In der Auseinandersetzung mit den Sophisten, den Weisheitslehrern der hellenischen Welt, die rhetorisch versiert auftraten, schildert der Philosoph Platon die Begegnung dieser mit Sokrates, der mit klugen Fragen auf eine präzise Unterscheidung aufmerksam macht. Ein bedeutungsvoller Ernst tritt auf. Geredet wird ja über so vieles, damals auf dem Athener Marktplatz und in der Welt von heute – und Meinungsumfragen haben im digitalen Zeitalter noch eine ganz andere Dimension, Wirklichkeit abzubilden oder zu konstruieren. Sokrates sagte damals, dass es in der Philosophie also nicht um Macht, Status und bloße Mehrheiten gehe, sondern um etwas Wesentliches: Thema der Philosophie sei eine ernsthafte Frage, die sich darauf beziehe, auf welche Weise man leben solle. Viele Katholiken, viele Christen aller Konfessionen, Andersgläubige und Suchende heute würden der Ernsthaftigkeit dieser Frage zustimmen. An der Antwort auf diese Frage scheiden sich die Geister. Wie soll man leben? Wie wollen wir – heute und künftig – leben? Wir können philosophisch darüber nachdenken. Aber niemand muss deswegen zu philosophieren beginnen. Für einen Katholiken entscheidend ist: Was sagt uns der Glaube der Kirche? Wie lautet die Antwort des Evangeliums darauf? Und wenn Ihr Kind, Ihre Enkel und Freunde oder Bekannten Sie fragen würden: Wie soll ich leben? – Welche Antwort würden Sie, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, darauf geben?

Umgeben sind wir von vielen Stimmen und Meinungen zur katholischen Moral- und Sexuallehre. Auf dem deutschen Synodalen Weg kursieren eine Reihe von kunterbunten Betrachtungen über das christliche Menschenbild, die zwar als katholisch etikettiert werden, aber im Gegensatz zur Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte stehen. Wir hören sogar von manchen Bischöfen, vielen Theologen, einzelnen Weltchristen und aus den Medien immer wieder Stimmen, dass die Lehre der Kirche weiterentwickelt, neu ausgerichtet oder sogar neu erfunden werden müsste, um wieder zeitgemäß und attraktiv zu sein. Einige wünschen sich einen neuen Katechismus, andere plädieren für die vorbehaltlose Akzeptanz all dessen, was sie mit dem unscharfen Begriff Lebenswirklichkeit beschreiben. Orientierung schenken kann eine an weltlichen Phänomenen der Zeit ausgerichtete Morallehre aber kaum noch, im Gegenteil. Wer die Bindung an das Evangelium Jesu Christi modifiziert, sich von der von ihm gestifteten Kirche abwendet sowie ihre Lehre relativiert, versinkt im Strudel der Beliebigkeit. Die Neuerfindung der Morallehre würde die Konfusion vermehren. Zudem gingen, das darf nicht vergessen sein, die Fragen der Menschen ins Leere: Wie soll man leben? Die katholische Antwort darauf lautet ja nicht: „Jeder so, wie er mag“ – entsprechend der Schlagerweisheit. Die Älteren von uns werden sich noch an den Song von Udo Jürgens erinnern, der für eine gelassene, lustorientierte Lebenspraxis steht. Ebenso wenig tauglich und mitnichten römisch-katholisch ist die konstruktivistische Fantasie, für die Pippi Langstrumpf steht: Ich mach’ mir die Welt so – Widdewidde – wie sie mir gefällt. Anders gesagt: Ich mach’ mir die katholische Morallehre so – Widdewidde – wie sie mir gefällt.

Die katholische Morallehre, so wie sie auch in der Konstitution „Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils verankert ist, wird nur selten noch verkündet, erklärt und erläutert. Für viele scheint die Lehre ein Stein des Anstoßes und ein bloßes Ärgernis zu sein. Doch wer näher hinsieht, erkennt leicht, dass die katholische Morallehre, wie sie in den Texten des Lehramtes dargelegt ist, Orientierung schenkt. Fundamental wichtig dafür ist, was in Abschnitt 14 von „Gaudium et spes“ ausgeführt wird: „Das leibliche Leben darf also der Mensch nicht geringachten; er muß im Gegenteil seinen Leib als von Gott geschaffen und zur Auferweckung am Jüngsten Tage bestimmt für gut und der Ehre würdig halten. Durch die Sünde aber verwundet, erfährt er die Widerstände seiner Leiblichkeit. Daher verlangt die Würde des Menschen, daß er Gott in seinem Leibe verherrliche und ihn nicht den bösen Neigungen seines Herzens dienen lasse.“ Diese Passage lässt die wahre Lebensfreundlichkeit der katholischen Morallehre und ihre wesentlichen Dimensionen erahnen. Zugleich erkennen wir, dass diese Lehre eine Unterscheidung der Geister bedeutet. Wer sich für den Weg der Kirche, damit für den Weg Jesu und des Evangeliums, entscheidet, passt sich nicht geschmeidig dem Geist der Zeit an, entdeckt aber, für sich und für andere, die Antwort auf eine Frage, die weit über die Philosophie hinausreicht und den ganzen Menschen erfasst: Auf welche Weise soll man leben? Diese Frage ist wichtig, ja – lebenswichtig.

In Abschnitt 16 von „Gaudium et spes“ lesen wir: „Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist.“ Darum beginnt heute mit diesem Beitrag eine Reihe von Betrachtungen zur katholischen Morallehre, die ein wenig Aufklärung und verlässliche Orientierung schenken soll in einer Zeit des Relativismus.

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln allein die Ansichten der jeweiligen Gastautoren wider, nicht die der Redaktion von CNA Deutsch.

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