Heute erlaube ich mir, zu beginnen mit den Informationen über die schrecklichen Sünden von Kirchenverantwortlichen. Wir sind alle tief bewegt und enttäuscht von den Sünden und Versäumnissen von Priestern und Bischöfen in den letzten Jahrzehnten. Es stellt sich die Frage: Wie können wir als Glaubende mit diesen Tatsachen umgehen? Wie können wir sie einordnen und überwinden? Wie hilft uns vielleicht Jesus Christus selbst trotz allem, in seiner Gemeinschaft zu bleiben und froh zu sein?

Ich denke: Wenn wir an das Ganze des Christusereignisses denken, fällt uns ein: Als Christus am Kreuz starb, waren seine Anhänger geflohen. Sie waren ihm untreu geworden, hatten ihn verraten und verlassen. Sein irdisches Leben war ein reines Scheitern. Denn die Seinigen hatten ihn und sein Anliegen nicht verstanden. Sie waren eingebildet und ehrgeizig. Und sie waren nicht mutig zu ihm gestanden. Keiner von ihnen hat gebrüllt: Jesus ist unschuldig. Also: Seit es die Christusgemeinschaft gibt, gibt es in ihr Sünde und Versagen. Damit dürfen wir uns zwar nicht einfach abfinden. Aber die Sünden seiner Anhänger sind kein Grund, Christus zu verlassen. Christus wird nicht unglaubwürdig, auch wenn seine Beauftragten unglaubwürdig sind. Es geht nicht um Kirchenmitgliedschaft, sondern um Christusgemeinschaft.

Damit wir aber dieser Christusgemeinschaft treu bleiben können, müssen wir Christus gut kennen. Wir sollten versuchen, ihn immer besser kennen zu lernen. Wir hängen nicht an Petrus und nicht an Jakobus und Johannes. Wir hängen an Christus. Damit sind uns die Sünden der Kirchenmänner nicht gleichgültig. Sie sind ein Skandal. Aber sie sind nicht der Grund unseres Christusglaubens.

Und Christus ist aber von Anfang an provozierend. Schauen wir auf das heutige Evangelium. Da kommt Jesus wohl zum ersten Mal nach Beginn seines öffentlichen Auftretens in die Synagoge von Nazareth. Aller Augen sind neugierig auf ihn gerichtet, denn man hat ja über ihn gehört, dass er in der ganzen Umgebung mit großem Zulauf vor vielen Leuten geredet hat, dass er sogar Kranke gesund gemacht hat. In der Synagoge bekommt er die Schriftrolle, findet die Stelle aus Jesaia, wo es heißt: „Der Geist des Herrn ruht auf mir. Er hat mich gesalbt, er hat mich gesandt, um den Armen die Heilsbotschaft zu bringen, um Geschlagene in Freiheit zu setzen und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen“. Dann schließt er die Schriftrolle und erklärt: „Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt“. Die Leute verstehen: Jesus behauptet, der Geist Gottes ruhe auf   i h m,   er sei der Heilsbringer, von dem der Prophet spricht.

Die Leute erschrecken. Es ist nicht zu fassen. Das heutige Evangelium endet zwar mit dem Wort Jesu: Heute hat sich dieses Prophetenwort erfüllt. Am nächsten Sonntag aber werden wir hören, wie es weiterging. Sie werfen ihn nämlich aus der Synagoge hinaus, weil er so anspruchsvoll auftritt, und sie wollen ihn umbringen.

Jesus tritt sehr oft mit ungeheurem Anspruch auf. Bei der großen Predigt auf dem Berg, stellt er sich neben den großen Gesetzgeber Moses. Er sagt: Moses hat euch gesagt, ich aber sage euch. Er relativiert Moses und stellt sich über ihn. Ein ungeheurer Vorgang. Dann verlangt er absolute Bindung mit den Worten: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Das könnte auch ein Diktator gesagt haben. Jesus ist ungeheuer anspruchsvoll, provozierend. Er war es damals und ist es heute. Wenn man genau hinhört, dann können auch wir erschrecken wie die Menschen von Nazareth. Auch uns kann es erschrecken, wie anspruchsvoll Jesus uns gegenüber ist.

Aber er ist gleichzeitig auch ungeheuer zugewandt. Er ist vor allem zugewandt dem Abschaum der Menschen. Der Frau am Jakobsbrunnen, die fünf Männer gehabt hat, sagt er einfach: Geh und sündige nicht mehr. Oder denjenigen, die Prostituierte steinigen wollen, sagt Jesus: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Für Jesus ist die Sünde nicht gleichgültig. Die Sünde bleibt für ihn Sünde. Er sagt keineswegs: Mach ruhig weiter so. Aber er reicht dem Sünder die Hand, hilft ihm aufstehen und neu anfangen. Jesus ist überraschend, er fällt aus dem Rahmen dessen, was so allgemein üblich ist. Er ist ungeheuer mutig gegenüber den religiösen Autoritäten in Jerusalem. Er ruft ganz Israel zur Umkehr auf. Und weil er für die religiösen Autoritäten in Jerusalem gefährlich ist, beschließen sie: Er muss weg. Die Römer müssen ihn ans Kreuz schlagen, damit ihm niemand mehr nachläuft.

Aber nach seinem schrecklichen Sterben geschieht das Wunder. Er zeigt sich den Seinen, die ihn verraten haben, als Lebendiger. Sie können und wollen nicht glauben, dass er lebt. Er muss sie mühsam überzeugen. Er isst mit ihnen, trinkt mit ihnen, lässt sich anfassen. Und eines Tages nachdem er sich nicht mehr gezeigt hat, wird aus der Gruppe von Feiglingen mutige Zeugen und sie bekennen: Jahwe hat ihn auferweckt. So beginnen sie immer mehr zu verkünden: Jahwe hat den Gekreuzigten auferweckt. Dadurch kriegen sie Ärger mit den Hohenpriestern. Diese verbieten ihnen, den Namen Jesu zu verkünden. Und da tritt ein intelligenter Schriftgelehrter namens Gamaliel dazwischen. Er sagt: Wenn die Sache des Simon und der anderen Jesusanhänger nur von Menschen ist, dann wird sie sich bald im Sand verlaufen. Wenn sie von Gott ist, kriegt ihr sie nicht klein. Und die Sache Jesu geht trotz aller Sünden der höchsten Vertreter der Jesusgemeinschaft bis heute weiter. Und sie wächst weltweit. Nur in Europa hängen wir an letztlich zweitrangigen Fragen. Verhindert ein Diabolos, dass Europa den wichtigsten Europäer erkennt und anerkennt? Der Glaube an Christus springt nicht einfach an, wenn alle sündigen Kirchenführer überführt sind? Es geht von Anfang an nicht um die Kirchenführer, sondern um Jesus Christus. Der freilich ist heute wie damals herausfordernd, überfordernd, provozierend. Aber er ist gleichzeitig derjenige, der den in den Dreck Gefallenen herausholt, ihm die Hand reicht.

Vielleicht sollten wir Christen in Europa heute viel mehr schweigend vor dem Herrn ausharren, uns von ihm anschauen lassen, ihn anschauen, schweigen, warten. Rettung kommt nicht allein von Anklage und Reinigung, sondern davon, dass wir den Geist des Herrn bekommen und leidend in dieser Christusgemeinschaft mitgehen. Sie war immer schon eine Gemeinschaft von Sündern. Christus sagt: Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu berufen, sondern Sünder. Jesus lebt mit Sündern. Er wünscht nur, dass wir nicht meinen, Gerechte zu sein. Amen.

Pater Eberhard von Gemmingen SJ war von 1982 bis 2009 Redaktionsleiter der deutschen Sektion von Radio Vatikan. 

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