Der Schriftsteller Martin Mosebach hat bei der Liturgischen Tagung in Herzogenrath einen  Geburtstagsgruß für Papst emeritus Benedikt XVI. vorgetragen, den CNA mit freundlicher Genehmigung des Copyright-Holders, Dr. Guido Rodheudt, hier veröffentlicht.

Personenkult wird man die Papstdevotionalien, die rund um St. Peter in Rom den Pilger- und Touristenscharen angeboten werden, nicht gleich nennen wollen – diese Postkarten und Kalender, Kaffeetassen, Seidentücher, Teller und Plastik-Gadgets aller Art immer mit dem Bild des gegenwärtig glücklich regierenden Heiligen Vaters; daneben auch mit dem von Papst Johannes Paul II., Johannes XXIII. und sogar Papst Paul VI.

Nur einen der neueren Päpste findet man in den Andenkengeschäften nicht, und zwar in keinem, als bestehe hier eine Verabredung: eine Postkarte mit dem Bild Benedikts XVI. aufzustöbern bedarf der Zähigkeit eines Privatdetektives. Das kaiserliche Rom kannte das Institut einer „Damnatio memoriae“, einer Auslöschung des Gedenkens an verurteilte Staatsfeinde – so ließ Kaiser Caracalla den Namen seines Bruders Geta aus der Inschrift auf dem Septimius Severusbogen herausmeißeln, nachdem er ihn ermordet hatte. Es scheint, als ob die Devotionalienhändler und wohl auch ihre Kunden – denn auch der Handel mit Rosenkränzen gehorcht dem Marktgesetz von Angebot und Nachfrage – gemeinsam eine solche altrömische Damnatio memoriae über den Vorgänger des jetzigen Papstes verhängt hätten. 

So als ob auf dieser trivialen Ebene vollzogen werden sollte, wozu Benedikt sich nach seinem viele Menschen zutiefst verstörenden, zutiefst unerklärlichen und unerklärt bleibenden Rücktritt vom höchsten Amt auf Erden selbst nicht entschließen konnte: nämlich unsichtbar zu werden, in ein ungebrochenes Schweigen einzutreten.

Gerade diejenigen, die den Pontifikat Benedikts XVI. mit Liebe und Hoffnung begleitet haben, können sich nicht darüber beruhigen, daß dieser Papst selbst es war, der sein großes Erneuerungswerk für die Kirche durch seinen dramatischen Schritt infrage gestellt hat. Künftige Generationen vermögen ohne Zorn und Eifer über dieses voraussichtlich letzte Kapitel im Leben Benedikts XVI. sprechen – der Abstand wird die Ereignisse in eine größere, jetzt noch nicht erahnbare Ordnung rücken – aber dem anteilnehmenden Zeitgenossen ist dieser Abstand nicht möglich, weil er den unmittelbaren Folgen dieses Entschlusses schutzlos ausgesetzt bleibt.

Über Benedikt XVI. heute zu sprechen heißt zunächst versuchen zu müssen, die Empfindungen von Schmerz und Enttäuschung zu überwinden. Und das umso mehr, als dieser Papst in seiner Regierungszeit Anstalten machte, die großen Wunden zu heilen, die dem sichtbaren Körper der Kirche in der nachkonziliaren Aera geschlagen worden waren.

Die auf dem Konzil gegen die Tradition angetretene Partei hatte die Kompromißformeln, mit denen in manchen Konstitutionen der Streit geschlichtet worden war, nur als Etappe in dem großen Krieg um die zukünftige Gestalt der Kirche angesehen. Man begann, „den Geist des Konzils“ gegen den Wortlaut der Beschlüsse auszuspielen.

Die Umsetzung der Konzilsbeschlüsse geriet verhängnisvollerweise in die 1968 auf der ganzen Welt ausbrechende Kulturrevolution hinein, die sicherlich auch das Werk eines Geistes war, wenngleich eines sehr unreinen. Die politische Aushöhlung jeder Art von Autorität, die ästhetische Vulgarität, die philosophische Demontage der Tradition verwüsteten nicht nur Universitäten und Schulen und vergifteten die öffentliche Atmosphäre, sondern ergriffen zugleich auch weite Kreise in der Kirche.

Mißtrauen gegen die Tradition, Auslöschung der Tradition begann sich ausgerechnet in einer Körperschaft auszubreiten, deren Wesen ganz und gar aus Tradition besteht, so sehr daß man sagen muß: die Kirche ist nichts ohne die Tradition. So war der vielerorts ausgebrochene nachkonziliare Kampf gegen die Tradition nichts anderes als ein versuchter Selbstmord der Kirche, ein buchstäblich absurder nihilistischer Vorgang.

Wir alle haben noch im Ohr, wie Bischöfe und Theologieprofessoren, Pfarrer und katholische Verbandsfunktionäre mit sieggewissem Ton verkündeten, mit dem II. Vatikanischen Konzil sei ein neues Pfingsten über die Kirche gekommen, was keines der berühmten für die Entwicklung des Glaubens prägend gewordenen historischen Konzilien jemals von sich behauptet hatte.

„Ein neues Pfingsten“, das hieß nichts weniger als eine neue Erleuchtung, womöglich eine solche, die über die bereits vor zweitausend Jahren empfangene hinausführen würde – warum nicht gleich zum Dritten Testament aus der „Erziehung des Menschengeschlechtes“ des Gotthold Ephraim Lessing.

Das II. Vaticanum bedeute einen Bruch mit der bis dahin geltenden Tradition, und dieser Bruch sei heilsam. Wer zuhörte, durfte glauben, die katholische Religion habe eigentlich erst nach dem II. Vaticanum zu sich gefunden, alle Generationen davor, denen wir, wie wir hier sitzen, unseren Glauben verdanken, hätten sich gleichsam in einem Vorhof der Unreife aufgehalten. Es sei gerechterweise der Tatsache gedacht, daß die Päpste dem zu entgegnen versuchten – mit schwacher Stimme und vor allem ohne den Willen, als Regenten der Kirche in diese Fehlentwicklung mit ordnender Hand einzugreifen.

Sehr wenige einzelne Haeresiarchen, die mit selbstgewisser Dreistigkeit ihre Maßregelung geradezu erzwangen, wurden getadelt – aber die große Masse der Neu-Pfingstler durfte ungehemmt, in einem weitausgebreiteten Netzwerk geschützt, einen Rieseneinfluß auf die kirchliche Gegenwart entfalten, so daß die Behauptung, mit dem II. Vaticanum habe die Kirche mit ihrer Vergangenheit gebrochen, für Außenstehende jedenfalls immer wahrscheinlicher wurde – wer daran gewohnt war, seinen Augen und Ohren zu trauen, der vermochte sich nicht länger einzureden, daß dies noch immer die sich in allem Wandel der Zeiten über die Jahrtausende treugebliebene Kirche sei.

Höhnisch reimte der deutsche katholische Staatsrechtler Carl Schmitt beim Anblick der nachkonziliären Kirche: „Alles fließt, lehrt Heraklit. / Der Felsen Petri, der fließt mit.“ Ein Bildersturm wie in den schlimmsten Zeiten der Reformation ging über die Kirchen hinweg; in den Seminarien wurde „Entmythologisierung des Christentums“ à la Bultmann getrieben; die Liturgie wurde säkularisiert und protestantisiert, das Ende des Priesterzölibats als unmittelbar bevorstehend gefeiert, der Religionsunterricht wurde selbst im in dieser Hinsicht hochbegünstigten Deutschland weitgehend preisgegeben; die Priester legten ihr geistliches Habit ab, die Sakralsprache, eben noch von der Liturgiekonstitution des Konzils feierlich bestätigt, wurde aufgegeben.

Dies alles geschah, um die Kirche, so hieß es, für die Zukunft zu rüsten; die Gläubigen seien anders nicht mehr in der Kirche zu halten. Man argumentierte in der Hierarchie wie Kaufhausbesitzer, die nicht auf ihrer Ware sitzen bleiben wollen und sie zu Schleuderpreisen unters Volk werfen. Leider paßt der Vergleich nicht ganz, denn das Volk interessierte sich nicht für die verbilligte Ware – nach dem „neuen Pfingsten“ begann ein Auszug aus der Kirche, aus den Klöstern, aus den Priesterseminaren, die Kirche verlor, während sie ihre Revolution ungehemmt vorantrieb, unablässig an Bindungsfähigkeit und Anziehungskraft – sie glich, während sie sich im Abwerfen der Überlieferung selbst zu überbieten trachtete, jenem ratlosen Schneider, der sich kopfschüttelnd eine verschnittene Hose ansieht und dabei murmelt: „Dreimal abgeschnitten und immer noch zu kurz!“

Es wird behauptet, der Auszug der Gläubigen hätte sich auch ohne die Revolution ereignet – akzeptieren wir diese konditionale Behauptung einmal: aber wenn das wirklich so gekommen wäre, dann wäre die gewaltsame Umwälzung ja gar nicht nötig gewesen – im Gegenteil, die in der Kirche verbliebene Schar hätte weiterhin unter dem „Zeichen, dem widersprochen wird“ in Treue ausharren können. Es gibt kein einziges Argument zugunsten der nachkonziliären Umwälzung, ich habe bisher keines kennengelernt.

Papst Benedikt konnte und durfte nicht so denken, wenn er sich auch in einsamen Stunden dem Ansturm solcher Überlegungen nur schwer zu erwehren vermocht haben mag. Er wollte das Bild der Kirche als eines im Schutz des Heiligen Geistes harmonisch wachsenden Organismus keinesfalls aufgeben. Es war ihm in seinem historischen Bewußtsein auch klar, daß die Geschichte sich niemals zurückdrehen läßt – daß es unmöglich und auch vermessen ist, etwas Geschehenes ungeschehen zu machen, weil auch der sündenvergebende Gott ja die Sünde des Menschen nicht ungeschehen macht, sondern sie im besten Fall sogar zur „felix culpa“ werden läßt.

Aus dieser Sicht konnte er nicht akzeptieren, was die Progressisten und die Traditionalisten gleichermaßen und mit den besten Gründen vortrugen: daß es in der nachkonziliaren Aera tatsächlich zu einem entscheidenden Bruch mit der Tradition gekommen sei – daß die Kirche vor dem Konzil und die Kirche nach dem Konzil nicht mehr dieselbe Institution sei. Es hätte dies bedeutet, daß die Kirche nicht mehr unter der Leitung des Heiligen Geistes stehe – daß sie mithin aufgehört hätte Kirche zu sein.

Man darf sich den Theologen Joseph Ratzinger freilich nicht in einem naiven Formelglauben befangen vorstellen. Die Verwerfungen der Kirchengeschichte waren ihm wohlvertraut. Daß es auch in der Vergangenheit schlechte Päpste, mißleitete Theologen, fragwürdige Verhältnisse in der Kirche gegeben hatte, war ihm niemals verborgen. Aber er fühlte sich bei Betrachtung der Kirchengeschichte von dem unbestreitbaren Eindruck getragen, daß die Kirche in beständiger Entwicklung immer wieder ihre Krisen überwand, indem es ihr gelang, Fehlentwicklungen nicht einfach abzuschneiden, sondern sie in den darauf folgenden Generationen womöglich sogar fruchtbar zu machen.

Als vordringlich schien es ihm deshalb, die Vorstellung zu bekämpfen, es habe diesen Bruch – für den doch alle Anzeichen sprachen – wirklich gegeben. Seine Bemühung galt dem Versuch, die Behauptung eines solchen Bruchs aus den Köpfen zu entfernen. Es haftete diesem Versuch etwas Dezisionistisches an – ein Sich-über-die-Fakten-Hinwegsetzen – und es möge bitte nicht als Ironie verstanden werden, wenn ich diesem Zusammenhang den großen absurden Lyriker Christian Morgenstern zitiere mit seiner berühmten Zeile „…nicht sein kann, was nicht sein darf!“

Die Kirche darf sich niemals in einen Widerspruch zu sich selbst, zur Tradition, zur Offenbarung, zur Lehre der Väter und der Gesamtheit der Konzilien begeben – und deshalb tut sie es auch nicht, und wenn es so scheint, als tue sie es dennoch, so ist dies ein falscher Schein – eine in die Tiefe gehende Hermeneutik wird schließlich stets erweisen, daß der Widerspruch keiner war.

Ein unerschöpfliches Vertrauen in das Wirken des Heiligen Geistes liegt in einer solchen Haltung, ein zynischer Außenstehender könnte auch von einer „heiligen Schlauheit“ sprechen; jedenfalls ist dieser Standpunkt aus beiden Blickwinkeln, dem des Gottvertrauens und dem des Macchiavellismus, gleichermaßen zu rechtfertigen. Denn der Blick auf die Kirchengeschichte zeigt, daß der Fortbestand der Kirche stets mit dem festen Glauben oder doch jedenfalls der unerschrocken behaupteten Fiktion verbunden war, in jeder Phase vom Heiligen Geist geleitet zu sein.

Das, was Papst Benedikt „die Hermeneutik des Bruchs“ nannte, war für ihn – gleich, ob sie von der traditionstreuen oder von der progressistischen Seite in Anspruch genommen wurde - ein Angriff auf das Wesen der Kirche, deren Natur in der bruchlosen Kontinuität bestehe.

Deshalb führte er den Begriff einer „Hermeneutik der Kontinuität“ im Munde, und das war weniger ein theologisches Programm und kaum die Grundlage von konkreten Entscheidungen, als das Werben um eine Geisteshaltung, aus der allein eine Gesundung der Kirche erwachsen würde: wenn erst einmal alle verstanden hätten, daß die Kirche nicht auf Brüche und Revolutionen vertraut und vertrauen darf, dann würden die Hierarchen und Theologen gleichsam von selbst zu einer harmonischen Fortentwicklung der Tradition zurückfinden.

Es sprach aus diesem Denken eine geradezu fernöstliche Weisheit, ein grundsätzliches Mißtrauen gegen alles Machertum und die Überzeugung, daß eine geistige Krise nicht vom Schreibtisch aus mit Dekreten zu beendigen sei. „Les choses se font en ne les faisant pas“ – das sagte kein Chinese, sondern ein europäisches Genie der Diplomatie, der französische Außenminister Talleyrand, der immerhin katholischer Bischof war – „Die Dinge erledigen sich, indem man nichts tut.“ – das ist eine Alltagserfahrung, jeder mag sie schon einmal gemacht haben, aber es ist zugleich eine tiefe Einsicht in den Verlauf der Geschichte, deren große Entwicklungen von menschlichen Plänen unbeeinflußbar bleiben, so erregt die politischen Protagonisten im Vordergrund der Gegenwart auch herumfuchteln mögen.

Das war es ja, was schon der Kardinal und Glaubenspräfekt an der Meßreform Papst Paul VI. kritisiert hatte: daß hier das organische Wachstum, die von der unmerklichen Hand der Zeit gestaltete Entwicklung der Liturgie durch einen bürokratischen Akt, einen „dictatus papae“, unterbrochen worden war. Es erschien ihm nicht nur aussichtslos, sondern geradezu verboten, die Wunde, die dieser Verstoß gegen die Tradition geschlagen hatte, durch ein erneutes Diktat zu heilen zu versuchen.

Ein allmählicher Wandel des Denkens, hervorgerufen durch den Anblick des Vorbilds, das er der Welt gab, würde eine Stimmung schaffen, in der sich die Rückkehr zur Tradition wie von selbst ergab. Er vertraute auf die Macht der Bilder, die sich bei seinen öffentlichen Auftritten ergaben, etwa wenn er bei seinen Liturgien den römischen Kanon verwendete oder die Kommunion den knieenden Gläubigen in den Mund spendete. Die Wahrheit allein durch die „sanfte Gewalt“ der Wahrheit selbst wirken zu lassen, wie es in der Konzilskonstitution zur Religionsfreiheit heißt, diese Maxime entsprach sowohl seinem Temperament wie auch seiner Überzeugung.

Einen charakteristischen Ausdruck seiner Herangehensweise fand seine Sorge um die Überwindung der vielfältigen Fehlentwicklungen in der Liturgie, die das eucharistische Mysterium verdunkelten. Er hoffte, diese Mißstände durch eine „Reform der Reform“ beseitigen zu können. „Reform“, das war doch ein Begriff, der in den Ohren der Zeitgenossen wohlklingen mußte. „Reform“ war doch etwas, dessen Rechtfertigung sich von selbst verstand. Alles forderte doch unablässig ökonomische, politische und soziale Reformen.

War da eine „Reform der Reform“ nicht geradezu eine Steigerung dieses positiven Wortes, Ausdruck auch der Maxime „ecclesia semper reformanda“ und als Bewertung und Überprüfung der Experimentalphase, die die Liturgie nach ihrer Neufassung durch Papst Paul durchlaufen hatte, auch notwendig?

Die Progressisten ließen sich über die Harmlosigkeit dieses „Reform“-Anliegens nicht täuschen. Schon die ersten äußerst behutsamen Schritte des Kardinals, erst recht des Papstes wurden in ihrer Gefährlichkeit für die drei großen, wenngleich von Rom immer bestrittenen Ziele der Meß-Revolution erkannt: was er erreichen wollte, würde der Entsakralisierung, der Protestantisierung und der anthropozentrischen Demokratisierung des Ritus im Wege stehen. Mit welchen Kämpfen waren allein die Beseitigung der vielen Fehler in den landessprachlichen Übersetzungen der Meßbücher verbunden!

Die philologisch eindeutige Verfälschung der Einsetzungsworte, der sattsam bekannte Streit um das „pro multis“ der Wandlung, das nun einmal beim besten und beim schlechtesten Willen nicht „pro omnibus“ heißt, ist in Deutschland bis heute nicht entschieden, obwohl sich die englischsprachige und die romanische Welt mehr oder weniger zähneknirschend gebeugt haben – die Allerlösungstheologie, eines der liebsten Kinder der nachkonziliaren Zeit, war in Gefahr. Daß mindestens ein Drittel des Matthäus-Evangeliums etwa aus derart schreckenerregenden Ankündigungen der ewigen Verdammnis besteht, daß man nach der Lektüre nicht mehr schlafen kann, war den Propagandisten der „neuen Barmherzigkeit“ gleichgültig, obwohl sie ihren Kampf gegen die Tradition doch gerade damit rechtfertigten, durch historischen Wust und Verkrustung zu den Quellen des „authentischen“ Jesus zurückkehren zu wollen.

Ähnlich ging es einem zentralen Anliegen Benedikts, daß die eigentliche Meßreform Papst Pauls VI. eigentlich gar nicht berührte. Die enthielt ja bekanntlich keine Änderung der Zelebrationsrichtung. Der von Papst Benedikt bewunderte Liturgiewissenschaftler Klaus Gamber hatte den wissenschaftlichen Nachweis geführt, daß die Annahme nicht haltbar sei, die Priester hätten das eucharistische Opfer zu irgendeinem Zeitpunkt der Kirchengeschichte zum Volk gewendet dargebracht und nicht gemeinsam mit dem Volk nach Osten zum wiederkehrenden Herrn hin ausgerichtet.

Schon als Kardinal hatte Papst Benedikt immer wieder darauf hingewiesen, wie sehr die Messe durch die falsche Zelebrationsrichtung entstellt und in ihrer Bedeutung verunklart werde – er sprach davon, daß die zum Volk hin zelebrierte Messe den Eindruck vermittle, daß die Gemeinde nicht auf Gott ausgerichtet sei, sondern sich selbst feiere.

Diese richtige Einsicht gelangte freilich weder in ein kirchenrechtlich verbindliches Dokument der Glaubenskongregation noch in die Gesetzgebung des Papstes. Auch hier sollte die Wahrheit sich wieder durch die „sanfte Gewalt“ der Wahrheit selbst durchsetzen – so eben sah die Herrschaft des „Panzerkardinals“ aus, von „Gottes Rottweiler“ und was sonst noch an Komplimenten für Papst Benedikt durch die veröffentlichte Meinung ersonnen wurde.
Die Folge dieser Wirkung der „sanften Gewalt“ liegt heute offen zutage.

Der im Geist Benedikts lehrende und handelnde Präfekt der Ritenkongregation, Kardinal Sarah, diese große Hoffnung in der gegenwärtigen Kurie, hat nichts in Händen, um den von Benedikt ererbten Auftrag, den er treu ausführen wollte, Wirklichkeit werden zu lassen. Die „Reform der Reform“, die immer nur eine programmatische Formel war, ist nun sogar als Formel verboten.

Lohnt es da noch zu fragen, wie die „Reform der Reform“ realistischerweise hätte aussehen können? Am Gebrauch der Volkssprache gedachte Papst Benedikt jedenfalls nicht zu rütteln, dies hielt er für unumkehrbar, wenngleich er eine Ausweitung gelegentlicher lateinischer Messen wahrscheinlich begrüßt hätte. Die Korrektur der falschen Zelebrationsrichtung hätte ihm am Herzen gelegen, desgleichen der im Meßbuch Pauls VI. ebenfalls nicht abgeschaffte Empfang der Kommunion in den Mund. Den Gebrach des römischen Kanons hätte er favorisiert, der gleichfalls jetzt schon nicht verboten ist. Wenn er auch daran gedacht hätte, die alten hochwichtigen Offertoriumsgebete wieder ins neue Meßbuch aufzunehmen, dann könnte man sagen, seine Reform der Reform sei nichts anderes als die Rückkehr zu dem nachkonziliaren Meßordo von 1965, der im Auftrag von Papst Paul VI. vor seiner einschneidenden Meßreform selbst veröffentlicht wurde, und zu dem der damalige Kardinalstaatssekretär Cigognani in seinem Vorwort zum dazugehörigen Schott-Meßbuch von 1966 ausdrücklich schrieb: „Eigenart und Kernpunkt dieser Neubearbeitung ist der vollzogene Anschluß an die Liturgiekonstitution des Konzils.“

Es gehört zu den großen Rätseln der neueren Kirchengeschichte, was Papst Paul dazu trieb, über diesen von ihm promulgierten Meßordo hinwegzugehen und ein neues Missale kurz danach herauszugeben, das dem Konzilsauftrag eben nicht mehr entsprach. Eines ist gewiß: wäre es bei dieser ersten Bearbeitung geblieben, die manches letztlich sinnlose Opfer brachte, im ganzen aber den Ritus unangetastet ließ, es hätte den Aufstand des großen Erzbischofs Lefebvre nie gegeben.

Aber auch etwas anderes stimmt: nichts hindert auch heute schon einen Priester daran, diese wichtigsten Elemente, die von einer „Reform der Reform“ zu erwarten gewesen wären, in seine Zelebration einzubeziehen: Ad orientem-Zelebration, Mundkommunion, römischer Kanon, gelegentliches Latein – nach den Büchern der Kirche ist das alles auch heute möglich, wenngleich es beträchtlicher Zivilcourage und Autorität bedarf, ohne Stütze aus Rom in der einzelnen Gemeinde zu dieser Form zurückzufinden. Ich will sagen: ein großer Wurf wäre die Reform der Reform nicht gewesen, viele geistliche Schätze des alten Ritus hätte sie nicht zurückerobert, aber sie hätte mit Sicherheit zu einer Änderung der Atmosphäre geführt, sie hätte den Geist der Anbetung und des heiligen Raums wieder erstehen lassen.

Wenn der einzelne Priester dies in seiner Gemeindekirche allein und auf eigene Rechnung zu versuchen unternimmt, riskiert er einen aufreibenden Kampf mit seinen Vorgesetzten und Ärger mit seinem Liturgieausschuß – so wird das Mögliche und Erlaubte schnell zu etwas faktisch Unmöglichem. Wie hilfreich wäre ein einziges Dokument des Papstes gewesen, in dem die ad orientem-Zelebration ausdrücklich empfohlen worden wäre. Wenn man sich mit dem vielleicht müßigen Gedanken befaßt, „was gewesen wäre, wenn…“, dann mag auch die Erinnerung daran am Platz sein, was noch wichtiger gewesen wäre, als die Arbeit am Detail des Ritus. 

Von der großen Krise der Liturgie im XX. Jahrhundert weiß jeder, der sich gründlicher damit beschäftigt hat, daß sie nicht einfach vom Himmel gefallen oder aus der Hölle aufgestiegen ist, sondern daß es zum Teil weit zurückreichende Entwicklungen gab, die schließlich in die Katastrophe mündeten, ein Denken, das für sich genommen zunächst gar nicht gefährlich wirkte und das auch keinesfalls einfach als antiliturgisch, als antisakral verstanden wurde und auch heute noch sogar bei einigen Freunden des überlieferten Ritus zu finden ist.
Man könnte es ein römisch-juristisches Denken nennen, auch ein mißverstanden scholastischanalytisches Denken, auf jeden Fall eine Denk- und Auffassungsweise, die dem ersten christlichen Jahrtausend, das den Ritus geformt hat, vollständig fremd war. Nach dieser Auffassung finden sich im Ritus wesentliche und weniger wichtige Teile.

Bedeutsam ist für die durch diese Denkungsweise beeinflußte Meßtheologie der Begriff der „Gültigkeit“. Ein Begriff aus der notariellen Sphäre, in der gefragt wird, welche Voraussetzungen zwingend gegeben sein müssen, um einen Rechtsakt gültig werden zu lassen, und welche Voraussetzungen zu dieser Gültigkeit eben nicht beitragen. Diese Betrachtung führt notwendig zu einer Reduktion, einem formalen Minimalismus, der nur noch wissen will, ob bei einer bestimmten Messe die Mindestvoraussetzungen zu ihrer Gültigkeit vorgelegen haben.

Unter dem Einfluß dieser Auffassung kam es früh schon zur Schaffung von Reduktionsformen des Ritus, wie zum Beispiel der „Stillen Messe“, die man gewiß lieben kann, dabei aber nicht vergessen darf, daß sie für die Kirche des ersten Jahrtausends, die in den verschiedenen orthodoxen Kirchen bis heute fortlebt, eine Denkunmöglichkeit darstellt. Der Choralgesang ist für den orthodoxen Zelebranten auch dann vorgeschrieben, wenn er allein zelebriert, denn die Liturgie rückt den Menschen in die Sphäre der Engel, und die Engel singen und die Menschen, die die Lieder der Engel singen, das „Gloria“ und das „Sanctus“, nehmen, wie es in den orientalischen Liturgien dann auch ausdrücklich heißt, die Stellung der Engel ein. Die „Stille Messe“ wurde entwickelt, als in Kloster- und Stiftskirchen mehrere Priester zur gleichen Zeit an verschiedenen Altären zelebrierten; praktische Erwägungen, die allzu leicht nachvollziehbar sind, wollten ein musikalisches Chaos verhindern.

Aber man muß nur einmal in der Grabeskirche zu Jerusalem gewesen sein, um erfahren zu haben, daß in der geistlichen Welt des ersten Jahrtausends praktische Erwägungen keinerlei Berechtigung haben, wenn es um Liturgie, das Opus Dei geht. Griechische Orthodoxe, ägyptische Kopten, Armenier singen an den verschiedenen Altären ihren je eigenen Gesang, bis ein heiliger Lärm den Raum erfüllt, der freilich den Nordmenschen mit seiner Suche nach protestantischer Innerlichkeit und Besinnlichkeit verwirrt, vielleicht sogar abstoßen mag, vor allem wenn sich dann noch der Ruf des Muezzins aus der benachbarten Moschee in das Ganze hineinmischt. Was uns hier interessiert: selbst angesichts solch krasser Folgen darf im Geist der östlichen Liturgien an Minimierung, „Reduktion auf das Wesentliche“, Wegfall von Elementen, die nicht die Wandlung berühren etc. nicht einmal gedacht werden.

Der Kern der Unterscheidung des altkirchlichen vom neueren westlichlateinischen Denken besteht, um es zusammenzufassen, in der Auffassung von der Wandlung der Opfergaben. Die altkirchliche Auffassung versteht die gesamte Liturgie in allen ihren Teilen als konsekratorisch – die Gegenwart Christi ist in ihr nicht nur auf die eigentlichen Wandlungsworte zentriert, sondern zieht sich in verschiedenen Formen durch die ganze Liturgie, um in der Wandlung dann ihren Höhepunkt in Gestalt des vergegenwärtigten Opfertodes zu erfahren.

Wer die Messe so begreift, der denkt freilich nicht an Reduktion, an eigenmächtiges Eingreifen schon gar nicht, weil die Gegenwart Christi menschlich eigenmächtiges Arrangieren und Inszenieren von vornherein ausschließt. Es war die neuere westliche Betrachtungsweise, den eigentlich sakralen Akt auf die Wandlung beschränkt zu empfinden, die die Messe dem planenden Zugriff auslieferte.

Aber die Liturgie hat mit der Kunst gemeinsam, daß es in ihrem Raum keine Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem gibt. Alle Bestandteile eines meisterlichen Gemäldes sind von gleichem Gewicht, auf keines kann verzichtet werden. Man stelle sich vor, man wollte auf dem Gemälde Raffaels von der Heiligen Cäcilie nur Gesicht und Hände gelten lassen, weil sie das „Wichtige“ seien und die Musikinstrumente zu ihren Füßen wegschneiden, weil sie „unwichtig“ seien.

Entscheidend ist aber, daß die lateinische Welt zu ihrer Anschauung gegen die
Fakten ihrer eigenen Liturgie gelangt ist, die eine ganz andere, in wachsendem Maße aber unverstandene Sprache besaßen. Nicht nur die orthodoxe, auch die römische Liturgie besteht nämlich in einem allmählichen Anwachsen der Gegenwart des Herrn, die in der Wandlung gipfelt, aber eben nicht in Form eines Schnitts, der die Teile vor der Wandlung von denen nach ihr trennt, so wie ja auch das Leben Christi unter den Menschen von dem Höhepunkt dieses Lebens, dem Opfertod, nicht getrennt war, sondern folgerichtig auf ihn zuführte.

Christus-Vergegenwärtigung, Christus-Anwesenheit ist von den ersten Augenblicken das Programm auch der lateinischen Liturgie, die Sprache ihrer Zeichen läßt keine andere Deutung zu. Aus dem Hofzeremoniell der heidnischen Kaiser hat sie die Bildersprache für die Anwesenheit der allerhöchsten Souveränität übernommen – die Kerzen, die dem Kaiser vorangetragen wurden und das Rauchfaß. Wann immer Kerzen und Weihrauch in der Liturgie auftreten, bezeichnen sie einen neuen Kulminationspunkt der göttlichen Anwesenheit. So ist schon der einziehende Priester in seiner liturgischen Funktion als „alter Christus“ Teil des großen Werks, der Theourgie, wie man die Liturgie genannt hat, „Gottesschöpfung“, er stellt den Christus des Palmsonntag dar, der festlich in Jerusalem einzieht, ebenso aber auch den wiederkommenden Christus, der von den Zeichen der Hoheit umgeben ist.

Bei der Evangelienlesung zeigen die Kerzen der Evangelienprozession und die Beräucherung des Buches wie auch des zelebrierenden Priesters wiederum die Anwesenheit des lehrenden Christus an – die Lesung ist eben nicht einfach nur „Verkündigung“, sondern vor allem Gegenwartserzeugung. Dann werden die vom großen Velum verhüllten Gaben an den Altar gebracht und dort ehrfürchtig empfangen und beräuchert, und auch die dabei gesprochenen Gebete lassen sich in dem Sinne verstehen, daß ihnen bereits in ihrer Ausgesondertheit die Rolle zukommt, obwohl noch ungewandelt, im strengeren Sinne, den sich auf seinen Opfertod vorbereitenden Christus zu verkörpern – so faßt denn das liturgische Verständnis des ersten Jahrtausends auch das Abnehmen des Velums am Altar als Vergegenwärtigung des Augenblicks auf, in dem Christus seiner Kleider beraubt wurde.

Den Meßreformern war das überlieferte Offertorium ein besonderer Dorn im Auge – wieso diese Gebete, wieso diese besonderen Ehrfurchtsbezeigungen, wenn die Gaben doch noch gar nicht gewandelt seien. Vom Standpunkt der sich eingeschlichen habenden Meßtheologie des zweiten Jahrtausends war dies Offertorium unversehens unverständlich geworden, ein mitgeschlepptes, nur noch Verlegenheit erzeugendes Detail. Aber man ermesse den Geist der Ehrfurcht etwa der Epoche des Konzils von Trient, das die Liturgie ordnete und selbstverständlich gar nicht daran dachte, einen liturgischen Ritus zu ändern, nur weil man ihn theologisch gesehen inkonsequent fand. Als der Offertoriums-Ritus dann aber auf die Schreibtische des unseligen zwanzigsten Jahrhunderts gelangt war, durfte er endlich gestrichen werden – man fühlt regelrecht die Zufriedenheit des Reformers, mit einem Federstrich den Unsinn von Jahrtausenden beseitigt zu haben.

Dabei wäre es so leicht gewesen, das Offertorium als Vergegenwärtigungsritus zu erkennen, wenn man nur einmal auf den orthodoxen Ritus hinübergesehen hätte – aber vor solchen Abschweifungen bewahrt die römische Arroganz, die hochnäsig ignoriert, daß man über den römischen Ritus keinerlei kompetente Aussage machen kann, wenn man dabei nicht zugleich den orthodoxen Ritus im Auge hat. Dort nämlich wird das Offertorium noch weitaus festlicher und ausführlicher begangen, eben weil es bereits als Teil der Konsekration gilt.

Warum hat niemanden stutzig gemacht, daß die Epiklese, die Anrufung des heiligen Geistes zur Wandlung der Opfergaben, im lateinischen Ritus Teil des Offertoriums ist, daß die Liturgie also ein deutliches Signal dafür enthält, daß die Konsekration bereits begonnen hat? Aber das tiefere Verständnis des liturgischen Prozesses war bereits so weit abhanden gekommen, daß man das, was man nicht mehr verstand, einfach wegzuwerfen fähig war, als handele es sich um einen sinnlosen Schnörkel; es muß ein wahrhaft erhabenes Gefühl gewesen sein, als Nachgeborener so souverän den größten Papst der Kirchengeschichte, den Heiligen Gregor den Großen, zurechtstutzen zu können.

Es sei erlaubt, hier einmal einen atheistischen Schriftsteller zu zitieren, den brillanten Stalinisten Peter Hacks, der zur Frage der Bearbeitung klassischer Theaterstücke gesagt hat: „Die beste Art, die klassischen Theaterstücke zu bearbeiten ist sie zu begreifen.“ Ein schon in der Literatur zu beachtendes Prinzip, um wieviel mehr, wenn es um den größten Schatz geht, den wir besitzen, die Liturgie. Es gehört zu den wichtigsten Leistungen Papst Benedikts, den Versuch unternommen zu haben, die Aufmerksamkeit der Kirche wieder auf die Orthodoxie der Ostkirchen zu lenken. Er wußte, daß alles Trachten nach Ökumene, so dringend geboten es ist, nicht bei publikumswirksamen Treffen mit östlichen Hierarchen zu beginnen hat, sondern bei der Wiederherstellung der lateinischen Liturgie, die das wahre Bindeglied zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche darstellt.

Nun, wir wissen inzwischen, daß all diese Anregungen vergeblich waren, vergeblich auch, weil es nicht der Tod war, der sie unterbrochen hätte, sondern ein Aufgeben lang bevor man sicher hätte sein dürfen, daß irreversible Fakten geschaffen worden waren. Die Enttäuschung über das schockierende Ende des benediktinischen Pontifikats ist allzu gut begreiflich, aber sie droht den nüchternen Blick auf die Tatsachen zu verdunkeln. Man stelle sich einmal vor, wie es um die liturgische Realität stünde, wenn Papst Franziskus unmittelbar auf Johannes Paul II. gefolgt wäre. Wenn auch das Herzensanliegen Papst Benedikts gescheitert ist, eben die „Reform der Reform“, so bleibt er doch ein Papst der Liturgie, vielleicht, hoffentlich sogar der große Retter der Liturgie. Sein Motu proprio verdient wahrhaft diesen Titel „Aus eigenem Antrieb“. Denn es gab niemanden oder doch sehr, sehr wenige in der Kurie und im Weltepiskopat, die dem Papst in dieser Sache zur Seite gestanden wären.

Von progressistischer, leider aber auch von „konservativer“ Seite – man hat sich daran gewöhnen müssen, das Wort konservativ in Anführungszeichen zu setzen – ist Papst Benedikt bestürmt worden, dem überlieferten Ritus keinen Freiraum über die widerwillig von Papst Johannes Paul II. geschaffenen Möglichkeiten hinaus zu gewähren. Er, der seinem ganzen Wesen nach einsamen päpstlichen Entscheidungen mißtraute, hat sich in diesem Fall einmal überwunden und ein Machtwort gesprochen. Und er hat durch die Ausführungsbestimmungen zu „summorum pontificum“ dazu kirchenrechtlich verankerte Garantien geschaffen, die der Überlieferung ihren festen Platz im Leben der Kirche sichern. Das ist immer noch nur ein erster Schritt, aber es gehörte zur Überzeugung dieses Papstes, der ein geistlicher Ernst nicht abzusprechen ist, daß das wahre Wachstum liturgischen Bewußtseins nicht befohlen werden kann, daß es vielmehr in vielen Seelen stattfinden muß, daß an vielen Orten auf der Welt die Treue zur Überlieferung sich bewähren muß.

Es liegt jetzt an jedem einzelnen, die von Papst Benedikt eröffneten Möglichkeiten zu ergreifen – er hat gegen übermächtige Widerstände eine Schleuse geöffnet – nun muß das Wasser fließen, von dieser Aufgabe kann sich niemand dispensieren, der das Leben der Liturgie für einen wesentlichen Bestandteil des Glaubens hält. Die Liturgie i s t die Kirche – jede im überlieferten Geist gefeierte Messe ist unendlich viel wichtiger als jedes Wort jedes Papstes. Sie ist der rote Faden, der sich durch Glanz und Elend der Kirchengeschichte ziehen muß – wo sie fortdauert, werden Phasen päpstlicher Willkürherrschaft zu Fußnoten der Geschichte. Ist es nicht die geheime Ahnung der Progressisten, daß ihre Bestrebungen solange vergeblich sein werden, wie in der Kirche die Erinnerung an ihren Lebensquell überlebt?

Man mache sich noch einmal klar, an wievielen Orten in der Welt seit dem Motu proprio der überlieferte Ritus zelebriert wird, wieviele Priester, die nicht den Traditionsgesellschaften angehören, inzwischen den alten Ritus erlernt haben, wieviele Bischöfe inzwischen im alten Ritus Priester geweiht und gefirmt haben – Deutschland ist hier leider nicht an erster Stelle zu nennen, das Land, aus dem so viele der Kirche schadende Impulse gekommen sind, aber Katholiken müssen universal denken.

Wer hätte vor zwanzig Jahren für möglich gehalten, daß an der Kathedra Petri im Petersdom noch einmal ein Pontifikalamt im alten Ritus gehalten würde? Ich gebe zu, das ist wenig, viel zu wenig – ein winziges Phänomen im Ganzen der Weltkirche – aber wir haben, bei nüchterner Betrachtung der Riesenkatastrophe, die sich in der Kirche ereignet hat, nicht das Recht, die Ausnahmen von der traurigen Regel gering zu schätzen.

Die Totalität des progressistischen Anspruchs ist gebrochen, und das ist das Werk Papst Benedikts XVI. Und wer beklagt, daß er nicht mehr für die gute Sache getan habe, daß er seine päpstliche Vollmacht zu wenig genutzt habe, der möge in aller Sachlichkeit auch sagen, wer denn unter den Kardinälen mit echten Chancen auf das Papstamt mehr für den Ritus getan hätte als er. Und das Ergebnis dieser Bilanz kann nichts anderes sein als Dankbarkeit gegenüber dem unglücklichen Papst, der in schwerster Zeit getan hat, was in seinen Kräften stand. Und für sein Andenken ist gesorgt, wenn auch nicht auf den Kitsch-Devotionalien der Pilgergeschäfte rings um den Petersplatz. Wo immer wir das Glück erleben dürfen, an einer Messe im überlieferten Ritus teilzunehmen, werden wir auch an Benedikt XVI. denken müssen.  

© Dr. Guido Rodheudt

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