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Der Rabbi und der Papst

Ein Regenbogen über dem Vatikan am 15. Oktober 2020

Ein Schmetterling tanzt verirrt im Raum. Kein Mensch da. Doch ganz und gar vergessen scheint Professor Zollis Grab nicht. Drei Blumentöpfe verstauben davor auf dem Steinregal – und einige Kiesel. Neben einer Kerze mit hebräischen Schriftzeichen steht eine zweite, größere mit dem eingeritzten Lamm Gottes. Lämpchen flackern, batteriebetrieben.

Die Ewigkeit als Fotoalbum – Emaillefotos zeigen die Gesichter der Mitbewohner des Professors. Von ihm und seiner Frau allerdings gibt es kein Bild – nur ein Wort, ein letztes. Unter den ausgebleichten Papierblumen steckt verborgen ein handgeschriebenes Zettelchen auf Hebräisch und Italienisch: "Avinu Malkenu – unser Vater, unser König! Herr Jesus, Sohn Abrahams, erbarme dich unser!"

Mattes Licht fällt durch eine Milchglaswand in dieses Mietshaus der Gebeine auf dem Campo Verano, der riesigen Totenstadt im Westen Roms. Ich zünde die Kerzen an. Denn Israel Eugenio Zolli ist ein verschollener Kronzeuge. Der Oberrabbiner Roms in der Zeit des Krieges kannte Pius XII. aus nächster Nähe. Wir müssen Daniel Goldhagen, der kürzlich entdeckt haben will, dass dieser Papst ein "Nazi-Kollaborateur" gewesen sei, dankbar sein – er stößt uns an, Israel Zollis vergessene Geschichte noch einmal nachzuerzählen.

Der Mann wurde 1881 im galizischen Brody geboren, studierte in Wien und Florenz, wurde Professor in Padua und 1918 Oberrabbiner von Triest, als die alte Hafenstadt der Habsburger gerade italienisch wurde. Nach der faschistischen Machtergreifung 1922 half er sowohl jenen Zionisten seiner Gemeinde, die eine lebenswerte Zukunft nur noch von einem künftigen eigenen Staat erwarteten, mit Pässen und Geld, um nach Palästina auszuwandern, als auch jenen, die mit den Faschisten kollaborierten, weil sie sich von ihnen keine Gefahr vorstellen konnten. Bis zu den Rassegesetzen von 1938 ließ sich Mussolinis Politik ja tatsächlich in nichts mit dem Vernichtungswillen der Nazis gegen die Juden vergleichen.

Zolli aber sprach gut genug Deutsch – neben Polnisch, Hebräisch und Italienisch –, um zu sehen, was vom Dritten Reich auf Europa zukam. Als er bei Kriegsbeginn als Oberrabbiner nach Rom berufen wurde und dort die Juden vor einer dramatischen Verschärfung der Lage warnte, wurde ihm schlicht nicht geglaubt. Hatte die älteste Diasporagemeinde der Judenheit nicht seit 2000 Jahren schon ganz andere Gefahren überstanden? Er beschwor die Ältesten vergeblich, die Archive mit den Mitgliederlisten zu zerstören. Selbst als die Deutschen im September 1943 Rom besetzten, konnte Zolli sie nicht von der Gefahr überzeugen. Verstecken? Um Himmels willen! Nur kein falscher Alarm! Bloß nicht die Nazis reizen, dann würde die Plage gewiss bald wieder vorübergehen!

Schon Tage später verlangte Obersturmbannführer Kappler von den Juden Roms 50 Kilo Gold oder 300 Geiseln. Zolli bot sich der SS selbst als Geisel an. Vergeblich. Fieberhaft bekamen die Juden 35 Kilo zusammen. Da machte sich der Oberrabbiner erstmals in den Vatikan auf. "Das Neue Testament darf das Alte nicht im Stich lassen!", beschwor er den Papst.

Pius XII. stimmte ihm sofort zu und bestellte ihn schon für den Nachmittag wieder ein. Bis dahin hatten die römischen Pfarreien die fehlenden 15 Kilo Gold für die Synagoge gesammelt. Kappler aber nahm das Gold – und die Juden. Auf Weisung Himmlers hatte er den Termin ihrer Deportation auf den 16. Oktober 1943 festsetzt. Fünf Tage vor der Verschleppung der Menschen ließ der SS-Kommandant noch rasch deren wertvollste Bücher, Palimpseste, Handschriften, Pergamente und Papyri aus Archiv und Bibliothek plündern und nach München bringen.

Um die Massenverhaftung am Sabbat strikt geheim zu halten, hatte er für die Aktion eigens Sondereinheiten aus dem Norden angefordert, die Rom noch nie gesehen hatten. Die Razzia begann im Morgengrauen, um 13 Uhr war sie abgeschlossen. Von den rund 8000 Juden, die sie suchte, hatte die SS 1022 einfangen können, unter ihnen 200 Kinder. "Als alles vorbei war, war auf den Straßen des Gettos keine Menschenseele mehr zu sehen, es herrschte Öde wie in Jeremias Jerusalem."

Gegen elf hatte sich das trübe Herbstwetter aufgeheitert, und die SS-Truppen wollten sich nach getaner Arbeit einmal die Stadt ansehen wie jeder Tourist. Das begehrteste Ziel war natürlich der Petersplatz, auf dem viele der Lastwagen lange hielten, damit die Häscher die Kolonnaden Berninis und die Kuppel von St. Peter bestaunen konnten – mit den schreienden Gefangenen hinter sich unter den Planen der Lkws, die sie erst am Montag darauf im Bahnhof Tiburtina in 18 versiegelte Bahnwaggons pferchten. Nur 15 Verschleppte kamen jemals zurück.

Rabbi Zolli musste alles machtlos mit ansehen – wie der Bischof von Rom, mit dem er von diesem Tag an in Freundschaft und engem Kontakt verbunden blieb. So sah und las er auch alle 40 Demarchen und offiziellen Noten, in denen der "schweigende Papst" so vergeblich wie er selbst gegen das Unheil der Nazis protestierte. Er sah die 4447 Juden einzeln, die auf Weisung des Papstes in über 150 Klöstern und kirchlichen Häusern – trotz Androhung schwerster Strafen durch die SS – versteckt und ernährt wurden: In Rom, im Vatikan oder in Castel Gandolfo, dem Sommersitz der Päpste, wo zeitweise bis zu 8000 Flüchtlinge Unterschlupf fanden. In seinem Tagebuch notierte er: "Kein Held der Geschichte hat ein tapfereres und stärker bekämpftes Heer angeführt als Pius XII. im Namen der christlichen Nächstenliebe. Bände könnten über seine vielfältige Hilfe geschrieben werden. Doch wer wird jemals erzählen, was er alles tat? Er steht wie ein Wächter vor dem heiligen Erbe des menschlichen Leids. Er hat in den Abgrund des Unheils geblickt, auf das sich die Menschheit zubewegt. Die Größe der Tragödie hat er ermessen und vorausgesagt: als klare Stimme der Gerechtigkeit und Verteidiger des wahren Friedens."

Im Juni 1944 endlich befreiten die Amerikaner Rom, im Januar 1945 die Russen Auschwitz. Da trat drei Wochen später, am 17. Februar 1945 in der Kirche S. Maria degli Angeli e dei Martiri, der hochgelehrte Rabbi Zolli nach 40 Jahren rabbinischen Studiums feierlich in die katholische Kirche über – "in unveränderter Liebe zum Volk Israel in all dem Leid, das über es gekommen ist". Als neuen Namen nahm er in der Taufe aus Dankbarkeit den Taufnamen des Papstes an. Eugenio.

Wenige Tage vorher hatten er, seine Frau und seine Tochter unabhängig voneinander Christusvisionen gehabt. Es war kein billiger Übertritt. Er musste sein ganzes altes Leben dafür hingeben. Einen größeren Skandal hatte es in der Judenheit vielleicht seit der Verstoßung des Baruch Spinoza aus der Synagoge von Amsterdam nicht mehr gegeben. Die römische Synagoge rief ein mehrtägiges Bußfasten aus, betrauerte ihren Oberrabbiner wie einen Verstorbenen und stieß ihn als Verräter aus der Gemeinde aus. Nicht nur für die Juden Roms war er von da an ein toter Mann.

Natürlich lebte er noch. Mit Hebräisch-Unterricht und zwei weiteren Büchern hielt er sich über Wasser, freilich in immer größerer Armut. Erst am Karfreitag, dem 4. März 1956, hörte sein Herz zu schlagen auf, nachdem er einer Krankenschwester eine Woche zuvor anvertraut hatte: "Am Todestag meines Herrn Jesus werde auch ich sterben." Zwei Jahre später starb Pius XII. Zu seinem Tod schrieb Golda Meir an den Vatikan: "Als für unser Volk im Nazi-Terror das furchtbare Martyrium anbrach, erhob der Papst seine Stimme zur Verurteilung der Verfolger und in Barmherzigkeit für die Opfer."

Noch einmal vier Jahre später schrieb sich dann der Schriftsteller Rolf Hochhuth im "Stellvertreter" das Trauma seiner eigenen Erziehung im Schatten Hitlers vom Leib. Und erst vor wenigen Wochen ist im Getto Roms vom Oberrabbiner, dem Bürgermeister und einem Kardinal eine Straße in "Largo 16. Ottobre 1943" umbenannt worden. Nur an den Oberrabbiner in der Zeit des Krieges erinnert hier immer noch kein Wort. Es kann ihn nicht mehr schmerzen. Denn es war ja eine Liebesgeschichte, für die er in Armut, verlassen und verstoßen starb. "Avinu Malkenu – unser Vater, unser König! Herr Jesus, Sohn Abrahams, erbarme dich unser! Signore Gesù, figlio di Abramo, abbi pietà di noi!"

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Erstfassung veröffentlicht in der Zeitung "Die Welt" am 18.10.2002. Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch. 

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