07 Dezember, 2020 / 3:57 PM
Zu den engsten Weggefährten und Vorbildern unseres emeritierten Papstes gehören sein Doktorvater Gottlieb Söhngen und der Kirchenvater Augustinus. Wer über Vernunft und Glaube nachsinnt und die Spuren im Werk von Joseph Ratzinger verfolgt, legt vielleicht auch die mancherorts gepflegte Distanzierung beiseite. Söhngen und Augustinus waren beide zugleich Philosophen und Theologen – und die Schriften Benedikts, von den Anfängen bis zum Pontifikatsbeginn, geben ein lebendiges, bleibendes Zeugnis für die unverzichtbare, stets fruchtbare Verbindung der beiden Fächer innerhalb und außerhalb der Universität. Auf den Wegen der Philosophie lernen wir neu das Staunen, und mancher Philosoph heute mag vielleicht sogar staunen, welche Nähe zu Gott durch resonanzvolle Lektüre und geistigen Austausch entstehen kann. Vielleicht entdeckt die eine oder der andere beim Lesen, dass Gott längst angeklopft hat?
Resonanzvoll gelesen hat Joseph Ratzinger zahlreiche Theologen und Philosophen, teilweise ähnlich, aber in manchem anders als sein Vorgänger auf dem Stuhl Petri. Was für Johannes Paul II. die Begegnung mit der Philosophie des Personalismus gewesen ist, hat sich für den späteren Papst Benedikt oft fast wie beiläufig ergeben. Er liest philosophische Texte, reflektiert, vielleicht sogar auch in einer meditativen Lektüre, zugleich mit der Gabe der souveränen Unterscheidung des Christlichen, die tief verwurzelt ist in dem im Grunde seines Herzens einfach gläubigen Katholiken Joseph Ratzinger. Er lebt und denkt aus dem Glauben mit der Kirche.
Zuerst ist den tüchtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Regensburger Institutes Papst Benedikt XVI. aufrichtig und herzlich zu danken, dass in dem nunmehr erschienenen dritten Band "Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen", der in zwei Teilbände gegliedert ist, zum Beginn des neuen Kirchenjahrs die Reihe der "Gesammelten Schriften" um ein weiteres wertvolles Werk erweitern. Der Regensburger Philosoph Rolf Schönberger hat ein instruktives Vorwort dazu verfasst, indem er nicht allein die Bindung Ratzingers an die Kirchenväter aufzeigt und auf "sich durchhaltende Denkformen" verweist, die dann auch später im Pontifikat wieder aufgenommen werden, sondern vor allem indem er hervorhebt, dass der Theologe Ratzinger sozusagen eine tiefe Beziehung pflegt: Von der anstößigen Wahrheit des Glaubens entfernte er sich als Gelehrter zu keiner Zeit.
Ratzinger huldigte nie dem "Imperativ des Opportunismus". Er spielte nicht mit Gedanken, reflektierte nicht analytisch-konstruktivistisch daher und disputierte nicht nach Belieben, wie dies heute in Philosophie und Theologie oft zu einer traurigen Realität geworden ist. Schönberger schreibt: "Was Ratzinger aufgreift, sind meist nicht nur Auffassungen oder Thesen, sondern Einstellungen und Grundentscheidungen. Wahrheit ist immer auch für das Menschsein förderlich, Unwahrheit immer auch für dieses bedrohlich und eben nie nur einfach irrig und falsch. Diese Schwundstufe der Rationalität verzichtet gerade zugunsten der Effizienz und der Produktion auf die Wahrheitsorientierung."
Berücksichtigt werden die titelgebende Bonner Antrittsvorlesung von 1960, ebenso kleinere Beiträge und Predigten, auch Rezensionen, die thematisch sinnvoll geordnet sind. Aufsätze zur Gottesfrage und zur Verkündigung werden neu zugänglich gemacht. Wir brauchen diese Besinnung auf Gott in Theologie und Kirche heute so sehr. Alle Welt scheint von Corona und den damit verbundenen Aufgaben wie Herausforderungen zu sprechen – auch nicht wenige Bischöfe und Theologen hierzulande tun dies –, wer aber greift mit der Ernsthaftigkeit, die geboten und nötig ist, die Frage nach Gott auf? So schreibt Joseph Ratzinger 1973 in "Der heutige Mensch vor der Gottesfrage": "Gott wird durch Menschen bekannt, die ihn kennen, sich ihm zur Verfügung halten, ihm Raum schaffen in der Welt. Der Weg zu Gott führt konkret immer wieder über den Menschen, der schon bei Gott steht. Er führt nicht durch das reine Nachdenken, sondern durch die Begegnung, die sich freilich im Nachdenken vertieft, selbstständiger und dadurch zugleich auch wieder neu mitteilt wird. … Gotteserkenntnis ist ein Weg, er heißt: Nachfolge. Sie erschließt sich nicht einem Unbeteiligten, neutral bleibenden Zuschauen, sondern öffnet sich in dem Maß, in dem man sich auf den Weg begibt. Darin liegt noch einmal die Grenze allen Redens: Verkündigung, die nicht auch selbst Ausdruck eines Weges, Ausdruck von Nachfolge ist, bleibt letztlich stumm."
Wer von uns ist nicht so vieler Worte müde, die beschwörender Art sein mögen, uns aber nicht in Bewegung versetzen und nichts wissen von der Dynamik des Glaubens. Der Auftrag des Herrn ist Nachfolge und Sendung. Dazu sind Kleriker wie Weltchristen berufen. Wir geben nicht nur Antworten durch Worte oder lange Ausführungen, sondern vor allem durch Vorbild und Beispiel, durch das Zeugnis unseres eigenen Lebens. Diese Texte zeigen, wie gegenwärtig, wie wichtig die Theologie Joseph Ratzingers ist, auch wenn sie an Theologischen Fakultäten in Deutschland nur in einem sehr überschaubaren Maße diskutiert wird. Auch darum ist es wichtig, dass das Institut Papst Benedikt XVI. öffentlich präsent ist, das Werk von Benedikt XVI. erschließt, bekanntmacht und in ausgezeichneten Bänden wie diesen neu publiziert.
Ein Beitrag, in dem Joseph Ratzinger Überlegungen zur "Unverzichtbarkeit des Christentums in der Moderne" vorlegt, könnte uns heute nachdenklich machen: "Wie kann Christentum, ohne politisch instrumentalisiert zu werden und ohne umgekehrt das Politische für sich zu vereinnahmen, zu einer positiven Kraft für dieses werden?" Oder können wir uns heute die Welt schon das Christentum vorstellen? Manche scheinen sich mit verweltlichten Formen einer allgemeinen Kulturchristlichkeit zu begnügen. Das aber ist einfach nicht römisch-katholisch. Joseph Ratzinger empfiehlt eine "größere Weite der Vernunft", so wie auch später im Pontifikat: "Der christliche Glaube erweckt das Gewissen und begründet das Ethos. Er gibt der praktischen Vernunft Inhalt und Weg. Die eigentliche Gefahr unserer Zeit, der Kern unserer Kulturkrise, ist die Destabilisierung des Ethos, die darauf beruht, dass wir die Vernunft des Moralischen nicht mehr begreifen können und Vernunft auf das Berechenbare reduziert haben." Ratzinger denkt an eine Hinwendung, ja Bekehrung zu einer "moralischen Vernunft": "Für das Staatswesen heißt das, dass die Gesellschaft nie fertig ist, sondern immer wieder vom Gewissen her neu gebaut werden muss und nur von dorther gesichert werden kann." Diese Überlegungen verdienten es, gerade heute diskutiert zu werden – nicht nur, weil so viele sich an unerträgliche "Lebenswirklichkeiten" wie Abtreibung gewöhnt zu haben scheinen oder tatsächlich den assistierten Suizid als Option betrachten.
Die beiden Teilbände sind sehr empfehlenswert, verdienen eine sorgfältige Lektüre und eine breite Rezeption. Die Theologie Joseph Ratzingers – Benedikts XVI. kann und möchte uns Orientierung schenken. Sein Denken führt hinaus in die Weite von Vernunft und Glaube.
Joseph Ratzinger: Gesammelte Schriften. Band 3: Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen. Erster und zweiter Teilband: Philosophische Vernunft – Kultur – Europa – Gesellschaft. Verlag Herder: Freiburg im Breisgau 2020.
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