Vor 1700 Jahren wurde der heilige Martin von Tours geboren. Jedes Kind kennt den frommen Soldaten, der seinen Mantel mit dem frierenden Bettler geteilt hat, und so zum Vorbild aufrichtiger Nächstenliebe geworden ist. Sein Gedenktag, der am kommenden 11. November gefeiert wird ist Anlass, ihn nachzuahmen und die Liebe zu unseren Mitmenschen zu trainieren. In drei Teilen präsentiert Mons. Florian Kolfhaus praktische Tipps für jedermann.

"Und die Liebe gibt es doch!"

Haben Sie eine erste Ahnung, was es heißt sich selbst Gutes, ja das Beste, was im persönlichen Leben möglich sein kann, zu wünschen. Ja? Dann auf zum nächsten Schritt. Wir alle merken nämlich auch, dass es oft gar nicht so leicht ist, sich selbst zu mögen. Manche stehen morgens vor dem Spiel und fühlen sich buchstäblich unwohl in ihrer Haut, weil sie nicht so aussehen, wie sie es gerne möchten. Sie fühlen sich wie das hässliche Entlein, das doch so gerne ein schöner, stolzer Schwan wäre. Andere merken, dass es ihnen schwer fällt Freunde zu finden, weil sie schüchtern sind, sich für langweilig halten oder oft einfach zu ungeduldig. Und wieder andere hadern mit ihren Begabungen, die einfach nicht ausreichen, um als Fußballer in der Nationalmannschaft zu spielen, in der Scala zu singen oder in den Bundestag gewählt zu werden.

Spieglein, Spieglein an der Wand...

Mag ich mich trotzdem, auch wenn so vieles in meinem Leben anders läuft als ich gerne möchte? Träume ich immer wieder davon ein anderer zu sein und halte ich mich selbst kaum aus? Kann ich in den Spiegel schauen, auch wenn ich nicht "die Schönste im Lande bin"?

Nächstenliebe setzt voraus, dass ich mich selbst liebe und mich annehme, so wie ich jetzt bin. Ich habe kein anderes Leben. Ich bin ich, hier und jetzt, mit all meinen Fehlern, Schwächen, Problemen und Sorgen. Sich selbst lieben meint nicht, sich stolz auf die Schultern zu klopfen und sich als Superstar zu fühlen, sondern ganz realistisch sich selbst anzunehmen. Es gibt viele Ablenkungen, vor sich selbst zu fliehen. Sie können sich in die Arbeit stürzen, weil sie glauben, dass irgendwann, wenn sie genug Geld haben oder auf der Karriereleiter ganz oben sind, alles besser wird. Sie können sich frustriert über ihre Einsamkeit in ihre Wohnung einschließen und ihre Tage ohne weiteres Nachdenken vor dem Fernseher verbringen. Oder Sie tun genau das Gegenteil und meiden das Alleinsein, um ja nicht mit ihrem Innenleben konfrontiert zu werden. Sich selbst lieben heißt aber oft, sich selbst einmal auszuhalten.

Allein zu Hause – nicht zum Aushalten!

Probieren Sie's. Setzen Sie sich zehn Minuten einfach nur hin und hören Sie in sich hinein. Blaise Pascal hat einmal gesagt, das meiste Unglück in dieser Welt geschieht, weil es der Mensch nicht mehr aushält, still in seinem Zimmer zu bleiben. Im Schweigen senken sich Sand und Schmutz ab wie in einem Wasserglas, das man einfach still stehen lässt. In mir selbst entdecke ich dann, was schwer und belastend, angstmachend und falsch ist. Zehn Minuten Stille und Sie werden vielleicht merken, dass Sie das Radio einschalten wollen, zu einer Illustrierten greifen möchten oder einfach nur meinen Aufstehen zu müssen, weil Sie innerlich unruhig werden. Dieser Mensch – und kein anderer – sind Sie. Fliehen Sie nicht vor sich selbst, sondern halten Sie sich aus. Verdrängen Sie nicht, was an negativen Gedanken in ihnen aufsteigen mag, und beschönigen Sie auch nicht ihre Fehler und schon gar nicht ihre Sünden.

Das ist nicht leicht, aber jetzt kommt der wichtigste Punkt. Sagen Sie sich: Und trotzdem werde ich geliebt. Vielleicht klingt das zuerst wie eine Lüge oder ein frommer Wunsch. Sagen Sie es sich noch einmal und immer wieder, denn es ist die Wahrheit. Ich werde geliebt, obwohl ich kein Topmodell bin, obwohl ich keine Arbeit finde, obwohl ich jeden Abend allein daheim hocke, obwohl ich meinen besten Freund beklaut, ja vielleicht sogar meine Ehefrau betrogen habe … Ich werde geliebt. Denken Sie an die Menschen, die Sie lieben – so wie sie sind. Denken Sie an Ihren Partner, ihre Kinder, ihre Freunde. Sie werden geliebt. Denken Sie an ihre Eltern, die Sie geliebt haben. Und denken Sie an Gott. Er liebt sie. Er will sie. Wäre es anders, so gäbe es sie nicht, ja sie würden – falls Gott auch nur einen Augenblick an Ihnen "zweifeln" würde – sofort ins Nichts fallen. Die Hölle ist ewig – nicht weil Gott Freude an der Qual der Verdammten hat – sondern weil er alle seine Kreaturen ewig liebt und nicht loslässt, auch wenn sie sich schreiend abwenden und lieber leiden als lieben wollen.

Gott hat Freude an mir und "genießt" mein Dasein

So wie ein Vater sich ein Kind wünscht und es liebt, ganz gleich ob es begabt ist oder nicht, brav oder frech, gesund oder krank. Auch für Christen ist es gar nicht leicht zu glauben, dass Gott die Liebe ist, der mich liebt, obwohl ich doch gar kein so guter und toller Mensch bin.

Galileo Galilei soll im Hinblick auf die Erddrehung vor der römischen Inquisition gesagt haben: "Und sie bewegt sich doch!" – Wenn so manches in ihrem Leben schief läuft, sie sich selbst nicht ausstehen können und am Sinn ihres Daseins zweifeln, sagen Sie mit dem gleichen "ketzerischen" Trotz: "Und Er liebt mich doch!"

Wenn zwei Menschen sich lieben, so können sie hundert Gründe aufzählen, was sie am anderen toll finden: Vom guten Aussehen bis hin zum Humor gibt es so vieles was Liebende aneinander entdecken und sich auch hoffentlich immer wieder sagen. Aber all das würde sich auch bei Millionen anderen Menschen finden. All diese vielen guten Gründe reichen nicht aus, um zu erklären, warum es gerade diese Person ist und nicht eine andere.

Liebe zielt auf das Innerste des anderen. Und dann wird wahre Liebe zwar nicht blind – wie das Sprichwort fälschlich sagt – für die Fehler des geliebten Menschen, aber doch gibt es da so viel mehr was zählt. Sie verdienen es geliebt zu werden: aber nicht weil Sie hübsch, sportlich oder intelligent sind, sondern weil sie Mensch sind, erschaffen für die Liebe. Sie werden geliebt – ob Sie es nun glauben oder nicht! – nicht weil Sie gut sind, sondern weil Gott gut ist. Der Glaube an diese Liebe ist die Vorraussetzung, damit Selbst- und Nächstenliebe wirklich funktionieren können.

Wenn Sie glauben, dass sie wirklich geliebt werden, zünden Sie den Motor und die Fahrt kann losgehen. Lassen Sie das Auto nicht in der engen, dunklen Garage stehen, weil sie meinen sie könnten niemals einen Wagen lenken. Es geht jetzt um den ersten Schritt, den Ihnen auch kein Fahrlehrer abnehmen kann. Drehen Sie den Zündschlüssel – glauben Sie, dass Sie in Gottes Augen liebenswürdig sind und tatsächlich geliebt werden.

(Teil drei erscheint am 11. November 2016; Teil eins lesen Sie hier)

Msgr. Florian Kolfhaus hat folgende Bücher veröffentlicht: "Ganz Dein, Maria" (2. Auflage, Dominus Verlag, Augsburg), "Via Dolorosa" (2. Auflage, Dominus Verlag, Augsburg), "Der Rosenkranz – Theologie auf Knien" (1. Auflage, Dominus Verlag Augsburg). Es sind Bücher für die Praxis eines christlichen Gebets- und Glaubenslebens. Im Media Maria Verlag ist unlängst das Buch erschienen "Stärker als der Tod – Warum Maria nicht gestorben ist".