[Lesungen HIER]

Liebe Brüder und Schwestern,

was will der Herr uns heute sagen? Bleibt er nicht immer ein Mysterium? Er will ja verstanden werden, er will, dass wir ihn verstehen. Wir müssen gut hinhören. Er will ja, dass wir in ihm leben, dass wir mit ihm leben, und dass er in uns lebt. Kann man Jesus verstehen?

Um zu verstehen, muss ich jetzt einen großen Sprung machen in die Bergpredigt: Mir sind vor Jahren die Augen aufgegangen, als ich die anspruchsvollen Worte Jesu dort bedacht habe. Da sagt Jesus: Moses hat euch gesagt – ich aber sage euch. Jesus kritisiert und übersteigt Moses, den großen Gesetzgeber, die Autorität der Juden schlechthin. Jesus war für seine Zeitgenossen und ist für uns eine ungeheure Herausforderung. Er war außergewöhnlich souverän, selbstsicher. Er war auch ein Anstoß, eine Provokation. Wenn man ihn beim Wort nimmt, kann man sich mit Entsetzen von ihm abwenden. Das haben viele getan. Oder man kann Augen und Ohren aufreißen und sich fragen: Wer ist denn das, der so redet? Ist da einer wie Gott in die Welt getreten? Ist da einer, der nicht nur Mensch ist? Ist da Gott plötzlich in Gestalt eines Menschen nahe?

Und dieses Erschrecken über Jesus kehrt wieder, wenn wir aufmerksam viele Worte Jesu im Johannes-Evangelium hören. Heute sagt Jesus: „Ich bin die Tür zu den Schafen.“ Wenn man sich in die Zeit Jesu und aufs Land versetzt, sind diese Worte nicht so erschreckend wie für uns moderne Stadtmenschen. Gleichzeitig wird auch noch mitgedacht, was Jesus an anderer Stelle sagt: Ich bin der gute Hirte. Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich. Und die Seinen hören auf seine Stimme. Und wenn wir weiter durch das Johannes-Evangelium schauen, dann finden wir noch andere Worte Jesu, die uns aufhorchen lassen, die wir nicht einfach schlucken sollen: „Ich bin das Licht der Welt.“ Und: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Und: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Es sind ungeheure Selbstaussagen Jesu. Jesus sagt Großes, Riesiges über sich selbst. Wir können, wir sollen sie nicht einfach runterschlucken, sondern müssen sie gleichsam auf unserer Zunge zergehen lassen. Wer ist Jesus, der solches von sich sagt?

Und dann gehen wir in unsere Zeit. Wir Heutigen zucken eher zurück, wenn jemand große Worte über sich selbst sagt. Es gibt über dem Atlantik einen Herrn, der sich zum Retter der USA erklärt. Er könnte sagen: Ich bin Amerika. Und dann gibt es auf der anderen Seite des Pazifik einen Mann, der den Eindruck vermittelt: Ich bin das Reich der Mitte. Und schließlich noch einen Herrn, der gerade Krieg führt und sich auch für den wichtigsten Mann der Welt hält. Wir zucken vermutlich zurück, wenn einer so übergroßes über sich denkt und spricht. Wir moderne Menschen zucken zurück vor Menschen, die sich für Führer halten, wir halten sie eher für Verführer – wie schon der Verführer im Paradies, der in Form einer Schlange auftrat.

Zurück zu Jesus: Er könnte vielleicht auch gesagt haben: Ich bin der Gekreuzigte. Ich bin der Mann, der für euch sterbend am Kreuz hängt. Die Menge hatte gebrüllt: „Kreuzige ihn, kreuzige ihn.“ Vor diesem Mann, der sich kreuzigen lässt, beugen wir uns wohl gerne. Es ist der gleiche wie der, der von sich sagt: Ich bin das Licht der Welt, ich bin das Brot des Lebens, ich bin der gute Hirte, ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Und schließlich auch: Ich bin das Tor zu den Schafen. Jesus will uns wohl sagen: Folgt nicht den irrlichternden Verführern, die in den Stall kommen, in dem ihr lebt. Fallt nicht auf die Stimme der Verführer herein, fallt nicht auf die verlockenden Töne herein, die euch das Paradies versprechen, fallt nicht auf die Reklame herein, die sagt: Mit dem oder jenem lebt ihr viel länger. Denn euer Herz braucht Nahrung. Jesus ist Nahrung fürs Herz. Fallt nicht auf die Bilder rein, die euch ewige Jugend verheißen. Die wirkliche Schönheit kommt von innen, kommt vom Herrn, der in euch wohnt. Fallt nicht auf die falschen Hirten rein, die euch in die Irre führen. Ja – Jesus ist anspruchsvoll. Aber dass ihr euch auf sein Wort verlassen könnt, das seht ihr, wenn ihr aufs Kreuz schaut. Er ist euch treu geblieben, ist am Ölberg nicht davongelaufen. Er sagte zu den Soldaten am Ölberg: Wenn ihr mich sucht, dann lasst diese gehen. Jesus sagt auch: Ich bin die Tür zu den Herzen der Menschen. Ich mache sie glücklich, ich gebe ihnen ewige Schönheit, ewiges Glück, ewige Treue, ewiges Leben. Wer durch eine andere Tür in die Herzen der Menschen eindringt, der verführt sie.

Jesus ist anspruchsvoll. Nach seinen Worten kann man nicht zwei Herren dienen. Es gibt nur einen, der das ganze Herz ausfüllt. Denn er hat sein Herz ganz geöffnet. Amen.

Pater Eberhard von Gemmingen SJ war von 1982 bis 2009 Redaktionsleiter der deutschen Sektion von Radio Vatikan.

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