Nach jahrelanger Arbeit ist es soweit: Die Strafrechtsreform des Kirchenrechts tritt am heutigen Dienstag offiziell in Kraft. Dabei geht es vor allem um die Strafbestimmungen, die im Buch VI des Codex Iuris Canonici (CIC) stehen. Diese regeln – unter anderem – den Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauch. 

CNA Deutsch sprach mit dem deutschen Kirchenrechtler und Untersekretär im Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte, Monsignore Markus Graulich SDB, über die Reform.
 
Der Salesianer und Kirchenrechtler in Rom.  (Bild: Hatzfeld / Wikimedia CC BY-SA 3.0)  

Monsignore, zu Pfingsten hat die Kirche ein verbessertes Strafrecht bekommen. Ist der Termin nur Zufall oder von Papst Franziskus bewusst gewählt?

Der Termin der Promulgation des neuen Strafrechts der Kirche ist kein Zufall, sondern wurde bewusst gewählt und folgt einer längeren Tradition. Auch der erste Codex von 1917 wurde an Pfingsten promulgiert. Da die Arbeiten an der Reform im Frühjahr abgeschlossen und der Text vom Papst gut geheißen wurde, bot es sich an, auch für das erneuerte Strafrecht diesen Termin zur Promulgation zu wählen. Damit steht es – wie der Papst in seiner Apostolischen Konstitution festhält – in der Tradition des kirchlichen Rechts und ist nicht etwas völlig Neues, auch wenn es Neuheiten mit sich bringt.

Warum war eine Reform der Strafbestimmungen im sechsten Buch des Kirchenrechts überhaupt nötig? 

Die Erneuerung des kirchlichen Strafrechts war erforderlich, weil das bisherige Strafrecht des CIC wenig – sagen wir mal – „anwenderfreundlich“ war. An vielen Stellen wurden Strafen nur als Möglichkeit erwähnt und der ganze Text erweckte den Eindruck, dass es nahezu unbarmherzig sei Strafen anzuwenden. Dazu muss man bedenken, dass das Strafrecht zu einer Zeit erneuert wurde, als man das Recht in der Kirche und besonders das Strafrecht grundsätzlich in Frage stellte. Heute ist – auch auf Grund der Aufarbeitung des Missbrauchs Minderjähriger – die Atmosphäre eine andere.

Was für Auswirkungen hat das überarbeitete Strafrecht - ganz konkret - auf die Kirche?

Das ist sehr schwer zu sagen. Der Papst bringt in seiner Apostolischen Konstitution zum Ausdruck, dass er sich wünscht, dass das erneuerte Strafrecht als „flexibleres therapeutisches und korrigierendes Instrument benutzt wird, das zeitgerecht und mit pastoraler Liebe eingesetzt werden kann, um größerem Übel zuvorzukommen und die durch menschliche Schwäche geschlagenen Wunden zu heilen.“ Ob dieses Ziel erreicht werden kann, hängt von den Bischöfen und den anderen Verantwortlichen in der Kirche ab Auf jeden Fall lässt sich festhalten, dass die Reform des Strafrechts ein gutes Instrument zur Verfügung gestellt hat, damit die drei Ziele erreicht werden können, die sich in der Kirche mit der Verhängung von Strafen verbinden: die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die Besserung des Täters und die Beseitigung des Ärgernisses. Ob es gelingt, dass diese Reform konkrete Anwendung findet, hängt nicht nur von diesem Instrument ab, sondern von denen, die es benutzen müssen.

Der Zeitpunkt ist brisant: Nicht nur in Deutschland wehen von mehreren Kirchen die LGBT-Regenbogenfahnen, wurden homosexuelle Partnerschaften bei einer öffentlichen Protestaktion gesegnet.  Am Ökumenischen Kirchentag wurde kürzlich Protestanten die heilige Kommunion gespendet, und brodelt vor allem beim “Synodalen Weg” die Forderung nach einer Frauenweihe. Ist das Kirchenrecht ein Mittel, um hier Klarheiten zu schaffen?

Selbstverständlich. Das Kirchenrecht ist in diesen Dingen sehr klar – sonst wäre es ja kein Recht. Es kann aber – wie gesagt – nur dann ein Mittel zur Klärung sein, wenn es auch Anwendung findet. Die Frage, die sich hier stellt, ist die: wovon lassen wir uns leiten? Von Lehre und Recht, also von objektiven Kriterien oder vom Lebensgefühl des Augenblicks bzw. dem Zeitgeist? Wenn sich alles nach einem gewissen Wunschdenken richtet, dann nützt auch die beste Rechtsordnung nichts. 

Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen?

Es gibt zum Beispiel die Norm des can. 1371 §1: „Wer dem Apostolischen Stuhl, dem Ordinarius oder dem Oberen, der rechtmäßig gebietet oder verbietet, nicht gehorcht und nach Verwarnung im Ungehorsam verharrt, wird je nach Schwere des Falles mit einer Beugestrafe oder dem Amtsverlust oder anderen Strafen des can. 1336 §§ 2-4 bestraft.“ Diese Norm stand so ähnlich auch im geltenden Codex – angewandt wurde sie nicht. 

Ähnliches gilt für den neuen §4 des can. 1379: „Wer vorsätzlich demjenigen ein Sakrament spendet, dem der Empfang verboten ist, soll mit der Suspension bestraft werden, der andere Strafen nach can. 1336 §§ 2-4 hinzugefügt werden können.“ Wird diese Norm umgesetzt werden?

Sie sprechen damit natürlich auch ein grundsätzliches Risiko an, Herr Prälat…

..nun ja, das Risiko besteht darin, dass sich bei der Anwendung des Rechts eine unterschiedliche Praxis herausbildet: Länder, in denen es wirklich angewandt wird, Länder, wo es keine Anwendung findet. Das widerspricht dann dem Ziel der Rechtsordnung entgegen: eine einheitliche Praxis in der Kirche zu haben. 

Die Reform betrifft auch die Paragraphen über das Sechste Gebot – dort wurde sexueller Missbrauch juristisch verortet. Was ändert sich?

In diesem Bereich gibt es verschiedene Änderungen. Zunächst einmal war bisher der sexuelle Missbrauch Minderjähriger als Straftat unter dem Titel „Straftaten gegen besondere Verpflichtungen“ aufgeführt. Das war unzureichend, denn sexueller Missbrauch ist mehr als ein Vergehen gegen den Zölibat. Im erneuerten Strafrecht findet sich der Tatbestand unter dem Titel: „Straftaten gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen.“ Diese – wie Kirchenrechtler zu sagen pflegen – „Rubrizierung“ des Tatbestandes scheint auf den ersten Blick kein großer Schritt zu sein, ändert aber die Perspektive entscheidend: wer einen Minderjährigen missbraucht, der vergeht sich immer auch gegen dessen Würde.

Welche Folgen hat das für die Rechtsprechung?

Das muss sich zeigen – in der Rechtsprechung und gegebenenfalls der prozessualen Praxis.Aber das ist nur die erste Veränderung.

Was ändert sich weiter? 

Die zweite grundlegende Änderung besteht darin, dass den Minderjährigen Menschen gleichgestellt werden, deren Vernunftgebrauch habituell eingeschränkt ist oder denen das Recht einen gleichen Schutz zuerkennt. Damit wird der Kreis möglicher Opfer ausgeweitet.

Und der Kreis der möglichen Straftaten ebenso?

Es wurden auch die Straftaten, die von der Glaubenskongregation schon seit längerem behandelt werden, nämlich die Verführung zu pornographischen Darstellungen und der Erwerb, die Aufbewahrung und Verbreitung von pornographischen Bildern Minderjähriger oder von Menschen, deren Vernunftgebrauch habituell eingeschränkt ist, in das neue allgemeine Strafrecht aufgenommen.

Völlig neu ist im Kirchenrecht ein Paragraph im canon über den Missbrauch, in dem es heißt: „Wenn ein Mitglied eines Instituts des Geweihten Lebens oder einer Gesellschaft des Apostolischen Lebens oder sonst ein Gläubiger, der in der Kirche eine Würde bekleidet oder ein Amt oder eine Funktion ausübt, eine der Straftaten des § 1 oder des can. 1395 § 3 begeht, soll er nach Maßgabe des can. 1336 §§ 2-4 bestraft werden, wobei je nach Schwere der Straftat andere Strafen hinzugefügt werden sollen.“ Diese Straftäter fallen dann nicht unter den Vorbehalt der Glaubenskongregation, die weiter nur für den Missbrauch durch Kleriker zuständig ist, sondern müssen vor Ort behandelt werden.

Aber offenbar bleibt es bei der Formulierung, dass es Taten "gegen das Sechste Gebot" sind? 

Ja, es ist verschiedentlich kritisiert worden, dass der Codex die Formulierung „Straftat gegen das sechste Gebot des Dekalogs“ verwendet. Diese Kritik wurde auch in der Expertenkommission besprochen, die mit der Überarbeitung des Strafrechts befasst war. Man hat sich entschieden, bei dieser Formulierung zu bleiben, weil sie in der Moraltheologie und besonders im Katechismus klar definiert ist und somit eine umfassende Anwendung der Norm erleichtert. Würde man andere Formulierungen wählen, wäre die Anwendung der Norm eventuell eingeschränkt.

Wenn wir schon von Anwendung und Missbrauch reden: War das Problem nicht – auch und gerade beim Thema Missbrauch – dass das Kirchenrecht nicht konsequent angewendet worden ist? Kann hier die Reform Abhilfe schaffen?  

Da haben Sie Recht. Gerade die Aufarbeitung des Missbrauchs hat dazu geführt, dass man dem Recht in der Kirche, und besonders dem Strafrecht, wieder mit einer anderen Haltung gegenübergetreten ist. Es hat in diesem Bereich eklatante Fehler und Missachtungen des Rechts gegeben, die mit der Zeit weniger geworden sind. Deshalb gab es schon vor der Veröffentlichung des verbesserten Strafgesetzes Reformen, die von Papst Johannes Paul II., Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus in einzelnen Bereichen unternommen wurden und jetzt in die Reform eingeflossen sind. Ob hier die Reform zu einer weiteren Verbesserung führt und Abhilfe schaffen kann, hängt, wie gesagt, vor allem von der Umsetzung ab. 

Noch einmal zum Zusammenhang zwischen Recht und Theologie: Bei den Sakramenten klaffen hier ja die größten Lücken auf, auch und gerade im deutschsprachigen Katholizismus. Papst Franziskus hat bereits 2015 die Bischöfe aufgerufen, sich um das Sakrament der Beichte etwa zu bemühen. 

Das Recht – auch das Strafrecht – schützt die Sakramente, indem es regelt, was zu ihrer gültigen und erlaubten Feier erforderlich ist. Bei bestimmten Überschreitungen sind dann auch entsprechende Strafen vorgesehen, die sich jetzt gebündelt unter dem Titel „Straftaten gegen die Sakramente“ finden. Zu den Rechten der Gläubigen zählt in der Kirche auch, „den Gottesdienst gemäß den Vorschriften des eigenen, von den zuständigen Hirten der Kirche genehmigten Ritus zu feiern“ (can. 214). Wenn also Priester oder andere Mitarbeiter in der Seelsorge anfangen, ihren eigenen Ritus zu „stricken“, Hochgebete zu erfinden, usw. verletzen sie dieses Recht der Gläubigen. Sie begehen, wie man heute sagen würde, einen geistlichen Missbrauch. Ich hoffe sehr, dass das erneuerte Strafrecht auch in diesem Bereich angewandt wird und Abhilfe schaffen kann.

Da werden Ihnen von Herzen viele Gläubige zustimmen. Und die Beichte? 

Was das Sakrament der Beichte angeht, so ist es Gegenstand des Strafrechts nur insoweit als Straftaten begangen werden, die mit der Spendung des Sakramentes in Zusammenhang stehen. Etwa die direkte oder indirekte Verletzung des Beichtgeheimnisses oder die Verbreitung des Inhaltes der Beichte über die Medien. Die Beichte kann ihrerseits auch wieder dazu beitragen, dass schlechte Gewohnheiten korrigiert und dadurch evtl. Straftaten verhindert werden. Insgesamt handelt es sich aber um ein weitgehend „vergessenes Sakrament“, das dringend wieder belebt werden sollte. Leider reicht das Strafrecht in diesen Bereich nicht hinein.

Wie kann das überarbeitete Buch VI des CIC helfen, mit säkularem Straf- und Zivilrecht nicht in Konflikt zu geraten – etwa beim Thema Beichtgeheimnis? 

Das kirchliche Strafrecht schützt das Beichtgeheimnis absolut. Eine direkte Verletzung des Beichtgeheimnisses wird weiterhin mit der Tatstrafe der Exkommunikation bestraft. Im Bereich des Zivilrechts gibt es Bestrebungen, das Beichtgeheimnis zu lockern oder aber bestimmte Verpflichtungen festzulegen, wann der Beichtvater Informationen weitergeben muss. All das ist vom Kirchenrecht nicht vorgesehen und es bleibt beim absoluten Schutz des Beichtgeheimnisses.

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