und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,4f; Mk 12,20). Für den Weg zu ihm hat er keine unserer geistigen und physischen Fähigkeiten ausgeschlossen. Er wartet darauf, daß wir ihm mit all unserer menschlichen Begabung ersehnen, um so auch ihm gegenüber das Beglückende und Erschütternde der Liebe zu erleben.

Die Schule des Erlernens von Liebe dauert ein Leben. Täglich neu weckt Gottes Gnade sie in uns. Auch aus diesem Grund ist die Weisung von Kardinal Marx so irrig: „Von Gott ist besser zu schweigen!“ Unser säkularisiertes Lebensgefühl nötigt stattdessen zum entgegengesetzten Appell. Der geniale Kardinal von Balthasar hat ihn zeitgemäß auf den trefflichen Satz gebracht: „Gott nicht voraussetzen, sondern vorsetzen.“