Unser heutiger Gast, Gilles Emmanuel Jacquet, der Vize-Präsident des Internationalen Friedensforschungsinstituts Genf, spricht über sein tägliches Geschäft – Frieden und Sicherheit. Er hat einen Magisterabschluss in Politikwissenschaft und in Europäischen Studien. Als Dozent lehrt er an der Genfer Schule für Diplomatie. Jaquet ist Experte in der Geschichte der Diplomatie und in Geopolitik. Als solcher liefert er politische Analysen für große Medienunternehmen wie etwa Fox News in den USA.

Was hat Sie motiviert, in der Friedensforschung aktiv zu sein? Was ist das Internationale Friedensforschungsinstitut?

Das Internationale Friedensforschungsinstitut Genf wurde 1980 mitten im Kalten Krieg von Physikern des Europäischen Zentrums für Kernforschung gegründet, und sein Hauptanliegen war damals die Entwicklung von Atomwaffen, da dies ein dringendes Problem während des Kalten Krieges war. Später erweiterte das Institut jedoch seinen Analysebereich und bezog auch andere Themen, Konflikte im weitesten Sinne sowie soziale Fragen und Entwicklung mit ein.

Wir versuchen, einen interdisziplinären Ansatz zu verfolgen. Ich bin dabei, weil man sich kritisch mit den Konflikten der Gegenwart und vor allem den Möglichkeiten zur Lösung dieser Konflikte auseinandersetzt.

Ich habe mich für Frieden und Sicherheit interessiert, weil ich auch einige Zeit in Ländern wie Afghanistan, Syrien und der Ostukraine verbracht habe. Und ich war neugierig auf die Gründe, warum wir bewaffnete Konflikte haben und wie diese bewaffneten Konflikte friedlich beigelegt werden können. Vor allem, wenn wir an all die früheren Konflikte denken, die wir in der Vergangenheit hatten. In Jugoslawien zum Beispiel, oder in Kuwait oder im Irak. Ich will also auch auf meine „bescheidene“ Art und Weise einen Beitrag zu Frieden und Sicherheit leisten.

Laut europäischer parlamentarischer Vollversammlung sind Konflikte (also auch Krieg) eine geschlechtsspezifische Angelegenheit. Frauen und Männer hätten vor, während und nach Konflikten einen unterschiedlichen Zugang zu Ressourcen, Macht und Entscheidungsfindung. Ungefähr 80 Prozent der heutigen zivilen Opfer seien Frauen, und 80 Prozent aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen weltweit seien Frauen und Kinder. Zu welchem Ergebnis sind Sie bei der geschlechtsspezifischen Analyse gekommen?

Das Geschlecht ist ein wichtiger Faktor bei der Analyse von Konflikten, vor allem, wenn wir die Situation von Frauen in Ländern untersuchen, die von Konflikten betroffen sind.

In der Regel gehören Frauen, Kinder und alle Älteren zu den am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Sie sind oft Opfer von Gewalt, Vergewaltigung, Ausbeutung und Missbrauch, beispielsweise durch Zwangsarbeit. Frauen sind also besonders schutzbedürftig, und haben oft auch ein anderes Verständnis von Konflikten als beispielsweise Männer.

Frauen, ihre Erfahrungen und der Missbrauch, dem sie zum Opfer fallen, sollten also berücksichtigt werden, wenn wir Konflikte lösen wollen. Frauen spielen auch eine wichtige Rolle in der Wirtschaft vieler Länder, etwa in vielen afrikanischen Ländern, sie arbeiten auf dem Feld und halten normalerweise auch die Geschäfte auf dem Markt. Frauen müssen also in jedem Fall bei Konfliktlösungsprozessen berücksichtigt werden.

In der Zeitschrift „Harvard Business Review“ schrieb der Peter Vanderwicken unter der Überschrift „Warum die Nachrichten nicht die Wahrheit sind“: „Die Nachrichtenmedien und die Regierung sind in einen Teufelskreis aus gegenseitiger Manipulation, Mythenbildung und Eigeninteresse verstrickt. Journalisten brauchen Krisen, um Nachrichten zu dramatisieren, und Regierungsvertreter müssen den Anschein erwecken, dass sie auf Krisen reagieren.“ Sie erwähnten gerade die Wirtschaft: Sind wirtschaftliche Probleme ein Wegbereiter für Konflikte?

Ja, wirtschaftliche Probleme und insbesondere Krisen können den Weg zu Konflikten bereiten. Wirtschaftskrisen, wie wir sie 1929 mit der Großen Depression hatten, spielten eine Rolle bei der Entwicklung von Spannungen in Europa und auch bei der Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland. Auch heute wissen wir, dass Wirtschaftskrisen, Armut und wirtschaftliche Probleme, die auch durch die Globalisierung verursacht werden, zu Konflikten führen können.

In Ländern mit reichlich vorhandenen Ressourcen kommt es zum Beispiel häufig zu schweren politischen Krisen und Konflikten, was ja sehr widersprüchlich scheint. Aber dieses Paradox wird durch zwei Theorien erklärt, die als Ressourcenfluch und holländische Krankheit bekannt sind. Länder, die über Ressourcen verfügen, sind in der Regel stark von der Gewinnung, Ausbeutung und Nutzung dieser Ressourcen abhängig und entwickeln in der Regel nicht auch die anderen Wirtschaftssektoren schrittweise. Dies führt zu einer Aufwertung der Währung, verteuert die Ausbeutung dieser Länder und führt zu einer allmählichen Aushöhlung anderer Wirtschaftssektoren. So kann ein Land, das eigentlich reich sein sollte, nach und nach in eine Krise geraten und arm werden.

Und in vielen Ländern mit natürlichen Ressourcen, insbesondere mit Bodenschätzen, haben wir auch sehr gewalttätige bewaffnete Konflikte zu verzeichnen. Das ist der Fall in der Demokratischen Republik Kongo seit den 1990er-Jahren, in den Regionen Kivu und Ituri, wo der Konflikt eindeutig mit der Ausbeutung verschiedener kleinerer Ressourcen zusammenhängt, strategischer kleinerer Ressourcen, die auch für Computer und Mobiltelefone benötigt werden. Und dieser Konflikt im Ostkongo, der direkt mit den natürlichen Ressourcen und der Wirtschaft und dem Handel zusammenhängt, hat Millionen von Menschen das Leben gekostet, und die Situation hat sich im Laufe der Jahre nicht wesentlich verändert. Ja, es gibt also leider einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Problemen und bewaffneten Konflikten.

Wie beurteilen Sie die Rolle der Diplomatie im aktuellen Ukraine-Krieg? Wir sahen Bilder von Diplomaten bei der UN, die aus Protest den Raum verließen. Hat die Diplomatie versagt?

Wenn Diplomaten einen Raum verlassen, mag das nicht sehr diplomatisch aussehen, aber es ist ein Mittel, ihre Uneinigkeit auszudrücken. Wenn wir nun die Rolle der Diplomatie im Ukraine-Konflikt betrachten, so ist die Diplomatie heutzutage leider nicht mehr das bevorzugte Instrument der Großmächte. Gleich zu Beginn des Konflikts, im ersten Monat des Konflikts, gab es diplomatische Verhandlungen, bei denen sich die ukrainische und die russische Delegation trafen. Diese Verhandlungen wurden jedoch vom britischen Premierminister Boris Johnson beendet, der die Ukraine dazu drängte, den Konflikt mit Hilfe der vom Westen bereitgestellten Waffen fortzusetzen. Im Hinblick auf den Ukraine-Konflikt gibt es verschiedene Kanäle, und es findet sozusagen eine diskrete Diplomatie statt.

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Meine Quellen haben mir beispielsweise mitgeteilt, dass der letzte Schwarzmeer-Getreidehandel zum Teil dank des Beitrags des Zentrums für humanitären Dialog in Genf zustande gekommen ist. Es gibt viele Hintertürchen, die genutzt werden. Auch der Papst und die römisch-katholische Kirche haben bei mehreren Gelegenheiten Erklärungen abgegeben. Sie drängten auf diplomatische Verhandlungen – auch außereuropäische Länder, was eine Überraschung war, wie China, die Türkei oder Israel, die ebenfalls diplomatische Verhandlungen vorschlugen. Aber bis jetzt sind alle offiziellen diplomatischen Verhandlungen gescheitert.

Außerdem müssen wir feststellen, dass die kriegführenden Parteien oder die direkt oder indirekt in den Konflikt verwickelten Länder nicht wirklich gewillt sind, den Konflikt, im Moment jedenfalls, mit diplomatischen Mitteln beizulegen.

Eine Universität stellte die Frage, ob Journalisten für die Veröffentlichung von Wahrheiten verantwortlich sind, oder ob die Verantwortung für die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit in erster Linie beim Leser liegt.

In der Vergangenheit, vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts, waren die diplomatischen Verhandlungen oft, wenn nicht sogar immer, geheim. Und dann gab es Berichte oder Reportagen in den Medien. Heutzutage jedoch, und vor allem mit der Entwicklung der multilateralen Diplomatie der UNO, sind viele davon nicht mehr geheim. Dennoch gibt es immer noch Geheimverhandlungen oder Verhandlungen, die nicht öffentlich sind.

Es besteht ein Befürfnis, schnell informiert zu werden. Aber dieses Bedürfnis, schnell informiert zu werden, bedeutet nicht, dass man auch richtig informiert wird. Das Problem mit heißen Nachrichten oder Eilmeldungen, wie wir sie heutzutage haben, ist, dass die Medien keine Zeit haben, kritisch zu analysieren, was sie gesehen haben oder worüber sie berichten werden, und das Problem ist auch mit diesen Eilmeldungen, das manchmal die Distanz zu den Fakten fehlt oder zu dem, was analysiert wird, und so neigen sie dazu, emotional zu sein, was eine Rolle bei der Meinungsbildung der Bürger spielen kann.

Wir berichten im Rahmen dieses Programms schwerpunktmäßig über die Arbeit des Heiligen Stuhls bei der UN in Genf, auch über die des Malteser-Ordens und anderer Organisationen. Gibt es demnach glaubensbasierte Diplomatie?

Normalerweise betrachten wir die Werte, die hinter demokratischen Gesellschaften oder auch hinter Diplomatie oder Mediation stehen, als säkulare Werte. Aber in Wirklichkeit sind sie es nicht. Ursprünglich waren diese sogenannten säkularen Werte christliche Werte. Genauer gesagt waren es, vor allem im Westen, römisch-katholische Werte, die im Laufe der Zeit säkularisiert wurden. Und auch diese Werte spielten im Hinblick auf die Mediation eine wichtige Rolle.

Die Schweiz zum Beispiel ist ein Land, das seit Jahrhunderten mit der Mediation verbunden ist, dank eines Schweizer Heiligen, Niklaus von Flüe, der ebenfalls dank der Mediation und dank seines Glaubens einen Bürgerkrieg in der Schweiz verhinderte.

Die Diplomatie kann also auch mit dem Wirken bestimmter Religionen oder bestimmter religiöser Werte verbunden sein. Wir haben auch den Fall des Heiligen Stuhls, der eine sehr aktive Rolle bei der Vermittlung und bei Konfliktbeilegungsprozessen in der ganzen Welt spielt. Wir haben auch das Beispiel der Gemeinschaft von Sant’Egidio , die eine wichtige Rolle bei der Vermittlung in verschiedenen Konflikten in Lateinamerika, in Osteuropa und auch in Afrika gespielt hat. Das ist also ganz im Gegensatz zu dem, was manche Leute denken, nämlich dass Religion Spannungen und Konflikte verursachen kann.

Wenn wir uns die interreligiöse Zusammenarbeit ansehen, wie sie zum Beispiel zwischen dem großen Imam von Bangi in der Zentralafrikanischen Republik und dem Erzbischof von Bangi und dem Oberhaupt der örtlichen protestantischen Kirchen stattfand, so hat ihre Zusammenarbeit Massaker in der Hauptstadt verhindert. Die Religion kann also eindeutig eine positive Rolle in der Diplomatie spielen, vor allem, wenn sich die religiösen Führer engagieren, und vor allem, wenn die Gläubigen sich wirklich für ihren Glauben einsetzen.

Original-Interview aufgenommen in Genf von Alex Mur | Deutscher Sprecher: Jan Terstiege | Redaktionelle Bearbeitung, Moderation und Schnitt: Christian Peschken für Pax Press Agency im Auftrag von EWTN und CNA Deutsch.

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