In der großen Moralenzyklika „Evangelium vitae“ erläutert Johannes Paul II. den engen Zusammenhang, der zwischen der „Entstellung des Subjektivitätsbegriffs“ und der Glorifizierung der Autonomie des Menschen einhergeht. Manches Bekenntnis zu den Menschenrechten, gerade zur Freiheit der Person, basiert darauf, dass die Würde des Menschen verbunden wird mit dessen Fähigkeit zur Kommunikation: „Es ist klar, daß unter solchen Voraussetzungen in der Welt kein Raum für den ist, der, wie das ungeborene Kind oder der Sterbende, ein von seiner physischen Konstitution her schwaches Wesen ist, auf Gedeih und Verderb anderen Menschen ausgeliefert und radikal von ihnen abhängig ist und mit dem Kommunikation nur durch die stumme Sprache einer tiefen Symbiose liebender Zuneigung möglich ist. Damit wird die Stärke zum Entscheidungs- und Handlungskriterium in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im sozialen Zusammenleben. Doch das ist das genaue Gegenteil von dem, was den Rechtsstaat historisch als Gemeinschaft bestätigt hat, in der an die Stelle des »Rechts der Stärke« die »Stärke des Rechts« tritt.“ Doch die Würde des Menschen reicht von der Empfängnis bis in die Sterbestunde hinein – und sie ist nicht abhängig von irgendwelchen Bedingungen, nicht von einem Gebrauch von Verstand und Vernunft, nicht von der Fähigkeit zur Kommunikation. Die Menschenrechte würden in der Praxis oft tragisch verweigert. Mit klaren Worten bekennt sich der heilige Papst zum Lebensschutz: „Wenn es wahr ist, daß sich die Auslöschung des ungeborenen oder zu Ende gehenden Lebens mitunter auch den Anstrich eines mißverstandenen Gefühls von Altruismus und menschlichen Erbarmens gibt, so kann man nicht bestreiten, daß eine solche Kultur des Todes in ihrer Gesamtheit eine ganz individualistische Freiheitsauffassung enthüllt, die schließlich die Freiheit der »Stärkeren« gegen die zum Unterliegen bestimmten Schwachen ist.“ Jeder Mensch sei zum Hüter seiner Schwestern und Brüder bestellt, natürlich auch der Ungeborenen. Eine Freiheit, die subjektivistisch absolut gesetzt werde – als ob das ungeborene Kind etwa noch nicht Mensch wäre, sondern noch erst Mensch werden würde –, stehe im Widerspruch zur Berufung und zur Menschenwürde, denn eine solche „Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit nicht anerkennt und nicht mehr respektiert“: „Jedesmal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und sich den wesentlichen Klarheiten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune.“

Wenn die „Förderung des eigenen Ich“ obsiege, die Verehrung der „absoluten Autonomie“, so sei der Weg zur „Verneinung des anderen“ offen: „So schwindet jeder Bezug zu gemeinsamen Werten und zu einer für alle geltenden absoluten Wahrheit: das gesellschaftliche Leben läuft Gefahr, in einen vollkommenen Relativismus abzudriften. Da läßt sich alles vereinbaren, über alles verhandeln: auch über das erste Grundrecht, das Recht auf Leben.“

In dem „unangefochten herrschenden Relativismus“ höre das Recht auf, Recht zu sein, „weil es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird“. Diese geschehe auf dem „Boden der Legalität“, so Johannes Paul II., zumindest wenn über die Gesetze zur Freigabe der Abtreibung und der Euthanasie nach den sogenannten demokratischen Regeln abgestimmt wird“: „Der Staat ist nicht mehr das »gemeinsame Haus«, in dem alle nach den Prinzipien wesentlicher Gleichheit leben können, sondern er verwandelt sich in einen tyrannischen Staat, der sich anmaßt, im Namen einer allgemeinen Nützlichkeit — die in Wirklichkeit nichts anderes als das Interesse einiger weniger ist — über das Leben der Schwächsten und Schutzlosesten, vom ungeborenen Kind bis zum alten Menschen, verfügen zu können.“

Der Papst stellt klar: „Das Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es gesetzlich anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse, abscheuliche Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten Macht über die anderen und gegen die anderen.“ Die „perverse Freiheitsstellung“ einer solchen Autonomie lehnt Johannes Paul II. leidenschaftlich ab. Möglich seien diese Zustände geworden durch die „Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen“ im Säkularismus: „Wenn man den Sinn für Gott verliert, verliert man bald auch den Sinn für den Menschen, für seine Würde und für sein Leben; die systematische Verletzung des Moralgesetzes, besonders was die Achtung vor dem menschlichen Leben und seiner Würde betrifft, erzeugt ihrerseits eine Art fortschreitender Verdunkelung der Fähigkeit, die lebenspendende und rettende Gegenwart Gottes wahrzunehmen.“ Wenn der Sinn für Gott schwinde, dann sei auch der Sinn für den Menschen bedroht und verdorben – wie das Zweite Vatikanische Konzil gelehrt habe: „Wenn der Mensch wirklich lebt, »als ob es Gott nicht gäbe«, so kommt ihm nicht nur der Sinn für das Geheimnis Gottes, sondern auch für das Geheimnis der Welt und seines eigenen Seins abhanden. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen führt unvermeidlich zum praktischen Materialismus, in dem der Individualismus, der Utilitarismus und der Hedonismus gedeihen. Auch hier offenbart sich die ewige Gültigkeit dessen, was der Apostel schreibt: »Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, so daß sie tun, was sich nicht gehört« (Röm 1, 28). Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens ersetzt. Das einzige Ziel, auf das es ankommt, ist die Erlangung des eigenen materiellen Wohlergehens. Die sogenannte »Lebensqualität« wird vorwiegend oder ausschließlich als wirtschaftliche Leistung, hemmungsloser Konsumismus, Schönheit und Genuß des physischen Lebens ausgelegt, wobei die tiefer reichenden — beziehungsmäßigen, geistigen und religiösen — Dimensionen des Daseins in Vergessenheit geraten.“

Johannes Paul II. stellt eine solche Gottesfinsternis fest. Er beschreibt die Auswirkungen dieser konsequenten Abwendung von Gott, die – bis heute – weit in den Raum der Kirche und Theologie hineinreicht. Die Verwirrung nehme zu, insbesondere in Bezug auf das „fundamentale Recht auf Leben“, bisweilen erfolge dies unter Berufung auf das Gewissen: „Wenn das Gewissen, dieses leuchtende Auge der Seele (vgl. Mt 6, 22-23), »das Gute böse und das Böse gut« nennt (Jes 5, 20), dann ist es auf dem Weg besorgniserregender Entartung und finsterster moralischer Blindheit.“ Wer wollte heute abstreiten, dass in einem wüsten Amoralismus, in einem bunt illuminierten Relativismus nicht der Abgrund des Bösen auch in moralischer Blindheit sich auftun könnte? Doch Johannes Paul II. ist als Stellvertreter Christi freilich auch der Bote der Hoffnung und bekräftigt Gottes Gegenwart auch in düsteren Zeiten: „Doch sämtlichen Konditionierungen und Anstrengungen, das Schweigen durchzusetzen, gelingt es nicht, die Stimme des Herrn zu ersticken, die sich im Gewissen jedes Menschen vernehmen läßt: von diesem inneren Heiligtum des Gewissens kann immer wieder ein neuer Weg der Liebe, der Annahme und des Dienstes für das menschliche Leben seinen Ausgang nehmen.“

Die bisher bei CNA Deutsch veröffentlichten Geistlichen Betrachtungen zu den Enzykliken von Johannes Paul II. im Überblick.

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