4. Mai 2020
Als junger Professor auf dem Freisinger Domberg ist Joseph Ratzinger fast über Nacht ergraut. Er war damals 29 Jahre alt. Da hatte er Monate zuvor, Anfang November 1954, in Vertretung eine Professur für Dogmatik am Freisinger Priesterseminar übernommen – und war mehr oder weniger so alt wie seine Studenten. An der Universität München hatte er im Juli 1953 seine viel gelobte Dissertation über "Volk und Haus Gottes in Augustinus Lehre von der Kirche" grandios verteidigt, womit für den Polizisten-Sohn aus Marktl am Inn die Tür zu einer akademischen Karriere aufgesprungen war, die ihn zu einem der größten theologischen Gelehrten des zwanzigsten Jahrhunderts machen sollte. Doch das kam ja alles später. Zunächst hatte der junge Ratzinger ab 1951 als Kaplan in München-Bogenhausen nach der eigenen Seminarszeit in der ganz normalen Seelsorge einen "Realitätsschock" erlebt: Wie sehr die institutionelle Kirche noch da war, sich aber die reale Welt schon weit davon wegbewegt hatte. In Bogenhausen machte er sich Notizen, die in seinen prophetischen Artikel über die neuen Heiden in der Kirche von 1958 einfließen sollten. Und er benutzte zum ersten Mal das Wort von "Entweltlichung" der Kirche, die dringend notwendig sei. Doch dann, in Freising angelangt, ermunterte ihn sein theologischer Lehrer Gottlieb Söhngen, eine Habilitationsschrift über "Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura" abzufassen – eine Aufgabe, die Ratzinger mit Feuereifer anpackte. Und so kam schließlich jener bitterkalte Karsamstag 1956, als ihm der Korreferent seiner Habilitation, Michael Schmaus, eröffnete, dass er die Schrift ablehnen müsse, sie genüge weder formal noch inhaltlich den wissenschaftlichen Maßstäben. Vor Ratzinger tat sich ein Abgrund auf, die wissenschaftliche Karriere schien beendet zu sein, bevor sie richtig begonnen hatte. Wenige Monate später schon hatte der Shooting-Star der Theologie keine dunklen Haare mehr. Ein hellgrauer Schopf krönte nun den Kopf mit dem so jugendlichen Gesicht.
Wer die Mammut-Biografie von Peter Seewald "Benedikt XVI. Ein Leben" mit ihren gut elfhundert Seiten in die Hand nimmt, mag geneigt sein, zunächst einmal die Kapitel über die Papstjahre Joseph Ratzingers beziehungsweise über seine Zeit als Emeritus zu lesen. Zumal dann, wenn man diese Zeit aus nächster Nähe miterlebt hat: Kennt Seewald wirklich die Details? Ist sein Buch nicht doch eine nachträgliche Retusche am Bild des deutschen Pontifikats, eine kräftige Ladung Goldglanz über das Leben des heute 93-Jährigen, dem doch irgendeiner noch ein großes literarisches Denkmal setzen muss? Rhetorische Weihrauchschwaden hat es auch für Benedikt gegeben. Gerade dann, wenn er in der Kritik stand, haben seine Anhänger nicht mit den Superlativen gespart. Doch davon ist Seewald weit entfernt. Und man kann für die Lektüre der Biografie nur den Rat geben, ganz vorne, bei Jugend und Kindheit zu beginnen, um gleich zu erkennen, dass Seewald, der schon die beiden Interview-Bücher "Salz der Erde" (1996) und "Gott und die Welt" (2000) mit Kardinal Ratzinger publizierte, das Lebensbild dieses Mannes nicht in groben Strichen gezeichnet, sondern aus vielen kleinen Mosaiksteinchen zusammengesetzt hat. Und siehe da: Da ist nicht nur der gehemmte, schüchterne und völlig vergeistigte Mann, der sich bei Gegenwind in die Wolkenburgen seiner Theologie zurückzieht, sondern der mit Beharrlichkeit seinen Weg zu gehen weiß.
Das verunglückte Habilitationsprojekt hat Joseph Ratzinger selber repariert. Er war in eine tiefe Depression gefallen, zumal er seine Eltern in die neue Wohnung auf dem Freisinger Domberg geholt hatte. Sich nach dem Ende der akademischen Karriere auf eine Kaplansstelle zu bewerben, hätte geheißen, seine Eltern und vielleicht auch seine Schwester wegschicken zu müssen. Aber mit einem "Geistesblitz" erkannte Ratzinger, dass Korrektor Schmaus den letzten Teil seiner Arbeit kaum mit Anmerkungen versehen hatte. Also reichte er diesen, nochmals neu bearbeiteten Schlussteil als neue Habilitationsschrift ein, und das Wagnis gelang: Die Fakultät gab grünes Licht. Einer Berufung zum außerordentlichen Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Freising stand nichts mehr im Wege. "Nun, ich hatte sehr schnell promoviert", sagte der alte Ratzinger später in Erinnerung an die Habilitationskrise seinem Gesprächspartner Seewald. "Wenn ich gleich wieder frisch habilitiert worden wäre, wäre das Bewusstsein zu stark gewesen, etwas zu können, und das Selbstbewusstsein einseitig gewesen. Und so bin ich einmal ganz klein gemacht worden. Das tut einem gut, dass man mal wieder, ja, seine ganze Armseligkeit auch erkennen muss und nicht als ein großer Held dasteht, sondern als ein kleiner Kandidat, der vor dem Abgrund steht und sich damit anfreunden muss, was er dann tut. Insofern war die Logik die, dass ich eben eine Demütigung brauchte und dass die irgendwie zu Recht – in diesem Sinn zu Recht – über mich gekommen ist."
In der Biografie Seewalds ist man jetzt auf Seite 325 angelangt, nach vierzehn Jahren auf dem Freisinger Domberg – als Seminarist, Doktorand, Dozent – wechselt der junge Professor, ziemlich genau 32 Jahre alt, nach Bonn. Der ganze Ratzinger ist nun grundgelegt – er wird sich in seinem Denken nicht mehr ändern, nur noch entfalten, als Theologe, Bischof, Kardinal und Papst. Als Ratzinger von Bonn aus über den Kölner Kardinal Joseph Frings in den Kreis der Konzilstheologen und schließlich der Periti des Zweiten Vatikanischen Konzils tritt, gilt er als modern, ja progressiv. Leute wie Schmaus halten ihn für einen Häretiker. Ratzinger hat die neoscholastische Theologie überwunden, über die Kirchenvater, Augustinus, Bonaventura hat er gelernt, die Theologie ganz neu in die moderne Zeit hinein zu denken. Er hat Henri de Lubac, Hans Urs von Balthasar und Romano Guardini gelesen und bei Hermann Hesse der existentiellen Sehnsucht nach dem großen geheimnisvollen Wahren in der Zeit der Zerrissenheit nachgespürt. Darum sind diese ersten 325 Seiten der Biografie so wichtig, Seewald hat sie akribisch nacherzählt, dabei aber auch mit der Dramatik jener Jahre verwoben: Nazi-Zeit, Krieg, Zusammenbruch, Schuld und Sühne, schließlich der Neuanfang in Trümmern.
Für Seewald gibt es drei Ansprachen, mit denen Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. Weichen gestellt hat: Die Rede von Genua, die zwar Kardinal Frings hielt, wobei dann aber bald klar war, dass sie dessen theologischer Beistand Ratzinger geschrieben hatte. Die Predigt des Kardinals vor dem Einzug der Papstwähler in das Konklave von 2005. Und die Ansprache von Benedikt XVI., mit der er seinen Rücktritt vom Papstamt ankündigte. In Genua, Ende November 1961, gelang Ratzinger nichts Geringeres, als für das bereits im Januar 1959 angekündigte Konzil endlich einen konkreten und durchdachten Bauplan vorzulegen. Johannes XXIII. war so begeistert, dass er Kardinal Frings persönlich sagte: "Sie haben all das gesagt, was ich gedacht habe und sagen wollte, selbst aber nicht sagen konnte." Als Frings ihm offenbarte, dass er die Rede selber gar nicht geschrieben habe, antwortete der Papst nur, man müsse halt die richtigen Berater haben.
Die beiden anderen Weichenstellungen von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. sind bekannt. Richtig notiert Seewald, dass der Kardinaldekan bei der "Missa pro eligendo Romano Pontefice" am 16. April 2005 so erschöpft war, dass er hin und wieder stockte und mit zunächst schwacher Stimme zu predigen begann, aber gerade deswegen beeindruckte: "Und je kleiner sich Ratzinger machte, umso größer wurde seine Ausstrahlung. Das schlohweiße Haar, das scheinbar nicht löschbare Feuer seiner Hingabe, die Erhabenheit seiner Messfeier – und wenn er zwei-, dreimal bei einer Zeremonie stockte, gab ihm dies noch eine ganz eigene Note an Menschlichkeit und Authentizität. Zunehmend unwiderstehlicher leuchtete sein Spiegelbild in den Pupillen der Kardinäle. Und man konnte leicht erahnen, wie sie ihm förmlich im Geiste bereits die weiße Soutane überzogen, um sich auszumalen, wie er darin wirkte." Und schließlich dann die Ankündigung des Rücktritts am 11. Februar 2013, die zur Wasserscheide der jüngeren Papstgeschichte werden sollte.
Die Kapitel von Seewald über das Konklave von 2005 und die letzten Wochen vor dem Amtsverzicht lesen sich wie pures Adrenalin. In dem Maß, in dem der bayerische Sohn der Kirche in Rom in die höchsten Ämter vorrückt, die das Bodenpersonal Gottes auf Erden zu vergeben hat, entwindet er sich etwas seinem bayerischen Biografen. Mehr als sonst zitiert Seewald in den letzten Kapiteln aus der Tagespresse, bringt Kostproben aus dem Medienecho, das der deutsche Pontifex provoziert, lässt auch unterschiedliche Einschätzungen nebeneinanderstehen. Sein Hauptinformant, Joseph Ratzinger selbst, muss sich zurücknehmen, zu groß ist die Gefahr, dass ein Papst dann Dinge sagt, über die er eigentlich schweigen muss. Von den letzten Fragen an den Emeritus, mit denen das Buch schließt, bleiben viele unbeantwortet, sie führen, wie Benedikt schreibt, "natürlich sehr weit in die jetzige Situation der Kirche hinein". Dennoch ist mit der Biografie Peter Seewalds nun eines vollkommen klar: Das Leben von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. liegt vor einem wie ein offenes Buch. Nicht nur die Literatur, die der Heranwachsende gelesen hat, die geistigen Strömungen, die den jungen Theologen prägten, die Gestalten, die ihn formten. Eigentlich weiß man auch, was Joseph Ratzinger von Kindesbeinen an getan hat, fast Tag für Tag. Wenn man das auch von dem amtierenden Papst sagen könnte. Bei Jorge Mario Bergoglio gab es Jahre, in denen er nach seiner Zeit als Provinzial in Argentinien in der Versenkung verschwunden war. Was weiß man von der psychotherapeutischen Behandlung, die er in jenen Jahren in Anspruch nahm? Oder mit wem Franziskus heute so alles von Santa Marta aus telefoniert? Wie waren seine Kontakt zur "Guardia de Hierro", der Jugendorganisation der Peronisten, deren geistlicher Begleiter Pater Bergoglio war. Welche (theologische) Literatur ihn formte und welche er einfach nur gelesen hat. Für einen Biografen ist Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. ein Glücksfall, auch wenn diese "Jahrhundertbiografie", wie Seewald gegenüber der "Tagespost" erklärte, eine "gewaltig anstrengende Aufgabe" ist, "die einen überfordert".
Zuerst veröffentlicht im VATICAN-Magazin. Publiziert bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung.
Die Biographie "Benedikt XVI.: Ein Leben" von Peter Seewald erscheint am heutigen 4. Mai bei Droemer und hat übe 1000 Seiten.
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